Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen konstituierte sich am 6. April 1946 im niederländischen Den Haa
http://www.jungewelt.de/2016/04-02/057.php
02.04.2016 / Geschichte / Seite 15
Konfliktlösung ohne Krieg: Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen konstituierte sich am 6. April 1946 im niederländischen Den Haag
Gregor Schirmer
Es wäre ein zivilisatorischer Fortschritt, würden die Staaten Streitigkeiten, die sie nicht vermeiden oder nicht durch Verhandlungen und andere zivile Mittel aus der Welt schaffen können, durch gerichtliche Entscheidungen beilegen. Das würde die Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen stärken und die verhängnisvolle Maxime »Macht geht vor Recht« zurückdrängen. Dafür hat sich vor 70 Jahren, am 6. April 1946, im Friedenspalast von Den Haag »das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen« (UN), der Internationale Gerichtshof (IGH) konstituiert. Leider nutzen die Staaten das Tribunal wenig. Seit 1947 wurden nur 121 Urteile gefällt und 25 Gutachten erstattet.
Der mit 15 Richtern aus unterschiedlichen UN-Mitgliedsländern besetzte IGH hat nur begrenzte Reichweite und Durchsetzungskraft. Er ist kein »Weltgericht«. Anrufen können ihn nur Staaten gegen andere Staaten. Einzelpersonen, Gruppen der Zivilgesellschaft, internationale Organisationen, auch die anderen Organe der UN können sich nicht an ihn wenden. Eine Befugnis zu einer Art Normenkontrolle, etwa zur Überprüfung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit deren Charta, hat der Gerichtshof nicht. Er besitzt auch keine Mittel, seine Urteile durchzusetzen.
Alle 193 Mitgliedsstaaten der UNO sind automatisch sogenannte Partner des IGH-Statuts. Das bedeutet aber nicht, dass jedes UN-Mitglied der Gerichtsbarkeit der Behörde unterliegt. Dazu ist notwendig, dass Streitparteien gemeinsam für einen Einzelfall Den Haag anrufen oder dass die Zuständigkeit in einem völkerrechtlichen Vertrag vereinbart ist oder dass es sich um einen Streit handelt, bei dem sowohl der klageführende als auch der beklagte Staat eine generelle »Unterwerfungserklärung« abgegeben haben (siehe Quellentext: Artikel 36 Absatz 2). Eine solche Erklärung haben bisher nur 72 Staaten, also nur ein gutes Drittel der Mitgliedsländer beim UN-Generalsekretär hinterlegt. Es fehlen folgende ständige Mitglieder des Sicherheitsrats: China, Russland und die USA. Und darüber hinaus, außer Ägypten, alle Staaten der konfliktträchtigen Regionen Vorderasiens und Nordafrikas, darunter die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien.
Die Bundesregierung hat sich erst am 30. April 2008 zur Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH aufgerafft. Die Erklärung wurde mit dem offiziellen Vorbehalt verbunden, dass diese Jurisdiktion nicht für Streitigkeiten greift, die a) mit dem Einsatz der Streitkräfte im Ausland und b) mit der Nutzung des Territoriums der Bundesrepublik für militärische Zwecke zu tun haben. Die Teilnahme der Bundeswehr an Kriegen und Militäreinsätzen in aller Welt und der Missbrauch deutschen Staatsgebiets für das Dirigieren von Waffen und den Überflug in solchen Kriegen und Einsätzen darf nach der Rechtsauffassung der Bundesregierung auf keinen Fall gerichtlich überprüft werden.
Das Nikaragua-Urteil
Es waren bislang nicht die schwerwiegendsten Streitfragen, die dem IGH zur Entscheidung vorgelegt wurden. Aber das spektakuläre Grundsatzurteil im Rechtsstreit zwischen Nikaragua und den USA vOm 27. Juni 1986, wegen der Unterstützung Washingtons für die »Contras« in dem mittelamerikanischen Land, ist in bester Erinnerung. Der Gerichtshof entschied, dass die USA gegenüber Nikaragua das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, das Gewaltverbot und das Gebot der Achtung der Souveränität der Staaten gebrochen haben und sich nicht auf das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung berufen können.
