Herzl und Gefolge (1975)
Herzl und Gefolge
H. Spehl an Redaktion DER SPIEGEL, Hamburg
Freiburg, 10. Mai 1975
Betrifft: Rezension von Dieter Wild über Amos Dons Herzl-Biographie. ("Herzl und die Seele Wilhelms II." – DER SPIEGEL Nr. 19/1975).
Amos Elon und Dieter Wild führen ihre Leser einmal mehr in die Irre, wenn sie Herzls angeblich "einzige Tagebuchnotiz, die sich auf die Araber bezieht" zitieren, wonach Herzl der Meinung gewesen sein soll, in Palästina lebe nur eine "mixed multitude von Bettlern, Weibern, Kindern". Herr Elon brauchte für seine Herzl-Biographie keine Quellen einzusehen, die (nach Dieter Wilds Worten) eigentlich erst 1987 zugänglich sein sollten. Herzls Tagebuch hätte schon in der "gesäuberten Ausgabe von 1922" ausgereicht, wenn man hätte mitteilen wollen, was sich Herzl für die Einwohner des ‚zu nehmenden Landes‘ (wie er sich ausdrückt) ausgedacht hatte:
Ziehen wir in eine Gegend, wo es für die Juden ungewöhnliche wilde Tiere gibt – große Schlangen usw. – so benütze ich die Eingeborenen, bevor ich sie in den Durchzugsländern beschäftige, dazu, diese Tiere auszurotten. (Als Arbeiter für Entsumpfungen) wären solche Araber zu verwenden, die gegen das Fieber immun sind.
Dieter Wild preist die neue Herzl-Biographie als "heilsame Entmystifizierung Israels" und bewundert, wie unnachsichtig der "aufgeklärte Zionist Elon" über das verklemmte Sexualleben Herzls aufklärt. Aber die modische Aufzählung von Unterleibeigenschaften ist noch keine politische Tat, wenn dem Leser Herzls ominöse Version der Leibeigenschaft vorenthalten wird. Wer p o l i t i s c h e Aufklärung wünscht, ist nach wie vor auf die Lektüre der Herzl-Tagebücher angewiesen. Die Amüseure aus zweiter Hand, die Leon Kellner, Alex Bein und Amos Elon und all die anderen Biographen, haben Verantwortlichkeiten erst beschönigt, und, seit es nicht mehr viel zu beschönigen gibt, psychologisierend die Grenzen der Unverantwortlichkeit immer weiter hinausgeschoben. Herzls machiavellistisches Gedankengut haben sie alle unterschlagen. Und keiner hat sich getraut, klar auszusprechen, welche hintergründigen Kräfte die Pläne des Politspinners überhaupt erst realisierbar machten.
Das stillschweigende Komplott von Zionisten und Antisemiten, die stetig wachsende Flut von verstohlenen Hilfestellungen des antisemitischen Abendlandes, hat erst die jüdischen Massen in die Hände der Zionisten, und dann die Palästinenser in die Flüchtlingslager getrieben. Wilhelm II. hat den Bericht der deutschen Gesandtschaft in Bern über den ersten zionistischen Kongreß mit der Randbemerkung verziert: "Ich bin sehr dafür, daß die Mauschels nach Palästina gehen; je eher sie dorthin abrücken, desto besser"(2). Und Herzl war vielleicht (Dieter Wild, den SPIEGEL-Redakteur für Außenpolitik, scheint das zu interessieren) "ein sexuell Verklemmter, unfähig, in Frauen etwas anderes zu sehen als entweder hehre, geschlechtslose Göttinnen oder aber wilde Schlangenmädchen, Mädchenschlangen". Aber dieser Herzl war fähig, die Verklemmung der folgenden Geschlechter, samt der der geschlechtslosen Presse-Götter, vorauszusagen: "Die Antisemiten werden unsere verläßlichsten Freunde, die antisemitischen Länder unsere Verbündeten", heißt es unter dem 12. Juni 1895 in seinem Tagebuch.
Es war ein Scherz voll bitterer Ironie, als man den Redakteur Herzl in den Redaktionsräumen der Wiener NEUEN FREIEN PRESSE zum Ehren-Antisemiten ernannte. Und der "tiefenpsychologische Exerzierfall", den Amos Elon aus dem Herzl-Traum konstruiert ("mit der Seele Wilhelm Zwo in einem Ruderboot allein auf dem weiten Meer"), geht haarscharf an der Wirklichkeit vorbei. In Herzls Ruderboot saß nicht nur Wilhelm Zwo, und man verstand sich von allem Anfang an – auch wenn man sich das kaum einmal sagte. Man war ein Herzl und eine Seele.
Mit besten Grüßen (gez. H. Spehl)
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Briefredaktion DER SPIEGEL an H. Spehl
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