Brief von L. Wagenaar an H. Spehl 18. März 1968
Jerusalem, den 18. März 1968
Sehr geehrter Herr Spehl,
Im großen und ganzen kann ich Ihrer Hypothese und den Folgerungen daraus nur beipflichten, muß mir allerdings vorbehalten, daß ich einiges anders formuliert hätte.
Meines Erachtens trifft die Allgemeingültigkeit Ihrer Formulierung nicht zu, wonach j e d e r Gesellschaft durch ideologische Infiltration ein Verhaltensschema aufgedrängt werden muß. (Ich kann mir vorstellen, daß Sie es auch nicht so gemeint haben.) Auch die Zwangsläufigkeit „muß“ kann ich nicht unterschreiben; ebensowenig, daß dieser Trick mit der Dummheit der Massen der Selbsterhaltung der Gesellschaft dienen soll. Da soll wohl eher der Selbsterhaltung der Gesellschaftsordnung gedient werden!
Wo es eine offene und freie Gesellschaft gibt, das was wir durchweg als eine Demokratie westlicher Prägung bezeichnen, ist eine Indoktrination nicht nur unnötig, sie ist sogar undenkbar. Sie würde dort zum Untergang der Gesellschaftsordnung und letzten Endes auch der Gesellschaft führen. Daneben gibt es die Regimes der autoritären Staatsführung, wo die Diktatur ohne ideologischen Unterbau geführt wird (de Gaulle, Ian Smith, Persien, Pakistan, Saudi-Arabien, Marokko, Kuwait, Äthiopien, vielleicht auch Mexiko). Somit ist die Indoktrinierung weder allgemein noch zwangsläufig.
Natürlich weiß ich, auf welcherart Regimes Sie mit Ihrer Hypothese zielen. Es sind die ideologisch verankerten Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, manchmal milde, moralische Autokratien, andermal verbrecherische Despotien, und alle Gradationen dazwischen. Was sie gemein hatten oder haben ist ihre nationalistische Ideologie (auch wenn sie, wie der Kommunismus oder Sozialismus, mit internationalem Blendwerk getarnt sind). Da nenne ich Pilsudski, Perón, Salazar, Franco, Horthy, Dollfuß, Schuschnigg, Hitler, Mussolini, Tito, Metaxas, Patakos, Nasser, Ben Bella, Boumédienne, Stalin, Mao, Castro, Ben Gurion, Duvalier und noch eine ganze Reihe Ibero-Amerikaner. Ein anderes gemeinsames Merkmal ist die Bestrebung, zumindest nominell als Demokratie zu gelten, obzwar ihre Volksvertretungen rubber stamp parliaments sind. Sie sind, nebenbei gesagt, nicht weit von der Wahrheit, wenn Sie solchen Regimen demokratischen Gehalt zusprechen; kann man doch schlecht behaupten, daß Hitler nicht demokratisch bestellt und von einer überwältigenden Mehrheit seines Volkes auf Schritt und Tritt bestätigt war.
Nur eine wahre Demokratie kann sich Fehler und Rückfälle erlauben. Ein Despot muß sich täglich erneut bewähren, entweder mit tatsächlichen Erfolgen oder mit dem Versprechen ebensolcher. Eventuell muß die Wahrheit an die Dichtung angepaßt werden. Eine ganz gewisse Voreinstellung ist dann nötig, einen solchen intellektuellen Saltomortale zu verdauen; hier setzt die Propaganda ein (Sie nennen das ideologische Infiltration) und ein Denkschema wird herangezüchtet. Von hier bis zum Verhaltensschema ist nur ein Schritt. Somit sind Indoktrination, Propaganda, Reizversprechen notwendige Attribute der Regierungsform, die man letzthin als „gesteuerte Demokratie“ (ein sprachlicher Witz) bezeichnet.
