Jabotinsky und die Folgen, 1968
H. Spehl an Dieter E. Zimmer, DIE ZEIT, Hamburg
Freiburg, 21. August 1968
Sehr geehrter Herr Zimmer: Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zu Ihrem Artikel "Heiliges, klassenloses, hilfebedürftiges Land – Reisenotizen aus Israel" in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 17. August 1968 (5).
Daß nicht besonderer Sachverstand Sie zur Niederschrift Ihrer Reisenotizen ermächtigt hat, geben Sie selbst zu. Und daß dieses Bekenntnis keine Koketterie ist, zeigt die Lektüre des Artikels. Aber Sie haben politische Phantasie, und so sind Sie irgendwo auf die "einzige und höchst einfache Frage" gestoßen: "Ist man bereit, den Juden zu konzedieren, daß sie hier, auf palästinensischem Gebiet ihre eigene souveräne Staatlichkeit errichten und behaupten?"
Doch bevor Sie diese Frage voreilig beantworten, möchte ich Ihnen schnell eine andere stellen, denn, nicht wahr, wir wollen uns doch die Antwort nicht gar zu leicht machen. Also denn: Sind Sie bereit, den Juden zu konzedieren, daß sie hier in Bayern, oder in Baden-Württemberg, oder in Hessen ihre eigene souveräne Staatlichkeit errichten und behaupten? Weiß Gott, es hätte ja 1945 Gründe genug gegeben, Baden-Württemberg auszuräumen, um den Überlebenden unseres Rassenwahnsinns eine nationale Heimstätte zu schaffen. Man hätte dazu nicht die UNO zu bemühen brauchen; die vier Siegermächte hätten das unter sich ausmachen können. Und wer weiß, vielleicht hätten die Araber sogar zugestimmt, wenn sie davon überhaupt Kenntnis genommen hätten. Mit Sicherheit aber würde sich der ägyptische Botschafter in d i e s e m Staat Israel wohler fühlen, als unser erster Botschafter, der Ritterkreuzträger Rolf Pauls, in Tel Aviv.
Aber was würden unsere braven Mitbürger dazu sagen? Das hieße doch wohl die antisemitischen Wurzeln unseres so zur Schau gestellten Philosemitismus wieder freilegen. Bei unserer Gründlichkeit würden wir in den Rechenbüchern vermutlich nicht nur "mit toten Israelis rechnen", sondern unsere Kinder die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ in Versform aufsagen lassen. Und man wird wohl annehmen dürfen, daß sich einige seriöse Herren gefunden hätten, die die ‚Vollendung des Genocids‘ mit weniger Dilettantismus vorbereiten, als der üble Maulheld Schukeiri.
Aber das ist natürlich politische Phantasterei. Da nun einmal die Israelis um alles in der Welt nur in Palästina ihre souveräne Staatlichkeit errichten wollten, haben wir unseren Antisemitismus überwunden. An jedem deutschen Obststand gibt es israelische Orangen, derweil die bösen Araberkinder "mit toten Israelis rechnen", derweil die verruchten arabischen Politiker die Palästinaflüchtlinge zur Todfeindschaft anhalten, und derweil die abgefeimten syrischen Militärs darauf brennen, "unten am Tiberias-See von neuem Ein Gev zu beschießen".
Bedeutet das, wie Ihnen scheint, daß keine Friedenslösung absehbar ist? Aber nicht doch: machen wir aus unserer eifrigen Sympathie für die Juden kein Hehl, "sortieren" wir nicht länger "mühselig Recht und Unrecht", bilden wir nicht immer nur "Sätze, die in der Mitte ein ‚aber‘ enthalten". Tun wir etwas! Wenn also die Israelis in Gottes Namen nicht in Hessen siedeln wollen, nehmen wir doch vorerst die ein und eine halbe Million Palästinaflüchtlinge. Räumen wir Hessen, lassen wir ihnen die Fabriken, die Bauernhöfe, die Bankkonten, verzichten wir auf den Grundbesitz, die Elektrizitätswerke und die Staatsforsten. Rufen wir in Hessen den neuen Staat Palästina aus! Wenn "das kraftstrotzende, hemdsärmelige, zielstrebige, robuste und energische" Israel in die Landschaft der Levante passt, sollte wohl die Levante auch in "unser braves, blasses Deutschland" passen.
Wann schreiben Sie, sehr geehrter Herr Zimmer, Ihren ersten Artikel in dieser Angelegenheit?
Sollten Sie dabei auf die einzige und höchst einfache Frage stoßen, ob unsere Landsleute wohl bereit sein werden, den Palästinensern zu konzedieren, daß sie hier, auf deutschem Gebiet ihre eigene souveräne Staatlichkeit errichten und behaupten, dann immerhin sind Sie nahe daran, zu begreifen, was an Ihren Reisenotizen aus Israel schief ist.
Hochachtungsvoll (gez. H. Spehl)
Dieter E. Zimer, DIE ZEIT, Feuilleton-Redaktion, an H. Spehl
Hamburg, 23. August 1968
Sehr geehrter Herr Dr. Spehl: Obwohl Sie es mir nicht zutrauen: die Gegenfrage, die Sie mir da vorlegen, kommt mir nicht so furchtbar unbekannt vor. Wenn ich mich scheue zu sagen, daß ich nicht das geringste dagegen hätte, wäre den Juden nach 1945 eine nationale Heimstätte auf deutschem Gebiet errichtet worden, so darum, weil eine solche Versicherung angesichts des Gangs der Geschichte von wirklich absurder Privatheit wäre. Daß die jüdische Kolonisation in Palästina ein Unrecht gegenüber den Arabern bedeutete, ist unbestreitbar; aber dieses Unrecht hätte gemildert, wenn nicht wettgemacht werden können durch eine friedliche Kooperation im nahöstlichen Raum. Wer hat die ausgeschlossen?
Mit freundlichen Empfehlungen (gez. Dieter E. Zimmer)