Brief von L. Wagenaar an H. Spehl 5. Juni 1968
Jerusalem, den 5. Juni 1968
Sehr geehrter Herr Spehl,
Es ist richtig, daß wir in dem Punkt der moralischen Grundlagen des Zionismus nicht zusammenfinden werden, jedenfalls nicht, solange Sie solche bejahen. Jeder -ismus hat in ovo etwas Gutes, einen irgendwie moralisch verantwortbaren Impuls. Keine Bewegung in der Welt (auch keine politische) ist jemals entstanden, um Schlechtes zu vollbringen. Auch der Nationalsozialismus hat sich nicht als verbrecherische Organisation konstituiert. Der Geist der stets verneint, die Kraft die stets das Böse will — ist immer ein Einzelgänger! Hitler hat es mit seinem deutschen Volk bestimmt sehr gut gemeint; das aber machte ihn noch nicht zum Menschenfreund. Herzl meinte es auch gut mit den Juden (die er wohl kaum gekannt hat, jedenfalls gilt das für die orientalischen Juden); mit Philanthropie aber hat seine Bewegung sehr wenig zu tun. übrigens verstehe ich unter Philanthropie eine Wohltätigkeit aus eigenen Mitteln, nicht mit gefälschten Schecks, gezogen auf das Bankkonto eines andern. Natürlich hatte Herzl kein Bankkonto, das sollte ihn aber doch nicht dazu veranlaßt haben, den Philanthropen zu spielen.
Diese Sache ist für jeden Nichtjuden sehr schwierig. Sie ist auch dem Juden nicht direkt leicht, denn sie erfordert eine vollkommene Vergeistigung jeglichen jüdischen Lebens, sowohl national und gesellschaftlich als auch individuell. Es ist eine reine Glaubenssache, wonach die „Judenfrage“, die natürlich ein Christenproblem ist, ihre Lösung nur in den Tagen des Messias finden kann. Wie das kommt, wann das kommt, wie das aussieht — das wissen wir nicht, ignoramus et ignorabimus, bis es soweit ist. Über so irrationale Dinge können wir wohl kaum diskutieren. Nichtjuden können sich die Angelegenheit nur auf eine einzige Art leicht machen (short of final solution): Pfarrer Achenbach, ein bewährter Israelfreund, der so ungefähr nirgends fehlt usw., geht diesen Weg mit zweitausendjähriger Konsequenz.
Wer aber, ohne sich die Angelegenheit mit einem geistigen Todeskuß allzu leicht machen zu wollen, der Sache von der moralischen Seite her auf den Grund gehen möchte, kann auch nicht beim Zufallswort Philanthropic stehenbleiben und dies — wie ich es soeben getan habe — im Bausch und Bogen ablehnen. Schauen wir etwas tiefer; Ihr ganz ehrliches Bemühen, dem Zionismus einen moralischen Wolkenrand abzuringen, verdient es.
Die Frage ist und lautet: Gibt es Umstände, unter denen der Mensch oder eine menschliche Gesellschaft berechtigt ist, amoralisch zu handeln? Die Antwort, kurz gesagt, ist: nein.
Die russischen Pogrome, der Dreyfus-Prozeß, die Zustände in Rumänien, die ewigen Judenverhetzungen, der Nationalismus des fin-de-siècle — keine von diesen Umständen haben dem Griff nach arabischem Boden (damals unter türkischer Verwaltung) eine moralisch verantwortbare Grundlage unterlegt. Ob nun Herzl, wie Sie seine erste Denkreaktion apostrophieren, „naiv“ war oder, wie ich es gesagt habe, „machiavellistisch“ — wir wollen darüber nicht streiten: für einen Staatsmann sind beide identisch mit „verbrecherisch“. Herzl hat genau gewußt, daß Palästina nicht ein weißer Flecken auf der Landkarte ist. Er war am Bosporus zu Krankenbesuch, war auch hier, und alle diese Frühzionisten haben es genau gewußt, nur haben sie die autochthone Bevölkerung als quantité négligeable betrachtet. Die jüdischen Verhältnisse und Umstände in Europa, die unvorstellbar waren, machen jeden Notsprung verständlich, aber rechtfertigen ihn noch nicht.