Der gemeinsame Nenner der von Ihrer These erfaßten Regimes ist also nicht so sehr, daß es sich um autokratische Herrschaftsformen handelt, als eher, daß die Macht ideologisiert und idealisiert wird. Die Gefahr dabei ist, daß es sich durchweg um nationalistische Ideale handelt und Nationalismus ist doch nur hypertrophierter Egoismus. Natürlich ist die Ichsucht Urtrieb aller Tiere, in der menschlichen Gesellschaft aber ist sie grundsätzlich unmöglich, daher verpönt, wo sie in Erscheinung tritt, in einem Wort: asozial. Genau so ist ein nationalistisches Regime ein Asozial inmitten der Gemeinschaft der Völker. Was die Führer dieser Regimes weiter nicht stört, ihren Völkern das Rauschgift des Massenegoismus mit allen Medien moderner nationaler Bewußtseinsbildung einzuträufeln.
Sie glauben diesen Prozeß des unbewußten Zwanges auch im Falle Israel zu sehen. Sie sehen richtig, bis auf eine Prämisse, auf die ich sogleich zurückkomme. Denn genau wie der Panarabismus, der Nasserismus, der Titoismus, der Nationalsozialismus, der Faschismus, der Austro-Faschismus, der Peronismus, der Nationalsyndikalismus, ist auch der Zionismus nur eine andere Vokabel für Nationalismus. Der zionistische Staat ist eine ideologisch gesteuerte Demokratie, worin das Radiowesen Staatsmonopol ist (das Fernsehen ist in diesem Status vorgesehen), die Zeitungen den zionistischen Parteien gehören (täglicher Befehlsempfang und Sprachregelungskurs beim staatseigenen Nachrichtendienst), die Vorführung von vom Informationsministerium angefertigten Newsreels vor sämtlichen Kinoveranstaltungen Pflicht ist, das Schulwesen auf unvorstellbare Art ausgenutzt wird zur Indoktrinierung der Jugend, daneben aber auch ideologische Zwangskurse im Rahmen der Armee, der Polizei, der Beamten- und Angestelltenschaft, sogar der Belegschaften von staatseigenen Großbetrieben (Verkehr, Rüstung, Schwerindustrie, Feinmechanik, Petrochemie, Mineralabbau und -chemie) gang und gäbe sind. Der Zionismus ist hier eine Hysterie. Und das ist im Grunde auch ganz logisch. Damit komme ich jetzt auf meinen Vorbehalt.
Sie schreiben: der Zionismus sei ursprünglich eine unschuldige Ideologie, die der Selbsterhaltung eines Volkes und der Rettung bedrängter Menschen dienen sollte. Diese Behauptung ist falsch an Haupt und Gliedern. Im Hauptsatz: lese statt „unschuldige“ vielmehr „machiavellistische“ ; im Nebensatz: lese statt „Selbsterhaltung“ vielmehr „Selbstverneinung“ oder auch „Selbstauflösung“. Denn die Worte des Begründers des Zionismus werden Sie doch wohl kaum als „ideologische Ausschmückungen, … Reizversprechen … (die) mit dem eigentlichen Ziel des Zionismus, nämlich Schaffung einer nationalen Heimstätte für verfolgte Juden, genau genommen nichts zu tun haben“, anmerken können. Die Tagebuchnotizen Herzls, die Sie in Ihrem Brief anführen (ich bestaune Ihre Belesenheit), sind wohl kaum unschuldige Ideologie“, es sei denn, man setzt sich ganz im Sinne des anti-völkergesellschaftlichen Großegoismus — über die Existenz der „Türken“ im Gebiete vom Ägyptischen Bach bis zum Euphrat einfach hinweg, legt deren uralte Völkerrechte ad acta und handelt in der Unschuld des Lunatikers. Sie wissen längst von meinen sämtlichen Briefen, daß ich den Zionismus als unjüdisch betrachte, als eine verbrecherische Bewegung zur Erlangung verbrecherischer Ziele ansehe, in der Ideologie und in der Praxis dem Faschismus italienischer und deutscher Prägung verwandt; und daß ich der Kreatur dieser idealisierten Amoral, dem Judenstaat, der jeglichen jüdischen Inhalt entbehrt, aus völkerrechtlichen Er wägungen die Existenzberechtigung abstreite.
