Antizionistische jüdische Schrift aus dem Jahre 1922
„Freijüdischen Gemeinden“
von Hugo Herz (Hamburg)
„Zu den geistigen Strömungen, die vor dem Kriege den Anspruch erhoben hatten, Träger der Gesittung und des Kulturfortschritts zu sein, und die gerade durch den Krieg einen ungeheuren Zusammenbruch dieser Ansprüche erfahren mußten, gehört auch das Judentum.
Die Juden in allen kriegsführenden Ländern haben sich, nur mit ganz wenigen Ausnahmen nicht dem Drucke der Macht weichend, den Befehlen ihrer chauvinistischen und imperialistischen Regierungen gebeugt und ihr Leben und ihre Gesundheit dem „Vaterlande“ geopfert. Sie haben sich bereitwillig und zustimmend, teilweise mit Begeisterung ihren Regierungen zur Verfügung gestellt, Hass gegen die „Feinde“ gepredigt. Bei passender Gelegenheit haben sie sich ihrer militärischen Tüchtigkeit gerühmt und hervorgehoben, dass auch Juden zu militärischen Ehrenstellen befördert und mit Ehrenzeichen ausgezeichnet worden seien. Rabbiner haben sich dazu hergegeben, die ins Feld rückenden Soldaten für den Krieg vorzubereiten und ebenso wie die Geistlichen anderer Religionen den Segen Gottes für den Sieg des „Vaterlandes“ zu erflehen.
Es ist eine Tragödie ohnegleichen, die sich in diesen 4 ¼ Jahren grausigster Barbarei abgespielt hat, das gerade das Judentum, das niemals laut genug seine internationale Kulturgemeinschaft betonen konnte, sondern diese auch so oft in der Praxis bewiesen hatte, einen so kläglichen Zusammenbruch erleben musste. Ist es doch die Kulturgemeinschaft, deren Anhänger sich seit 2000 Jahren niemals mit der Waffe in der Hand gegenübergestanden hatten und die während dieser langen Epoche wegen ihres Ideals des messianischen und pazifistischen Gedankens gepeinigt, verfolgt und gequält worden waren, wie keine andere Kulturgemeinschaft, und deren Verhöhnung und Beschimpfung auch nach dem Kriege kein Ende genommen hat.
Auch derjenige Teil des Judentums, die zionistische Richtung, der die religiöse Tradition des Judentums aufgegeben hat und auf Grund seiner nationalen Theorie der Kriegspsychose am wenigsten hätte erliegen müssen, ist mit fliegenden Fahnen in das Lager seiner Gegner übergegangen. Vielleicht aber bietet seine Theorie der rein nationalen Zusammengehörigkeit des Judentums und seine dadurch bedingte seelische Einstellung zum Kriege, wie die der Nationalisten anderer Länder, eine Erklärung für seine Stellungnahme, die ihn gerade durch diese Tatsache als eine so starke Hemmung für die Zukunft des Judentums erscheinen lässt.
Aber während die religiös gebundene Richtung noch nicht einmal zum Bewusstsein seiner Katastrophe gelangt ist und infolgedessen auch nicht die so scharfe Sonde der Kritik angelegt und den Versuch einer Renaissance unternommen hat, hat es den Anschein, als ob der Zionismus durch die Balfoursche Deklaration San Remo das Ziel seiner Wünsche und seiner Hoffnungen erreichte.
Das zionistische Ideal gipfelt in der Forderung, in Palästina eine öffentlich-rechtliche Heimstätte für das gesamte jüdische Volk und nicht für einen Teil des jüdischen Volkes zu begründen. Aus dieser Forderunf leitet doch der Zionismus ex posteriorie die Theorie ab, daß das Judentum keine Religions-, keine Volksgemeinschaft darstelle. Wäre nicht schon wiederholt von berufener wissenschaftlicher Seite die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes nachgewiesen worden, so müsste man sich mit dieser Tatsache abfinden, ohne Rücksicht darauf, welche Rückwirkung die Anerkennung dieser Behauptung auf die politischen Rechte der Juden in ihren Heimatländern nach sich ziehen würde. Aber die Möglichkeit der Verminderung der staatsbürgerlichen Rechte muss die Juden stets von neuem zwingen, auf die Unrichtigkeit der zionistischen Theorie hinzuweisen.
