Karlsruhe hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt.
Die Richter, die Soldaten und die Angst
Karlsruhe hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt.
Das Urteil bricht mit den Prinzipien der Verfassung – und macht das Land trotzdem nicht sicherer.
Von Juli Zeh
Süddeutsche Zeitung 1. September 2012
AUSSENANSICHT
Nun also hat die Bundeswehr den Segen des Verfassungsgerichts für Einsätze im Inland. Nicht nur, um Sandsäcke zu schleppen, sondern für echtes Hauen und Stechen. Und das nicht erst im Fall eines Staatsnotstands, sondern bereits bei „besonders schweren Unglücksfällen“ im Sinne von Artikel 35 des Grundgesetzes, also nach jener Vorschrift, von der es rund ein halbes Jahrhundert lang hieß, dass sie keine Erlaubnis für den Einsatz militärischer Mittel enthalte. So weit, so unerhört. Aber der Aufschrei blieb aus. Ein bisschen pflichtschuldige Berichterstattung und leises Gemecker. Regierung und Opposition verbuchen das Urteil als Erfolg. Man geht zur Tagesordnung über. Drei Tage später scheint die Angelegenheit vergessen.
Hallo? Da wurde eine heilige Kuh geschlachtet. Noch im Jahr 2006 hatte der Erste Senat bei Prüfung des Luftsicherheitsgesetzes betont, dass es dem Bund von der Verfassung her nicht erlaubt sei, „die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“. Sechs Jahre später gilt plötzlich das Gegenteil, wenn auch „in engen Grenzen“.
Die Rechtsprechung knüpft damit an eine unselige Entwicklung an. In jüngster Zeit scheinen Lehren, die aus der deutschen Vergangenheit gezogen wurden, an Wert zu verlieren. Vom deutschen Boden sollte kein Krieg mehr ausgehen – bis zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Menschen sollten niemals wieder aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit unter Generalverdacht gestellt werden – es folgten Rasterfahndung, Observation und Präventivgewahrsam für Moscheenbesucher. Und jetzt also der Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
Schon lange gibt es Politiker, die Soldaten gern auf Großdemonstrationen, in Fußballstadien oder bei der Bewachung von Bahnhöfen einsetzen würden. Von solchen Bestrebungen distanziert sich das Urteil. Ausdrücklich werden „Gefahren, die von einer Menschenmenge ausgehen“ ausgenommen. Den Richtern geht es um etwas anderes. Ebenso wie das Luftsicherheitsgesetz, welches zur Prüfung vorlag, ist auch das Urteil selbst eine Reaktion auf den 11. September 2001. Man stelle sich vor: Ein von Terroristen gekapertes Flugzeug rast auf den Berliner Reichstag zu. Unten steht die Luftabwehr der Bundeswehr und darf nicht eingreifen, weil das Grundgesetz den Gebrauch von Waffen auf deutschem Boden verbietet. Kann das angehen?
Die Erinnerung an die einstürzenden Türme von New York hat die Richter dazu verleitet, diese Frage mit „nein“ zu beantworten. Ebenso scheint es diese Erinnerung unmöglich zu machen, das Urteil grundsätzlich zu kritisieren. Das ist die Crux apokalyptischer Gedankenspiele – sie behindern das sachliche Denken. Vernünftig gedacht, ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Attentats seit dem 11. September 2001 nicht höher als zuvor. Trotzdem ist es heute schwieriger, auf dem kategorischen Verbot militärischer Einsätze im Inland zu bestehen. Als würde man damit vorab eine Mitschuld am Tod unschuldiger Menschen auf sich laden.