Neben und unabhängig von solchen allgemein-menschlichen Maßstäben gibt es aber für den Juden auch eine introspektive Beurteilung des Zionismus und des Staates Israel. Die Resultate dieser Beurteilung sind dem Außenseiter wahrscheinlich weniger interessant (es sei denn, christlich-theologische Überlegungen sind im Spiel, wie ich bereits in einem früheren Brief angedeutet habe). Wir Juden dürfen und müssen aber fragen: ist der Zionismus für das historische Judentum positiv oder negativ zu bewerten? Und: welche Rolle spielt der Staat Israel in der Geschichte des Judentums und des jüdischen Volkes? Diese Fragestellung hängt natürlich eng zusammen mit der Bewertung, was Judentum und jüdisches Volk denn eigentlich sind. Auch darüber habe ich in früheren Briefen bereits geschrieben und ich weiß Sie ein zu aufmerksamer Leser, als daß ich mich wiederholen müßte. Ich will nur nochmals betonen, daß die Meinung, das jüdische Volk brauche für seinen Fortbestand einen eigenen, einen eigenstaatlichen Lebensraum, auf der Vorstellung beruht, das jüdische Volk sei ein Volk wie alle Völker und insoweit es das nicht ist, sei es unumgänglich, eben das zu werden. Diese Vorstellung ist natürlich der Eckpfeiler jeglichen zionistischen Ideenguts seit „Judenstaat“ und „Altneuland“. Daß diese Vorstellung erst behauptet werden mußte, zeigt eo ipso an, daß sie falsch ist. Grundstock des nationalen Selbstbewußtseins des Juden ist seit urältesten Zeiten das Wissen um die Besonderheit des jüdischen Volkes gewesen, die Überzeugung, daß nur durch seinen Gottesdienst das jüdische Volk eine Nation ist. Das stammt noch aus den Zeiten, da die Völker nationale Götter hatten (heutzutage haben sie das nur noch in Kriegszeiten, etwa einen deutschen Gott). Seitdem hat ein ansehnlicher Teil der Menschheit den alten Judengott als ewigen und unabänderlichen Eingott angenommen (obzwar man sich schämt, diese Tatsache einzugestehen). Im Zuge dieser Annahme sind aber alle diese Völker nicht eine Nation geworden, sondern es haben sich andere, modernere Merkmale herausgebildet, wonach sich die Menschheit in Völkerschaften eingeteilt wissen will. Ist das nun ein Grund, daß auch das einzige Volk, das seinen Gott nicht abgeschafft und gewechselt hat, sich andere, modernere, gewiß nicht jüdische Merkmale für sein Volksein zulegt? Als Jude muß ich darauf mit einem klaren Nein antworten. Und ich kann das mit ruhigem Gewissen tun, weil ich weiß, daß uns das Buch der Bücher unser Volksein ausdrücklich für eine Zeit bezeugt, da wir noch nicht in Kanaan ansässig waren (z. B. Deut. XXVII, 9), und wir ohne „Lebensraum“ ein Volk geblieben sind, wo andere Völker mit und in ihrem Lebensraum längst untergegangen sind. Und nun mögen überkluge Bibelkritiker kommen und versuchen, ihre Nachweltvorstellungen dort hinein zu interpretieren, wo unsere jüdische Tradition ihnen nicht kommod ist. Aber worauf es hier ankommt ist nicht Etymologie und Quellenanalyse, sondern nationales Empfinden. Wer dieses Empfinden ausloten will, muß sich nolens volens an die Quellen halten, aus denen heraus das jüdische Volk sich durch alle Jahrhunderte national erhalten hat:. Bibeltext (so wie dieser ist, nicht so wie man ihn haben möchte), Talmud (oj-weh! ist das