Wie für heute geschrieben steht der Satz in Paragraph 268 des Urteils: »Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nikaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, um die Achtung der Menschenrechte zu überwachen und zu sichern.« Das Urteil hat die aggressive Außenpolitik der USA ins Mark getroffen. Diese Politik war vorher und ist seither vielfach durch dieselben Völkerrechtsbrüche gekennzeichnet, die der IGH im Nikaragua-Urteil angeprangert hat.
Israels Mauer
Auf drei bedeutsame Gutachten sei noch verwiesen, die der IGH auf Anforderung der UN-Generalversammlung erstellt hat. Am 8. Juli 1996 veröffentlichte Den Haag ein Gutachten über die Frage, ob die Drohung mit oder die Anwendung von Kernwaffen völkerrechtlich erlaubt ist. Die Antwort lautete: Prinzipiell nein, aber … Das Prinzip: Die Androhung und Anwendung der Kernwaffen würde »generell« gegen die Regeln des Völkerrechts verstoßen, die für bewaffnete Konflikte gelten. Das Aber: Für den äußersten Fall der Selbstverteidigung, in dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, kann weder die Zulässigkeit noch die Unzulässigkeit eines Einsatzes festgestellt werden. Das Gericht hob die Verpflichtung der Staaten hervor, »bona fide (guten Glaubens, jW) mit dem Ziel nuklearer Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle zu verhandeln«.
In einem Gutachten vom 22. Juli 2010 gab der IGH auf die Frage, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht steht, eine dubiose Antwort. Er konnte weder in der Praxis des Sicherheitsrats noch im allgemeinen Völkerrecht ein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen entdecken. Es ist nicht verwunderlich, dass die verschiedenartigsten sezessionistischen Bewegungen das Gutachten als willkommene Unterstützung ihrer eigenen Bestrebungen benutzten. Es wurde allenthalben übersehen, dass der IGH im Paragraphen 51 ausdrücklich darauf hinwies, dass er nicht zu den rechtlichen Konsequenzen der Unabhängigkeitserklärung und insbesondere nicht gefragt worden sei, ob der Kosovo dadurch Staatlichkeit erreicht hat oder nicht. Dementsprechend betrachte es das Gericht nicht als notwendig, sich damit zu befassen, ob die Unabhängigkeitserklärung zur Gründung eines Staates geführt hat. So zog sich das Gremium in Den Haag listig aus der Affäre und ließ die Hauptfrage nach der Unabhängigkeit des Kosovo als Staat und Völkerrechtssubjekt oder der Zugehörigkeit zu Jugoslawien, jetzt Serbien, bei substantieller Autonomie, offen.
Eindeutig war die mit 14 Ja- und der Gegenstimme des Richters aus den USA getroffene Feststellung im Gutachten vom 9. Juli 2004: »Die Mauer, die von Israel, der Besatzungsmacht, in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich in und um Jerusalem herum, gebaut wird, widerspricht internationalem Recht.« Er läuft auf eine Annexion palästinensischen Gebiets hinaus, verletzt das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und widerspricht Bestimmungen des humanitären Kriegsrechts und Menschenrechtskonventionen. Israel – so der IGH – muss die Mauer abreißen und an die Betroffenen Schadenersatz leisten.
Quellentext: Statut des Internationalen Gerichtshofs
Artikel 3 (1): Der Gerichtshof besteht aus 15 Mitgliedern, von denen nicht mehr als eines Angehöriger desselben Staates sein darf.
Artikel 8: Die Generalversammlung und der Sicherheitsrat nehmen unabhängig voneinander die Wahl der Mitglieder des Gerichtshofs vor.
Artikel 34 (1): Nur Staaten sind berechtigt, als Parteien vor dem Gerichtshof aufzutreten.
Artikel 36 (1): Die Zuständigkeit des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtssachen (…) (2) Die Vertragsstaaten dieses Statuts können jederzeit erklären, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs von Rechts wegen und ohne besondere Übereinkunft gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, für alle Rechtsstreitigkeiten über folgende Gegenstände als obligatorisch anerkennen: a) die Auslegung eines Vertrags; b) jede Frage des Völkerrechts; c) das Bestehen jeder Tatsache, die, wäre sie bewiesen, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung darstellt; d) Art oder Umfang der wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.
Aus: Bundesgesetzblatt 1973 Teil II, S. 505