Das Wesen von Prinzipien besteht allerdings gerade darin, dass sie auch in schwierigen Situationen gelten. Was nur im Reibungslosen wirken will, heißt Opportunismus. Auch wird die Aufweichung von Grundsätzen selten mit praktikablen Ergebnissen belohnt. Weil Karlsruhe – glücklicherweise! – nicht so weit gehen wollte, der Angst vor dem Terror auch die Menschenwürde zu opfern, bleibt der Abschuss von Passagiermaschinen mit Zivilisten an Bord verboten. Ein entführtes Flugzeug, so schlagen die Richter vor, solle von der Bundeswehr abgedrängt, zur Landung gezwungen oder mit Warnschüssen erschreckt werden. Man fragt sich unwillkürlich, ob das ernst gemeint ist. Zur Landung zwingen – wie das? Und werden sich zum Selbstmordattentat entschlossene Terroristen von Warnschüssen beeindrucken lassen?
Im Karlsruher Beschluss reproduziert sich ein Phänomen, das bislang vor allem der Arbeit von Regierung und Bundestag im Anti-Terror-Kampf anhaftet. Stück für Stück werden Grundsätze preisgegeben, die zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik gehören, ohne dass auf der anderen Seite ein nennenswerter Zugewinn an Sicherheit erzielt würde. Aus Angst vor dem Terrorismus wurden den Sicherheitsorganen viele Kompetenzen zugestanden, deren Nutzen bei näherer Betrachtung zweifelhaft ist. Unzweifelhaft ist allein die Freiheitsbeschränkung. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht dieser Tendenz entgegengewirkt. Die Botschaft aus Karlsruhe schien zu lauten: Auch Terrorismus rechtfertigt keinen schnodderigen Umgang mit der Verfassung.
Nun hat das Verfassungsgericht selbst bewirkt, was ihm sonst zur Überprüfung vorgelegt wird: eine Verschlechterung der Rechtslage ohne Verbesserung der Sicherheitslage. Anders als die Befürworter von innerdeutschen Kampfeinsätzen meinen, wurde mit dem neuen Urteil zum Luftsicherheitsgesetz weder Klarheit geschaffen noch eine Lücke geschlossen. Vielmehr hat Karlsruhe in eine recht eindeutige Situation – keine bewaffneten Streitkräfte im Inland außer bei Staatsnotstand – eine Lücke gerissen, die schwer zu kontrollieren sein wird. Denn im Ernstfall wird kein Gericht entscheiden, was eine „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ ist, sondern die Bundesregierung. Die Deutung wird unter enormem öffentlichen und zeitlichen Druck erfolgen, weil Notzuständigkeiten keinen Spielraum für eine sorgfältige Prüfung der Umstände gewähren. Im Nachhinein ist man dann klüger; im Nachhinein ist es aber auch zu spät.
Seit im Jahr 2006 das erste Urteil zum Luftsicherheitsgesetz erging, wurden sämtliche Richter des Ersten Senats ausgetauscht, bis auf Reinhard Gaier, der jetzt als einziger gegen den neuen Beschluss gestimmt hat. Das mag die abenteuerliche Kehrtwende erklären. Für die künftige verfassungsrechtliche Prinzipientreue im Kampf gegen den Terrorismus lässt es nichts Gutes ahnen. Die Richter fühlten sich nicht in der Lage, das düstere Szenario auszuhalten, welches dem Luftsicherheitsgesetz zugrunde liegt. Sie haben dem Grundgesetz eine Kompetenz entnommen, die nicht drinsteht. Der häufig gehörte Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht mache zu viel Politik, erhält mit diesem Urteil auf unerwartete Weise Nahrung: Karlsruhe zeigt Angst. Diese Angst war bislang keine Triebfeder der Rechtsprechung, sondern der Sicherheitspolitik.
Über dem Verfassungsgericht, sagen die Juristen, sei nur noch der blaue Himmel. Leider wird sich auch dort niemand bereitfinden, das unglückliche Urteil aufzuheben.
Das ist die Crux apokalyptischer Gedankenspiele: Sie behindern sachliches Denken
Die Schriftstellerin Juli Zeh, 38, ist promovierte Juristin. In ihren Werken setzt sie sich mit dem Verhältnis von Freiheitsrechten, Staat und Bürger auseinander. FOTO: DPA
Karlsruhe hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt.