ein brutales Ansinnen!), die unterm Namen Midrasch bekannte homiletische Exegese, die ausgedehnte rabbinische Responsenliteratur, die jüdische Religionsphilosophie, die jüdische Mystik und vielleicht auch ein bißchen Wissen aus dem Bereich des peripher-jüdischen Chassidismus; nicht zu vergessen, for all practical purposes: die verschiedenen Codices mit Kommentaren und Superkommentaren. Ich will damit sagen: was auch Wissenschaftler (ich glaube, ihr Nachwuchs bezeichnet sie neuerdings als Fachidioten; wollen mal auf deren Nachwuchs warten!) als hochgelehrte Diagnose abgeben, für den Patienten kommt es auf s e i n Befinden an. Das jüdische Volk ist nicht auf vergleichende Völkerpsychologie hin erzogen, sondern auf das Bewußtsein, von „seinem“ Gotte dazu auserwählt zu sein, durch Gottes-Dienst der Menschheit als Beispiel zu dienen. Die Diaspora, solange sie gottgewollt ist, ist ein Element dieses Schemas. Man darf sich darum nicht wundern, wenn der babylonische Talmud es den Juden verbietet, en masse und bewaffnet ins alte Heimatland zurückzukehren. Der Nichtjude, der mit diesen Lebensquellen nicht tausendfach verwoben ist, kann die jüdische Seele nicht erfassen, steht auch ohne Verständnis da für die Ergebenheit, womit der Jude, individuell und national, das gräßliche Los seines Auserwähltseins hinnimmt. Er ist, soweit Angehöriger von am Christentum gebildeten Völkern, prädisponiert, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volke a priori als Fluch anzusehen; schaut er auf das jüdische Schicksal, so kann er darin nur bestärkt werden. Nachdem jedes Volk gerade sich für auserwählt hilt, darf man vom Nichtjuden nicht erwarten, daß er sonderlichen Wert legt auf den Fortbestand des jüdischen Volkes als solches; ist er wohlwollend, so wird er den Juden bis in die Assimilation hinein bemitleiden und so erlösen, ist er vom Glauben beseelt, so wird er den Juden, ad maiorem Dei gloriam, entjuden wollen und so erlösen. Aber ich bin Jude, schon Tausende von Jahren, und zwar nicht auf Grund wissenschaftlicher Diagnosen, sondern weil die alten Quellen noch heute für mich sprudeln, unverphilologisiert, unverwissenschaftlicht, unveranalysiert, unverschnitten, unverändert; und, was die Hauptsache für den bewußten Juden ist: die Codices sind verbindlich. Denn wenn ihm die seelischen Quellen des jüdischen Volkes nur noch Literatur einer interessanten Vergangenheit sind, stumme Zeugen einer exotischen Welt (und exotisch ist der Orient nur dem Abendländer), Relikte einer überholten Kultur, dann braucht er sich doch mit dem Judentum und dem jüdischen Volk nicht mehr zu identifizieren als der Student der Induskultur, der Sanskritliteratur, der Wedas und Ragas mit den Indern. Im Gegenteil: wer das traditionelle, talmudische, rabbinische Judentum als überholt ansieht, als passé betrachtet, wer seine Vorschriften als Menschenwerk, nicht aber als geoffenbart und darum ewig-verbindlich wertet, der steht dem Christentum und der christlichen Einschätzung des Judentums viel näher als ihm bewußt ist. Um s e i n Judenleid ist es wirklich schade, wenn er ihm durch die Taufe aus dem Wege gehen könnte; ist er doch nur noch Jude nach den Maßstäben der Nürnberger Gesetze, nach der Theorie des Blutes.
