Klartexte 12: Der durchkreuzte Antizionismus
1984 Helmut Spehl Freiburg
Zu diesem Heft
Nur die Fülle führt zur Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.
SCHILLER (Spruch des Konfuzius)
Es war einmal wie im Märchen. Vor Tausend-und-einer Nazi-Nacht gab es, wie immer im einfältigen Zeitungswelttheater, die Guten, die unermeßlich gut, und die Bösen, die schrecklich böse waren. Aber am meisten war die Rede von den Bösen, und zu den Bösen gehörten nach Meinung der Juden in aller Welt, die auch damals so ziemlich die Zeitungsmeinung für alle Welt besorgten, die bösen Zionisten mit ihrer Idee vom Judenstaat. Und zu den noch Böseren, ach, man glaubt es kaum, gehörten in jener märchenhaften Zeit die zwielichtigen Lauergestalten der christlichen Zionsfreunde. Kurz und gut, man sagte diesen wie jenen mitten ins Gesicht, was man von ihnen hielt und was sie wirklich waren: Antisemiten halt, in zweierlei Gestalt. Und das kam so.
Ein kleiner Feuilletonredakteur der Wiener NEUEN FREIEN PRESSE, dessen paar Bühnendramen samt und sonders ohne das erträumte große Publikum geblieben waren, fand eines schönen Tages, er habe sich nun lang genug glücklos dem Theater hingegeben. Oh, nicht daß ihr glaubt, die vielen Redaktionskollegen wären nicht nachhilfsbereit gewesen, oh nein, daran hatte es ganz und gar nicht gefehlt. Er hatte ihre Theaterstucke gelobt und sie lobten seine, und hin und wieder signierte er seinen Sonntagsplausch mit “Kunz” oder “Nullus” und lobte sich und sein Theater ganz gehörig selber. Ja, so war das, und in Wahrheit war die Ernüchterung noch viel schmerzlicher, denn hätten die Wiener Herren Theaterdirektoren das Dramen schmiedende Kritikerkonsortium, einem Shakespeare oder Nestroy zuliebe, nicht so sehr fürchten und warmhalten müssen, sie hätten ganz gewiß kein einziges seiner Dramen je zur Aufführung gebracht. “Die Cassa ist in meiner Directionsära so heruntergebracht, daß ich ihr mehr als jährlich einen Herzl nicht zumuten kann”, flachste Burgtheaterdirektor Schlenther haarscharf an der Grenze, wo der Spaß für ihn aufhörte. [Zitiert nach DIE FACKEL Nr. 1,4 (Wien, Mitte Juni 1900), Seite 20] So war es also an der Zeit, daß der Feuilletonredakteur der NEUEN FREIEN PRESSE selber fand, er habe sich nun lang genug glücklos dem Theater hingegeben. Aber dafür fand er nun, daß er geradezu Talent zum großen Leitartikel und zum Welttheater habe. “Tatsachlich sind jetzt die Journalisten die einzigen Juden, die etwas von Politik verstehen. Der beste Beweis bin ich”, sagte er sich, [Theodor Herzl: Gesammelte zionistische Werke (Tel Aviv, 1931.). Tagebücher Band 1, Seite 93] und war darin nicht anders als die anderen Vertreter der hofierten Kaste. Aber seht nur, ganz im Geheimen fand er, daß er zu weit Größerem ausersehen war. Zu nichts weniger nämlich als zum – – König der Juden. “Ich bin darin noch immer der Dramatiker”, schrieb er in das dicke Tagebuch. “Ich nehme arme, verlumpte Leute von der Straße, stecke sie in herrliche Gewänder und lasse sie vor der Welt ein wunderbares, von mir ersonnenes Schauspiel aufführen. Ich operiere nicht mehr mit einzelnen Personen, sondern mit Massen: der Klerus, das Heer, die Verwaltung, die Akademie usw., für mich lauter Massenunitäten.”[Herzl, a.a.O., Tagebücher Band 1, Seite 75]. Oh, schaut her, er wollte mit der ganzen Judenwelt Theater spielen und ein Publikum gewinnen, das sonst nicht bei Judenstücken applaudiert.
Daß er in dem neu ersonnenen Staatsschauspiel den König spielen wollte, das druckte er freilich nicht auf das eilig herausgegebene Programm, aber seine Frau Gemahlin und die Mutter hatten wohl herumgeplaudert, und so ging man schon bald bei Redakteurs “zu Hofe” und aus Prinzenkindermund konnte man plappern hören: “Wenn Vater König sein wird, werden wir zur Schule gehen müssen?”[Kommentar]
Und was machten die Juden? Sie lachten – was denn sonst!