Ich war fast zwei Jahre in Auschwitz. Auch das war eine Notlage, eine, die man sich überhaupt nicht vorstellen kann, weil eine solche Welt nicht dagewesen war. Wenn jemals ein Astronaut vom Mond zurückkommt, so wird er viel zu erzählen haben, er wird es aber tun müssen in für Erdbewohner verständlichen, ihnen aus der Erfahrung geläufigen Termini, ansonsten wird er nicht verstanden. Ich habe mehrfach den Versuch gemacht, meine Erlebnisse niederzuschreiben. Es ist mir aber niemals gelungen, weil das eine Welt war, wo alle Werte umgewertet, alle Normen abnormal waren; ich kann über diese Zeit mit meiner Frau (die in Birkenau war) heute sehr gelassen und ruhig, vielleicht auch vernünftig sprechen, ein Außenseiter aber versteht unsere Sprache nicht. Ich habe auch noch niemals von besseren, wortgewaltigeren Schreibern ein annähernd zusammenhängendes Bild gesehen. Ich folgere daraus, daß der Grund nicht bei meinen mangelhaften Fähigkeiten liegt, nicht subjektiv, sondern vielmehr objektiv ist. Ich bin niemals weitergekommen als bis zur lapidaren Feststellung, daß dort Gut und Böse reinlich ausgewechselte Begriffe waren. „Handle so, daß die Maxime deines Willens niemals zugleich als Prinzip einer allgemeinen Lagerordnung gelten könnte!“ Man konnte Brot, Suppe, Kotzen stehlen, Kapo werden, Spitzel, Piepel, sich zu Henkersdiensten melden – das alles und vieles mehr war dort Tugend; und wer Zeuge von Kannibalismus aus rasendem Hunger gewesen ist, kann leicht auch die Relativität des Amoralischen begründen mit dem Urwillen zum Leben, zum bloßen Überleben, um nur die Gelegenheit nicht zu verpassen, nachher wieder anständig zu sein. Wer nicht dort war, darf sich in der Tat kein Werturteil anmaßen über solche Metaphysik der Sittenlosigkeit in der Not — und das halte ich nolens volens Ihrer Einschätzung des Urzionismus zugute. Ich aber, der ich dort war, maße mir ein Urteil an: die Begründung der Relativität des Moralischen und Amoralischen mit dem Urwillen der Existenz ist eine Begründung, aber eine falsche. Denn die Welt ist nicht nur „dort“. Wenn du dich dieser Dort-Welt ethisch angleichst, so bist du dieser Dort-Welt wert. Das Leben in der Hier-Welt aber ist unverdient, wenn es mit Unbill und Verbrechen erkauft ist. Darf man denn, falls man in die Hände einer Mafia fällt, mitmorden und mitrauben, um sich die Zukunft zu retten? Wäre die Antwort darauf positiv, so könnte sich jeder SS-Mann heute auf Pflichtgehorsam berufen.
Daher ist auch das Stehlen einer Portion Brot vom Kameraden, das Organisieren einer Matratze, die Terrorisierung des Mithäftlings, der Schreibstubendienst der gefälschten Todesscheine, der Magazineurdienst von Frauenhaar und posthum entfernten Goldprothesen, das Himmelfahrtkommando verbrecherische Tätigkeit, verständlicherklärlich aber unverantwortbar. Der Versuchte darf das sagen.
Und so verhält es sich auch auf dem Gebiete unseres Themas. Es gibt keine Notlage, auch keine zweitausendjährige, in welcher eine menschliche Gesellschaft berechtigt wäre, einem anderen, freundlichgesinnten, unschuldigen Volke (noch dazu selber in einer Notlage, also quasi Mithäftling!) das Land zu stehlen. Sie camouflieren das als Philanthropie (und Ihr Bemühen ehrt Sie), aber bei mir, auch in diesem Sinne Versuchter, verfängt das nicht.
Das in Umlaufbringen gefälschter Schecks ist auch dann ein Verbrechen, wenn es aus — echten oder so empfundenen menschenfreundlichen, ja wohltätigen Zwecken erfolgt. Da gibt es, wie bei jedem Gesinnungsvergehen, Gradationen: der Fälscher, der Indossant, der Inkassant; es gibt Beihilfeleistende und Versucher, Konspiranten, Drahtzieher und was weiß ich noch. So ist es beim Zionismus: es gibt Verbrecher, Missetäter, Mitwisser, Hauptschuldige, Mitläufer, Nutznießer und was weiß ich noch. Dem Deutschen ist es gewiß eine harte Nuß, Buber ein solches Epitheton anzuhängen oder angehängt zu sehen, mir aber macht das nichts aus. Für mich ist er ein krummer Moralist, der zwar christliche Menschenliebe gepredigt, niemals aber den Mut aufgebracht hat, deutlich und in aller Öffentlichkeit zu bekennen, daß wir Juden keine völkerrechtlichen Ansprüche auf arabisches Territorium haben, daß die Errichtung eines Judenstaates mit Gewalt, mit Raub, mit List ein dem Geiste des Judentums unwürdiges Verbrechen an der bodenständigen Bevölkerung ist. Ich bin, aber nur der guten Form halber und weil sie sich nicht mehr verteidigen können, bereit, Magnifizenz Magnes und Spektabilität Buber die verhältnismäßig milden Bezeichnungen Gentleman-Mitläufer und Edel-Conquistadores zu belassen. Zu entlasten sind sie aber keineswegs, denn gerade die Herren Professoren haben eine erhöhte Verantwortlichkeit. Jaspers hat das besser verstanden.
Unser Briefwechsel ist bestimmt interessant und ich verstehe (und würdige) Ihren Vorschlag, einem erweiterten Leserkreis Einsicht darin zu verleihen. Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie unsere Korrespondenz in Form eines Heftchens herausgeben. Natürlich ist das auch für Sie eine prinzipielle Frage. Wer und was ist denn, alternativerweise, dieser Deutsch-Israelische Arbeitskreis? Sie stellen ihn mir zwar flüchtig vor, aber… ein ehrliches Engagement für Israel, das dürften Sie inzwischen gewahr geworden sein, ist nicht unbedingt eine Empfehlung in meinen Augen. Ein Intellektuellenklub, dessen Mitglieder auf Informationslücken bauen, ist eine contradictio in terminis. Ich, der ich hier in der inneren Emigration lebe, bin sehr vorsichtig und muß sehr vorsichtig sein in der Auswahl der Bühnen, wo mein Gastspiel aufgeführt werden soll, auch wenn ich für die Vorstellung nicht persönlich verantwortlich zeichne.
Mit bestem Gruß
Ihr L. Wagenaar