Aber abgesehen von diesem Gesichtspunkte tritt bereits jetzt zutage, dass auch im günstigsten Falle in Palästina nur eine jüdische Majorität neben einer starken arabischen und einer kleineren rein christlichen Minorität wird leben können. Diese Tatsache haben weitsichtige Politiker bereits vor der Möglichkeit der Errichtung der Republik Palästina vorausgesehen und den Zionisten vorgehalten, dass, abgesehen von der Kleinheit des Landes und der dadurch bedingten Unmöglichkeit einer Existenz für eine Gemeinschaft von 12 Millionen Menschen ihr Ziel aus diesem Grunde scheitern müsse. Das Vorhandensein dieser beiden Minoritäten wird die Regierung der Republik Palästina hindern, allen Einwohnern des Landes den Stempel jüdischen Volkslebens aufzuprägen und es dadurch zu einem jüdischen Lande zu gestalten. Sie wird einen Staat schaffen müssen, der der arabischen wie der christlichen Minorität in politischer, sprachlicher und kultureller Beziehung völlige Gleichberechtigung gewährt, um so mehr, als in der Hauptstadt des Landes die heiligsten Kultstätten der christlichen Religion wie auch sehr bedeutende Kultstätten des Islam sich befinden. Die Regierung wird nicht die Macht haben, alle Beamtenstellen mit Juden zu besetzen, sondern, um nicht fortdauernden Konflikten ausgesetzt zu sein, diese paritätisch zu verteilen gezwungen sein. Dazu kommt noch der gewichtige Umstand, dass der Mandatarstaat für Palästina, das mächtige britische Reich, die neue Republik nur als einen Posten in der Berechnung seiner auswärtigen Politik eingesetzt hat, und infolgedessen die Regierung gezwungen sein würde, die Interessen dieses Weltreiches wahrzunehmen, ganz abgesehen davon, dass das britische Reich im Hinblick auf seine überaus zahlreichen mohammedanischen Einwohner die Araber in Palästina als seine ganz besonderen Schützlinge betrachten wird.
Kann aber ein solcher Staat, der keine selbstständige auswärtige Politik treiben, der nicht einmal auf seinem eigenem Territorium ausschließlich „Juden“ aufnehmen kann, der es nicht vermag ein eigenes Volksleben, eine eigene Kultur zu entwickeln, den Anspruch erheben, auf Grundlage der nationalen Zusammengehörigkeit eine Gemeinschaft von 12 Millionen zusammenzuketten, die außerhalb seiner Grenzen wohnen, während innerhalb seiner Grenzen nur ein Bruchteil dieser Zahl leben kann? Hat eine solche Theorie das Recht, das jahrhundertealte Band der ethischen und religiösen Basis zu zerreißen, wenn sie nicht in der Lage ist, die neue Basis, die sie als Ersatz anbietet, so fest zu fundieren, dass darauf ein solider auf festen Fundamenten und unter sicherem Dach errichteter Bau ruhen kann?
Die Frage stellen, heißt sie verneinen.
Der einzige Erfolg, den der Zionismus erreichen wird, und der auch gewiss nicht unterschätzt werden soll, wird eine stärkere Kolonisierung Palästinas mit Juden anstatt mit Arabern und Christen sein, aber zu den bisherigen deutschen, englischen und anderen Bindestrich-Juden werden sich palästinensische Juden zugesellen. Eine Lösung der Judenfrage und einer Aufhebung des Antisemitismus, welche gerade der Zionismus anstrebte, wird auch durch die Errichtung der Republik Palästina nicht erreicht werden. Das Judentum hat wirklich andere Aufgaben zu erfüllen, als sein Ideal auf die Errichtung eines Staates zu konzentrieren, der sich in nichts von einem anderen modernen Staate unterscheiden wird.