Seht doch, das wundersame Staatsschauspiel, mit leibhaftigen Gouvernanten und Hauslehrern im Wiener Heim und mit imaginären Untertanenmassen draußen im Wartesaal, wäre sicherlich zum köstlichsten Theaterreinfall der Saison geworden, wenn, ja wenn nicht die neiderfüllten Gojim, die zu kurz gekommenen Krämer-, Buchhalter- und Akademikerseelen, Morgenluft gewittert hätten. Sie waren es nämlich, die jetzt den Staats-Theaterjuden protegierten, der ihnen da aus heiterem Himmel herab die übertüchtige Judenkonkurrenz vom Halse schaffen wollte, sie waren es, die ihm Claqueure ins Parkett und in die Logen schickten, sie waren es, die ihm die Versatzstücke aus dem Schnürboden herunterließen und hinter den Kulissen für den Handlungsfortgang sorgten. “Eine Lösung ist’s, weil ich alle befriedige. Arme, Reiche, Arbeiter, Gebildete, Regierungen und antisemitische Völker”, dachte und merkte sich der sonst so einfallslose Dramenschmied [Herzl, a.a.O., Tagebücher Band 1, Seite 50]. Und da hatte er, fürs erste, gar nicht mal so unrecht.
Die Juden aber, die sich unversehens einer gotteserbärmlichen Allianz gegenübersahen, sie lachten nicht länger, sie redeten fortan Tacheles und nicht mehr Schmonzes. Weiß Gott, fortan ging’s, nach Begriffen von uns Heutigen, drunter und drüber wie im Märchenland der Kobolde und der Trollgestalten: “Wer sich auf den Standpunkt stellt, daß die nationale Verhetzung und der Rassenantisemitismus ein Verbrechen an der Kultur sind – und wer täte das nicht -, der muß auch den Bruder im jüdischen Gewand, den nationalen Zionismus, verdammen, weil er ebenso verderblich wirken muß wie jene”, so sagten die Juden und nahmen kein Blatt mehr vor den Mund [Der Zionismus, seine Theorien, Aussichten und Wirkungen (Berlin, o.J., ca. 1912). Siehe zu diesem Zitat und zum Folgenden den Nachdruck in diesem Heft, Seite 11 ff]. Den “Zwillingsbruder des Antisemitismus” nannten sie den Zionismus, und geradewegs vernichtet müsse er werden, weil er “eine Gefahr darstellt, eine unendliche Gefahr für das jüdische Leben, für die jüdische Gleichberechtigung, für die jüdische Einheit, für die jüdische Religion und damit für das Judentum selber und den Fortschritt der Weltkultur!” Jawohl, das sagten sie, so wurde es gedruckt und so kann man es noch heute in den alten Märchenbüchern lesen. “Der ganze Zionismus wird von ein paar Dutzend berufsmäßiger Schreier ‘gemacht’, aber das Gefährliche besteht darin, daß diese sich dort Gehör zu verschaffen verstehen, wo sie gehört sein wollen, nämlich bei den Judenfeinden aller Schattierungen.” Bei allen guten Geistern, ist das nicht märchenhaft? Aber damit nicht genug, sie sagten auch, der Zionismus kämpfe nicht nach altjüdischer Art mit der ritterlichen Waffe des Geistes, er kämpfe mit der wirksameren Waffe des Terrorismus. Hat man noch Worte? Wo doch die Begin und Schamir und die anderen Herren Terroristen mit Kabinettsrang gerade eben in der Wiege lagen, und es ihren palästinensischen Terrorismus noch gar nicht zu bekämpfen gab! Ja, so frisch und munter ging es zu im antizionistischen Märchenland der Juden, und der gescheiterte Bühnendramatiker sollte noch lernen, was ein richtiggehendes Drama ist.