Der Zionismus hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Juden beizubringen, daß sie ein Volk wie alle anderen Völker sind, nach den modernen Merkmalen, wonach sich die Menschheit in Völkerschaften eingeteilt wissen will. Das mag für die Umwelt ganz akzeptabel sein, aber der Zionismus entjudet damit das Judentum. Der Säkularismus des vorigen Jahrhunderts stand Pate beim Nationalbewußtsein deutscher Prägung. In jener Zeit nationaler Renaissancen unternahm es eine Gruppe säkularistisch eingestellter Juden, die jüdische Geschichte auf andere Weichen umzustellen: aus dem Thora-Volk ein Territorialvolk zu machen. Der Widerstand der religiösen Führerschaft der jüdischen Massen kam sofort und war vehement, die rabbinischen und chassidischen Autoritäten haben bis in den physischen Untergang dieser Massen den Zionismus abgelehnt und als unjüdisch verurteilt. Zwar sind dadurch Millionen als Juden gemordet, aber das Judentum als solches ist nicht entjudet noch untergegangen: wo es in der Welt gläubige, gesetzestreue Juden gibt, ist das Bewußtsein wach, daß der Zionismus vielleicht Juden körperlich am Leben halten kann, sie aber geistig dem Judentum entfremdet. Der Zionismus, diese Bodentheorie, hat hier einen Judenstaat kreiert, worin „die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“. Ein durchaus säkularistisches Staatsgebilde also, woran nichts idiotypisch-jüdisch ist; als ob das Judentum mit preußischem Militarismus verteidigt und erhalten werden könnte! Im Grunde hatte Herzl das bereits eingesehen: wenn dem verfolgten Judentum nichts als „Lebensraum“ fehlt, dann kannUganda genauso dienlich sein. Der Griff nach Palästina mit einer Blut- und Bodentheorie aber ist eine kapitale Lüge. Hier wurden religiöse Gefühle mißbraucht, um Machtgelüste zu heiligen. Das ist die Jesuitenmoral „Cum finis est licitus, etiam media sunt licita“, was zwangsläufig hinführt zu „Cui licitus est finis, etiam licent media“.
Die „écrasez l’infâme“-Ideologie des Staates Israel hat schon Früchte abgeworfen. Der junge Israeli distanziert sich immer mehr von seinem Judesein; er nennt sich Israeli, manchmal auch Kanaani, aber mit dem Judentum seiner Großeltern will er nichts zu tun haben, will er nicht identifiziert sein. Der israelische Student im Ausland meidet die jüdische Gemeinschaft seiner Universitätsstadt, die er um ihrer diasporatischen Psychologie willen verachtet, mit der er keine gemeinsame Sprache hat, die noch in traditionellen Vorstellungen lebt, die noch zur Synagoge geht und mehr oder weniger die Gesetzesvorschriften einhält, zumindest aber achtet, Närrischkeiten wie den Sabbat und die Speisevorschriften, oder die über Lappalien wie eine Mischehe noch die Augenbrauen hebt. Diese Jugend kennt die Quellen nicht mehr, auch nicht als Literatur, denn sie hat keine seelische Bindung mehr mit dem Judentum. Dem Israeli aber genügt zu seiner nationalen Sicherung die heilige Zahal. Sogar der Zionismus ist dem Sabra [Die in Israel geborenen Juden werden Sabras genannt nach einer Kakteenfrucht („außen stachlig – innen süß“)]. verhaßt; ist das doch eine Diaspora-Ideologie! Der junge Israeli verachtet den Exiljuden, diese Melkkuh, der sich Zionist nennt, ohne es zu sein, der Geld gibt, um sich Status zu verschaffen, der sich im Bestfalle ein Entreebillet in die Zionisten-Walhalla zu kaufen glaubt, wo er hofft, sich einen Logenplatz reservieren zu können. Dem Judentum als Thora-Volk ist diese Jugend verloren. Was schert das den Christen? — Aber in Ihrem von mir angeführten Nebensatz nannten Sie den Zionismus eine Ideologie zur „Selbsterhaltung“ des jüdischen Volkes; was ich versucht habe als „Selbstverneinung“ oder „Selbstauflösung“ richtigzustellen.