Das Urteil bricht mit den Prinzipien der Verfassung – und macht das Land trotzdem nicht sicherer.
Von Juli Zeh
Süddeutsche Zeitung 1. September 2012
AUSSENANSICHT
Nun also hat die Bundeswehr den Segen des Verfassungsgerichts für Einsätze im Inland. Nicht nur, um Sandsäcke zu schleppen, sondern für echtes Hauen und Stechen. Und das nicht erst im Fall eines Staatsnotstands, sondern bereits bei „besonders schweren Unglücksfällen“ im Sinne von Artikel 35 des Grundgesetzes, also nach jener Vorschrift, von der es rund ein halbes Jahrhundert lang hieß, dass sie keine Erlaubnis für den Einsatz militärischer Mittel enthalte. So weit, so unerhört. Aber der Aufschrei blieb aus. Ein bisschen pflichtschuldige Berichterstattung und leises Gemecker. Regierung und Opposition verbuchen das Urteil als Erfolg. Man geht zur Tagesordnung über. Drei Tage später scheint die Angelegenheit vergessen.
Hallo? Da wurde eine heilige Kuh geschlachtet. Noch im Jahr 2006 hatte der Erste Senat bei Prüfung des Luftsicherheitsgesetzes betont, dass es dem Bund von der Verfassung her nicht erlaubt sei, „die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“. Sechs Jahre später gilt plötzlich das Gegenteil, wenn auch „in engen Grenzen“.
Die Rechtsprechung knüpft damit an eine unselige Entwicklung an. In jüngster Zeit scheinen Lehren, die aus der deutschen Vergangenheit gezogen wurden, an Wert zu verlieren. Vom deutschen Boden sollte kein Krieg mehr ausgehen – bis zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Menschen sollten niemals wieder aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit unter Generalverdacht gestellt werden – es folgten Rasterfahndung, Observation und Präventivgewahrsam für Moscheenbesucher. Und jetzt also der Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
Schon lange gibt es Politiker, die Soldaten gern auf Großdemonstrationen, in Fußballstadien oder bei der Bewachung von Bahnhöfen einsetzen würden. Von solchen Bestrebungen distanziert sich das Urteil. Ausdrücklich werden „Gefahren, die von einer Menschenmenge ausgehen“ ausgenommen. Den Richtern geht es um etwas anderes. Ebenso wie das Luftsicherheitsgesetz, welches zur Prüfung vorlag, ist auch das Urteil selbst eine Reaktion auf den 11. September 2001. Man stelle sich vor: Ein von Terroristen gekapertes Flugzeug rast auf den Berliner Reichstag zu. Unten steht die Luftabwehr der Bundeswehr und darf nicht eingreifen, weil das Grundgesetz den Gebrauch von Waffen auf deutschem Boden verbietet. Kann das angehen?
Die Erinnerung an die einstürzenden Türme von New York hat die Richter dazu verleitet, diese Frage mit „nein“ zu beantworten. Ebenso scheint es diese Erinnerung unmöglich zu machen, das Urteil grundsätzlich zu kritisieren. Das ist die Crux apokalyptischer Gedankenspiele – sie behindern das sachliche Denken. Vernünftig gedacht, ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Attentats seit dem 11. September 2001 nicht höher als zuvor. Trotzdem ist es heute schwieriger, auf dem kategorischen Verbot militärischer Einsätze im Inland zu bestehen. Als würde man damit vorab eine Mitschuld am Tod unschuldiger Menschen auf sich laden.
