Gleichheit ohne Gleichheit
Gleichheit ohne Gleichheit
Wirtschaft als das Leben selbst.
Von Helmut Höge
Junge Welt, 13. Mai 2014
Das Prinzip des Privateigentums, des „Warentauschs“ ist laut Alfred Sohn-Rethel »die Negation von Gesellschaft«. Im 6. Jahrhundert v. u. Z. mußte in Athen dem Kleisthenes, den Herodot den »Demokratiebegründer« nannte, das Zugeständnis abgerungen werden, daß auch Bürger ohne Vermögen in Staatsämter gewählt werden durften. Für den Altphilologen George Thomson zeigte dies »den Mittelstandscharakter der Revolution«. Die neue Verfassung war dem »Stammesmodell« nachgebildet, und verbarg so die Tatsache, daß mit ihr die »letzten Überreste der urtümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweggefegt worden waren«, d. h. die Warenbesitzer traten sich nunmehr in der »>Freiheit< des offenen Marktes als Gleiche gegenüber«.
Diese »Gleichheit vor dem Gesetz« (isonomia) bezeichnete bereits Diodoros aus Agyrion im 1. Jhd. v. u. Z. als unwesentlich, da sie ohne »Gleichheit des Eigentums« daherkomme. Tatsächlich hatte sich dadurch laut Thomson »der Klassenkampf, weit davon entfernt, beendet zu sein, noch verschärft«. Es standen sich nicht mehr Adlige und Bürger gegenüber, sondern Sklavenhalter und Sklaven, wobei letztere »aus der Gesellschaft Ausgestoßene« und zugleich »Schöpfer deren Wohlstands« waren. Dadurch entstand eine Spaltung zwischen Konsumtion und Produktion, zwischen Theorie und Praxis.
Nicht wenige der »ersten Philosophen« waren Kaufleute, mithin Sklavenhändler, Der Trennung von Hand- und Kopfarbeit verdankten sie einiges. Sie geht zurück auf Pannenides: »Er ist der Mann, der unveränderliche und rein begrifflich formulierte Gesetze anstelle anschaulicher Ereignisfolgen setzt und der so Wirklichkeit und Welterfahrung, Denken und Anschauung, Wissen und Handeln entschieden voneinander trennt«, schrieb Paul Feyerabend in seiner »Naturphilosophie«, Pannenides begründete damit unsere westliche Wissenschaft – mit ihm begann die Philosophie, meinte Hegel.
Im 6. Jhd. v, u. Z. trat der Kaufmann Solon als Reformer auf den Plan. Seine Leistung bestand laut Thomson darin, »die Gesellschaft von der Natur geschieden und als ein sittliches Ordnungsgefüge erklärt zu haben«. Die Gleichheit vor dem Gesetz ohne die des Eigentums tastete er nicht an, obwohl er einräumte, daß die »Geldgier der Bürger die Stadt zerstören« könnte. Einer, der sich alles leisten könne, sei nicht reicher als ein anderer, der bloß genug zu essen habe, schwadronierte Solon. Gerechtigkeit sei »niemals zu erschüttern, während das Geld beständig von einem Menschen zum anderen hinüberwechselt«.
Mir drängte sich dieser Widersinn auf, als ich mit 18 Jahren ohne Einkommen wegen abgefahrener Reifen an meinem alten VW 160 DM Strafe zahlen mußte, die ich nicht hatte. Mein beim Staat angestellter Vater dagegen hätte die Summe in seiner Brieftasche gehabt. Seine Reifen waren jedoch nie abgefahren, weil er immer genug Geld hatte, sie rechtzeitig zu wechseln. Die gerechte Strafgebühr war (und ist) eine schreiende Ungerechtigkeit.
Es kam noch dicker: Jahrzehnte später sah ich in der Einkaufsstraße der mongolischen Hauptstadt ein Pärchen in einem Terrassencafe vor zwei Cocktails sitzen: eine junge Mongolin und ein Anfang zwanzigjähriger USAmerikaner vom Konzern »Ivanhoe Mines«, wie ich später erfuhr. Ivanhoe ist der Titel eines Kreuzritterromans von Sir Walter Scott. Der danach benannte Bergbaukonzern hatte eine Goldmine
in der Mongolei ausgebeutet. Weil er glaubhaft machte, daß er dazu 15 Jahre benötigte, gewährte die Regierung ihm fünf Jahre Steuerfreiheit. Nach viereinhalb Jahren war alles Gold aus der Mine gelöst. Der Betrug erboste die Mongolen derart, daß es zu gewalttätigen Ausschreitungen in Ulaanbaatar kam, Demonstranten verbrannten eine Puppe, die den Ivanhoe-Chef darstellte.
Inzwischen gehörte der Konzern zum noch größeren Bergbaukonzern »Rio Tinto«, der in der Wüste Gobi eine riesige Gold- und Kupfermine ausbeutet. Zurück zu dem Pärchen auf der Terrasse: Während sie etwas gelangweilt die Passanten betrachtete, hatte er sich in ein Buch vertieft. Ich spinne nicht: Es war »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des Weißen Mannes«) – ein Poem von Rudyard Kipling, in dem die Amerikaner zur Kolonialisierung Kubas und der Philippinen aufgerufen werden. Ausgerechnet diesen »Klassiker« las dieser Ami an jenem schönen Sommertag in der Mongolei, wo einen Steinwurf entfernt drogenkranke Straßenkinder in der Kanalisation hausten, während die US-Botschafterin in Ulaanbaatar der mongolischen Regierung sagte‘ was diese als nächstes zu tun hatte.
Sprung, April 2014: Damit Rußland wie 1918 von White Mans Nations umzingelt werde, besuchte der US-Verteidigungsminister die Mongolei und bat die Regierung, eine Militärbasis im Land errichten zu dürfen. Der mongolische Verteidigungsminister bedauerte, daß er das nicht genehmigen könne, die Verfassung gäbe das noch nicht her. Aber westliche Experten sind sich sicher: »Wir werden die Mongolei bald nicht mehr wiedererkennen.«