Durch das Fiasko des Zionismus erwächst nun dem auf ethischer und religiöser Basis bisher noch zusammengeschlossenem Teil des Judentums, die wichtige Aufgabe und bedeutungsvolle Aufgabe, seine Grundlagen einer tiefgehenden Revision und gründlichen Reform zu unterziehen. Ist doch das Entstehen und Wachsen der zionistischen Bewegung zum großen Teil dem Umstand zuzuschreiben, dass in Kreisen der Intelligenz des Judentums, die von der Universitätsbildung beeinflusst sind, der Abfall von der religiösen Grundlage sich in immer steigendem Maße vollzogen hat. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich die Ursachen ausführlicher begründen. Es kann nur darauf hingewiesen werden, das die seit ungefähr 200 Jahren aufgekommene Bibelkritik und die vergleichende Religionswissenschaft, so wie die besonders im 19. Jahrhundert erfolgten umwälzenden Arbeiten, auf dem Gebiete des Geistes und Naturwissenschaften es ernster gerichteten, tiefer denkenden Männern und Frauen unmöglich gemacht haben, das alte Glaubenssystem mit ihrer inneren Überzeugung zu vereinbaren.
Die Zionisten haben nun, um den Zusammenhang mit der alten Gemeinschaft theoretisch aufrecht erhalten zu können, den nationalen Gedanken der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Sie haben, besonders in Osteuropa, die durch ihre materialistische Geschichtsauffassung von der religiösen Basis losgelöst worden waren, die meißten Anhänger gefunden, um so leichter, da dieser Teil des Judentums unter den andauernden Verfolgungen besonders zu leiden hatte. Sehr viele Juden, die diese Theorie für das Judentum als nicht zutreffend erkannten, haben tiefe, innere seelische Konflikte durchkämpfen müssen, bis sie entweder durch einen Kompromiss mit ihrem gewissen, wenn auch nur oberflächliche Anhänger des alten Kultus blieben oder aber auch durch einen Austritt aus dem Judentum sich zwar innerlich von dem alten System befreiten, sich aber dem Vorwurf der Feigheit und der Fahnenflucht aussetzten, dem Judentum nicht mehr angehören zu wollen, um vor antisemitischen Angriffen und Beleidigungen geschützt zu sein oder eine bessere Karriere zu machen und andere materielle Vorteile zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit dieser immer häufiger werdenden Konflikte wächst in umso größreren Maße, je mehr die Erkenntnis des Zusammenbruchs der nationalen Theorie, die für das Judentum nur eine Fiktion bedeutet, sich verbreiten wird. Was kann nun in dieser tragischen Situation so vieler, um ihre innere Überzeugung ringend und leidender Menschen für die Lösung dieser Konflikte getan werden? Ein Anschluss an die zionistische Bewegung wie ein Verbleiben im alten Kulturverband ist ausgeschlossen. Nur ein Ausweg bleibt übrig, besonders in den Ländern, in denen ein Austritt aus dem Judentum nicht einmal staatsrechtlich möglich ist, wie doch in Deutschland, wo ihn aber die öffentliche Meinung sehr selten sanktioniert. Da die große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Forderung nach einer gründlichsten Reform des alten Systems von den berufenen Vertretern, den Rabbinern, auch nicht von den liberalen, geschweige denn von den gesetzestreuen, nicht entsprochen werden wird, so muss von den Juden selbst – und deren Zahl ist keine allzugeringe – welche sich aus oben angeführten Gründen einer solchen Reform nicht verschließen werde, der Anfang gemacht werden, die Aufgaben und Ziele dieser Gemeinden zu skizzieren, deren Wirkungskreis, wenn sie einmal ins Leben getreten sind, sich durch ihr Grundprinzip vergrößern und erweitern wird.
Die Hauptaufgabe der Gemeinden soll dahin gerichtet sein, den Kultus in der Weise zu reformieren, dass der tiefe soziale, ethische und sexualhygienische Gehalt des Judentums von der Überwucherung des Formelkrames und des Lippengottesdienstes befreit wird.
…“
Aus: Es werde Licht, Blätter für Humanität, Freiheit und Fortschritt, Heft 10 51. Jahrgang 1922