Die altere Generation, die Altzionisten, die aus Europa eingewanderten Israeli, wollen das zwar nicht wahrhaben, aber sie sehen es wohl ein. Sie wissen, daß der Zionismus als Ideologie eine Pleite ist, auch wenn die Firma vorm Bankrott einen imposanten Gesellschaftssitz aufgezogen hat. Gerade in diesen Tagen, wo auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Stimmen laut werden, die Zionismus und Judentum, bzw. Antizionismus und Antisemitismus scharf auseinander halten wollen, versucht die Führerschaft Israels wieder, dem Alleinvertretungsanspruch für die Weltjudenheit Geltung zu verschaffen. Das Tragische an der Situation ist, daß Juden leiden müssen, weil der Judenstaat (vorübergehende) Erfolge gebucht hat, eine Schlacht gewonnen hat, wie Hitler viele schlug. Da wird in der Knesseth feierlich proklamiert, daß Israel die Juden Polens zu schützen wissen wird; da gab es vor Monaten einen Leitartikel im israelischen Pendant zur Moskauer „Trud“, im „Dawar“[Hebräische Tageszeitung. Offizielles Organ der Histadruth, der israelischen Gewerkschaftsorganisation – H.S.], worin den Lesern nahegelegt wurde, ihren Verwandten in der Diaspora die Boykottierung französischer Exportartikel zu empfehlen (in den dreißiger Jahren würde man das vielleicht Auslandsisraeli genannt haben, die zum Einsatz angehalten werden…).
Und das alles hilft nicht, die Pleite rückt näher. Sollten die „echten“ Zionisten da nicht hysterisch werden? Muß da nicht die Indoktrinationsschraube immer fester angedreht werden? Der Verdummungsprozeß ist schon so weit gediehen, daß ein Premier sich erlauben kann, zu sagen: „Wir werden gegen Sowjetrußland bis zum letzten Israeli kämpfen“, und das wird dann wortlos von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, sogar gutgeheißen. (Wie nannten Sie das, nebenbei, „Selbsterhaltung eines Volkes und Rettung bedrängter Menschen“?) Man muß sich bald ängstigen, daß der alte Atheist Jabotinsky doch noch Recht bekommt, wenn er seine Zöglinge dazu gebracht hat, zu verkünden, daß Palästina genauso unser sein wird, wie Deutschland für Hitler und Italien für Mussolini.
„Wie geht es weiter? Wo ist die Regierung, die es wagen kann, wesentliche territoriale Konzessionen zu machen? — Man wird sie wegfegen.“ Richtig, unfehlbar richtig! Aber am Tage nach dieser tabula rasa wird eine neue Regierung da sein, zusammengestellt aus den nämlichen Reizversprechern. Es gibt eben keine andere! Oder wozu hat Eschkol den Dayan und den Begin reingenommen, wenn nicht dazu, sie beim unvermeidlichen Reinfall mitzukompromittieren? Denn Staatsmänner sind sie allesamt nicht, dafür aber Politiker! Alle zusammen gefangen, gehangen und auferstanden!
Es ist der Form nach richtig, wenn Sie schreiben, daß sich jeder Israeli den Frieden wünscht. Aber zu wessen Bedingungen? Wollen denn nicht Johnson und Ho Tschi Minh beide sehnlichst den Frieden? Wievielmal hat Hitler während des Krieges Frieden angeboten? Da stand er in Narvik und war mal ganz aufrichtig! Da bot er Frieden in Smolensk. Und man wollte auf ihn nicht hören, nicht einmal mit ihm verhandeln! Diese kriegslüsterne Wilhelmina, dieser verbrecherische Haakon, diese Krampfhenne Churchill, diese Judensau Stalin, dieser Plutokrat Roosevelt, sie wollten nicht! Nur 80 Millionen friedliebende Deutsche sehnten sich nach Frieden. So las man es im ,,VB“.
