Deutsche Strafverfahren werden nicht protokolliert
Deutsche Strafverfahren werden nicht protokolliert
Auszug aus Rolf Bossi, Halbgötter im Schwarz (Goldmann, 2006)
(…)
Wo Menschen nach eigenem Ermessen über Fakten und über die Handlungen und Motive von anderen Menschen entscheiden, ist die Dokumentation des Entscheidungsprozesses ein entscheidendes Mittel der Kontrolle. Vor Gericht geht es da leider kaum besser zu als bei manchem häuslichen Streit. Oft streitet man sich viel erbitterter darum, wer wann was gesagt hat, als um die Sache selbst. Um gleich mit diesem letzten Punkt zu beginnen: Der Umfang und die Beweiskraft der gerichtlichen Protokolle ist meiner Meinung nach völlig unzureichend – besonders bei Verfahren über schwere und kapitale Verbrechen. Während beim Amtsgericht, also immer dann, wenn keine schwere Kriminalität auf der Tagesordnung steht, über die mündliche Verhandlung ein Protokoll geführt wird, das alle Aussagen wenigstens dem Sinn nach wiedergibt, kennen die Straf- und Schwurgerichtskammern der Landgerichte nur ein formelles Verlaufsprotokoll, aus dem sich keinerlei inhaltliche Aufschlüsse über den Gang der Verhandlung gewinnen lassen. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme sind daher einzig und allein in den späteren Urteilsbegründung zu finden. Die aber wird vom Gericht, zumeist vom Vorsitzenden Richter verfasst. Dieser entscheidet also letztendlich, wie welche Aussagen wiedergegeben werden oder welche eventuell ganz unter den Tisch fallen. Resultat: Am Ende passt das Ergebnis der Beweisaufnahme immer genau zum gefällten Urteil. Mögliche Fehlinterpretationen, Verdrehungen oder gar bewusste Verfälschungen lassen sich später kaum noch feststellen, geschweige denn korrigieren.
Das sind keine günstigen Voraussetzungen für eine Berufung oder eine Revision. Zumal die meisten Richter bei der Formulierung ihrer Urteilsbegründungen – mithin der einzigen Grundlage für späteren Widerspruch – äußert geschickt vorgehen, potenzielle Einwände des Strafverteidigers antizipieren und elegant jede Hürde nehmen, die Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Einspruch liefern könnte. Das Ziel eines Richters ist das ‚revisionssichere’ Urteil – auch wenn es womöglich ein Fehlurteil ist. Sabahattin Yalman sitzt wegen eines solchen wasserdichten Unrechtsurteils hinter Gittern.“
(Seiten 20-21)
Für die Urteilsbegründung sind fast immer Aussagen der vernommenen Zeugen ausschlaggebend. „Auch diese werden in einem Schwurgerichtsprotokoll leider nur in Telegrammstil wiedergegeben. Etwa so: „Die Zeuging Schmitz wurde aufgerufen. Die Zeugin Schmitz wurde vernommen.“ Wo aber kann ich nachlesen, was diese Zeugin genau ausgesagt hat? Das steht allenfalls in der Urteilsbegründung des Gerichts. Und eben nur dort. Für den Inhalt einer Auussage gibt es darüber hinaus keine weitere Quelle. In dieser jedoch gibt das Gericht alle Zeugenaussagen so wieder, wie es sie verstanden hat, oder vielmehr: so, wie es sie verstehen will – falls sie überhaupt für erwähnenswert hält. Ein Gericht kann nämlich durchaus zu der Auffassung gelangen, die Aussage der Zeugin Schmitz sei für das abschließende Urteil nicht relevant. Dann wird es sie in die Urteilsbegründung nicht aufnehmen und somit schlichtweg unter den Tisch fallen lassen. Was, wann und wie in einer Gerichtsverhandlung gesagt wird, ist also objektiv kaum nachprüfbar. Es bleibt abhängig von der Sichtweise des Richters. Im Prinzip ist damit der Willkür Tür und Tor geöffnet. Richter können Zeugenaussagen ignorieren, missverstehen, verdrehen und in einzelnen Fällen sogar bewusst verfälschen, ohne dass es ihnen nachzuweisen wäre.
(Seite 45)
Vor dem Schwurgericht geht es für einen Angeklagten also stets um alles: um hohe oder lebenslange Freiheitsstrafen. Da sollte man meinen, dass nicht nur dem Inhalt, sondern sogar dem genauen Wortlaut von Zeugenaussagen ein besonderes Gewicht zukommt. Erstaunlicherweise ist es im deutschen Strafprozessrecht genau umgekehrt. Nur beim Amtsgericht, also während deer Prozesse gegen Taschendiebe, Autoknacker und Junkies, wird von einem Urkundsbeamten ein Inhaltsprotokoll geführt..Woher kommt dieses für den gesunden Menschenverstand so seltsame Missverhältnis zwischen der Bedeutung und der Genauigkeit des Verfahrens?“
(Seite 46)
Ein […] verbindliches Wortprotokoll kann man mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln leicht herstellen. Längst hat der Laptop in die Gerichtssäle Einzug gehalten. Digitale Sprachaufzeichnung beherrscht heute der billigste Heimcomputer. Die Software zur Spracherkennung, mit deren Hilfe sich Tonaufzeichnungen in geschriebene Wortprotokolle überführen lassen, ist technisch zwar noch nicht perfekt, aber mit etwas redaktioneller Nachbearbeitung kommt man schneller zu verlässlichen Texten als mittels stenographischer Aufzeichnungen. Alle juristische Skrupel, hier würden fragwürdige technische Hilfsmittel an die Stelle richterlicher Souveränität gesetzt, offenbaren deshalb in Wahrheit nur einen Geist, der in den tintenfleckigen Ärmelschonern unbestechlicher Beamter nach wie vor den Gipfel dokumentarischer Präzision sieht. In vielen ehrwürdigen Gerichtsgebäuden scheint nicht nur die Technik, sondern auch die Gesinnung noch in jenem 19. Jahrhundert zu stecken, dem wir unsere Strafprozessordnung verdanken.
(Seite 50-51)
Wenn […] exakte Gerichtsprotokolle die nackten Tatsachen gegen die Deutungsmacht einzelner Richter in Schutz nehmen, dann ist das keine Einschränkung der genannten Prinzipien und Verfahrensgrundsätze. Im Gegenteil: Es würde die Wahrheit befördern helfen. Es wäre eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, die den Angeklagten vor Übel wollenden Unterstellungen, Missdeutungen und Verfälschungen von Zeugenaussagen durch das Gericht schützte.
(Seite 54)