Das Wesen von Prinzipien besteht allerdings gerade darin, dass sie auch in schwierigen Situationen gelten. Was nur im Reibungslosen wirken will, heißt Opportunismus. Auch wird die Aufweichung von Grundsätzen selten mit praktikablen Ergebnissen belohnt. Weil Karlsruhe – glücklicherweise! – nicht so weit gehen wollte, der Angst vor dem Terror auch die Menschenwürde zu opfern, bleibt der Abschuss von Passagiermaschinen mit Zivilisten an Bord verboten. Ein entführtes Flugzeug, so schlagen die Richter vor, solle von der Bundeswehr abgedrängt, zur Landung gezwungen oder mit Warnschüssen erschreckt werden. Man fragt sich unwillkürlich, ob das ernst gemeint ist. Zur Landung zwingen – wie das? Und werden sich zum Selbstmordattentat entschlossene Terroristen von Warnschüssen beeindrucken lassen?
Im Karlsruher Beschluss reproduziert sich ein Phänomen, das bislang vor allem der Arbeit von Regierung und Bundestag im Anti-Terror-Kampf anhaftet. Stück für Stück werden Grundsätze preisgegeben, die zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik gehören, ohne dass auf der anderen Seite ein nennenswerter Zugewinn an Sicherheit erzielt würde. Aus Angst vor dem Terrorismus wurden den Sicherheitsorganen viele Kompetenzen zugestanden, deren Nutzen bei näherer Betrachtung zweifelhaft ist. Unzweifelhaft ist allein die Freiheitsbeschränkung. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht dieser Tendenz entgegengewirkt. Die Botschaft aus Karlsruhe schien zu lauten: Auch Terrorismus rechtfertigt keinen schnodderigen Umgang mit der Verfassung.
Nun hat das Verfassungsgericht selbst bewirkt, was ihm sonst zur Überprüfung vorgelegt wird: eine Verschlechterung der Rechtslage ohne Verbesserung der Sicherheitslage. Anders als die Befürworter von innerdeutschen Kampfeinsätzen meinen, wurde mit dem neuen Urteil zum Luftsicherheitsgesetz weder Klarheit geschaffen noch eine Lücke geschlossen. Vielmehr hat Karlsruhe in eine recht eindeutige Situation – keine bewaffneten Streitkräfte im Inland außer bei Staatsnotstand – eine Lücke gerissen, die schwer zu kontrollieren sein wird. Denn im Ernstfall wird kein Gericht entscheiden, was eine „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ ist, sondern die Bundesregierung. Die Deutung wird unter enormem öffentlichen und zeitlichen Druck erfolgen, weil Notzuständigkeiten keinen Spielraum für eine sorgfältige Prüfung der Umstände gewähren. Im Nachhinein ist man dann klüger; im Nachhinein ist es aber auch zu spät.
Seit im Jahr 2006 das erste Urteil zum Luftsicherheitsgesetz erging, wurden sämtliche Richter des Ersten Senats ausgetauscht, bis auf Reinhard Gaier, der jetzt als einziger gegen den neuen Beschluss gestimmt hat. Das mag die abenteuerliche Kehrtwende erklären. Für die künftige verfassungsrechtliche Prinzipientreue im Kampf gegen den Terrorismus lässt es nichts Gutes ahnen. Die Richter fühlten sich nicht in der Lage, das düstere Szenario auszuhalten, welches dem Luftsicherheitsgesetz zugrunde liegt. Sie haben dem Grundgesetz eine Kompetenz entnommen, die nicht drinsteht. Der häufig gehörte Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht mache zu viel Politik, erhält mit diesem Urteil auf unerwartete Weise Nahrung: Karlsruhe zeigt Angst. Diese Angst war bislang keine Triebfeder der Rechtsprechung, sondern der Sicherheitspolitik.
Über dem Verfassungsgericht, sagen die Juristen, sei nur noch der blaue Himmel. Leider wird sich auch dort niemand bereitfinden, das unglückliche Urteil aufzuheben.
Das ist die Crux apokalyptischer Gedankenspiele: Sie behindern sachliches Denken
Die Schriftstellerin Juli Zeh, 38, ist promovierte Juristin. In ihren Werken setzt sie sich mit dem Verhältnis von Freiheitsrechten, Staat und Bürger auseinander. FOTO: DPA