Ich aber sage Ihnen, man will hier gar keinen Frieden. Eine Friedenswirtschaft, eine Aufhebung der Zensur, die Aufhebung der Devisengesetzgebung (die aus dem Notzustand der Mandatszeit hervorging), ein wahrhaft offener Verkehr mit den arabischen Grenzländern, eine auch nur teilweise Lösung der Flüchtlingsfrage (sagen wir: nur die vermögensrechtlichen Aspekte derselben, wobei noch vorhandene Liegenschaften zurückzuerstatten wären) — das würde Israel in kürzester Zeit umlegen. Die Auswanderung würde überhandnehmen (sie wird momentan staatlich gebremst durch Ausreiseverbot für potentielles Kanonenfutter). Die Auslandsquellen des Altschnorrlandes würden bald versiegen. Der Staat müßte sich normalisieren… und das kann er halt nicht, so wenig wie ein Herzkranker ohne pacemaker leben kann. Den Frieden, den man hier herbeizusehnen vorgibt, kennt man gar nicht, weil man ihn niemals gelebt hat, weil die Ostjuden und orientalischen Juden niemals in einer wirklichen Demokratie gelebt haben und was die deutschen Juden an Demokratie verbraucht haben, stammt aus der Weimarer Zeit. Was man hier will heißt: räumliche Neuordnung, wobei die beraubten Völker nun endlich und endgültig den Raub ratifizieren und sich zum ewigen Verzicht vertraglich verpflichten sollen. Some peace! Eine Pax Hebraica. Der Israeli stellt sich nämlich gar nichts anderes vor, wenn er über Frieden faselt. Ist es ihm doch noch niemals eingefallen, darüber nachzudenken, daß irgendwer ausgerechnet ihn als Infiltranten betrachten könnte. Würde jemand ihm sagen, daß der Araber vielleicht den Anflug eines Anspruchs auf ein Zipfelchen israelischen Gebietes haben könnte (sagen wir mal, um die alte Hauptstadt Palästinas zu nennen, auf Ramleh), er würde überhaupt nicht verstehen, was man zu ihm redet, er würde es für eine antisemitische Gemeinheit halten.
Der Jungisraeli ist ein ganz unkomplizierter Mensch. Jude im traditionellen, Zionist im historischen Sinne ist er nicht mehr; die theologische Begründung für sein Hiersein und die selbstgerechte Phraseologie womit ihre Väter sich, arme Flüchtlinge, zu Pionieren einer besseren Welt und zu nationalen Helden stempelten, braucht er nicht; eine geschichtliche Bindung an irgend ein Land irgendwelcher Vorfahren kennt er nicht. Seine Legitimation ist die Geburtsurkunde. Er ist genauso unkompliziert Israeli in seinem Lande, wie der Deutsche es in seinem ist. Er gehört zu einem Volke wie alle Völker (nämlich das israelische). Ist seine Geburtsurkunde in Haifa ausgestellt, so fragt er sich nicht, wie er als Jude im Lande der Phönizier zur Welt kam. Stammt er aus Jaffa oder Tel Aviv, aus Askalon oder Asdod, so sagt er sich nicht, daß das eigentlich überhaupt nicht Erez-Israel ist, sondern erzfeindliches Philisterland. Der Negeb wird von ihm auch nicht als „chuz-laaretz“ [Hebr. Ausland] (nämlich Edom) empfunden. Er ist nur Israeli, sein Volkstum datiert von 1948. Altere historische Rechte sind für ihn Larifari. Aber keinem dieser Kibbuzniks ist es noch eingefallen, zu fragen: „Auf wessen Boden steht eigentlich mein Kibbuz?“
Ich fürchte, daß meine Briefschreiberei inzwischen zur Mehlmahlerei degradiert ist. Meine Grundsätze sind einfache und wenige, wie fundamentalistische Prinzipien das wohl immer sind. Wenn aber Korn mehrfach zur Mühle geht, werden die Mehlsäcke weder mehr noch schwerer. Ich habe den Eindruck, daß ich immer wieder dasselbe sage.
Welchen Gebrauch möchten Sie von meinen Briefen machen? Und welcher Nutzen, glauben Sie, kann aus dem von Ihnen vorgesehenen Gebrauch erwachsen? Ich werde auf Ihre Frage weiter eingehen, wenn ich diesbezüglich Ihre Antwort habe.
Mit bestem Gruß,
Ihr L. Wagenaar
PS: Die Umtriebe in Freiburg (und anderswo) interessieren mich sehr.