“Mein wärmster Anhänger ist bisher – der Preßburger Antisemit Ivan v. Simonyi”, schrieb er ins dicke Tagebuch, und er klagte: “Die Sprache der antizionistischen Judenpresse, insbesondere JEWISH CHRONICLE und BLOCHS WOCHENSCHRIFT, übertrifft neuerlich alles bisher Dagewesene an Gemeinheit.”[Herzl, a.a.O., Tagebücher Band 1, Seite 354 und Tagebücher Band 2, Seite 243]. Ach, und die Herren Kollegen der NEUEN FREIEN PRESSE und der vielen, vielen anderen Blätter, die die Juden für die Gojim machten, sie lobten das neu ersonnene Schauspiel mit den kuriosen Massenunitäten diesmal wunderbarerweise nicht, sie schrieben nicht einmal darüber, durchaus nicht, so wahr ich lebe, nicht ein Wort davon. Sie schwiegen es, um nicht noch andere Gojim auf den zionistischen Geschmack zu bringen, ganz einfach mausetot. Ja, der Traum vom König der Juden war ausgeträumt. Seht, die Juden drüben in Osteuropa lebten ein Hundeleben, aber sie zogen nicht nach Palästina, ins Land der Träume ihres Königs; sie machten sich, wenn die Pogromnacht überstanden war, auf ins Gelobte Land Amerika. Unser armer Dramenschmied für zweierlei Theater sagte es ein bißchen anders, aber man konnte vorerst unbekümmert und zufrieden sagen: ‘Weil Ihr nicht wollt, ist es ein Märchen.'[Kommentar]
Aber ihr hättet die Gojim sehen sollen, wie sie keine Ruhe gaben, und wie sie darauf lauerten und sannen, dem Häuflein der unermüdlichen Zionisten unauffällig an die Hand zu gehen. Ihr hättet ihre vorgeschützten Gründe hören sollen und wie sie den Juden zuliebe christlich waren. Oh, ihr solltet einmal ihr wunderschönes Vorwandrepertoire studieren, das sie immer und immer wieder herunterleierten. Soll ich euch verraten, daß ihr sie, wenn ihr nur richtig hinhört, noch immer leiern hören könnt? Ja was glaubt ihr denn, so schnell ändert sich die Spezies Christenmensch doch nicht! Gott im Himmel, ihr hättet sie sehen sollen, wie sie auf der Hut sein mußten, damals, vor Anbruch der Nazi-Nächte, wo sie die Tarnkappen aus den Märchentagen vor lauter Finsternis dann nicht mehr brauchten. Ihr hättet erleben sollen, wie sie sich drehten und wendeten und den eingefleischten Antisemitenfleck unter den weißen Westen zu verbergen suchten. Aber ach, herrje, damals half alles Drehen und Wenden nichts, das war nicht so wie heute. Das war nicht wie im Kindermärchen vom Rumpelstilzchen, das sich unbekümmert freuen konnte, weil niemand, niemand wußte, wie es hieß. Die Zionsfreunde damals hatten wirklich allen Grund zum Klagen: ‘Ach wie dumm, daß jeder weiß, daß ich Antisemitchen heiß.’
Denn wer die Presse macht, der stimmt die Liedchen an, die dann die Spatzen von den Dächern pfeifen. Nicht nur wes Brot ich eß, nein, viel mehr noch: wes Preß ich les, des Lied ich sing. Und die Liedchen, die man im Märchen vor Tausend-und-einer Nazi-Nacht gesungen hat, das waren, weiß der Himmel, deftig zionsfeindliche Liedchen. Und wenn die alten Zeitungsmacher und die alten Leser nicht gestorben wären, ich meine in den Gaskammern gestorben wären, das antizionistische Judenmärchen wär immer noch nicht zu Ende.
Ich bringe dieses Heft heraus und ich sage dies alles für den Fall, daß die hiesigen Leidtragenden des nahöstlich nahen Welttheaters noch zu ihren Lebzeiten, und dann sicherlich auf abenteuerlichen Wegen, der zutreffenden Idee näher kommen, daß die Weltwirtschaftskrise unserer Tage mit der sogenannten Energiekrise, und die “Energiekrise” mit dem Judenstaat zusammenhängt, der mit Christenhand auf Araberland verbrochen wurde. Noch bestaunt man Herzls seherischen Blick, aber die wirklich vorausschauende Formulierung fürs Tagebuch wäre doch gewesen: ‘Eine Endlösung ist’s, weil ich alle in Mitleidenschaft ziehe. Arme, Reiche, Arbeiter, Gebildete, Regierungen und antisemitische Völker’. Denn die Verhältnisse, die sind doch so, daß vor ziemlich genau zehn Jahren die heillos verwickelte und zerredete Geschichte unversehens höchst einfache, wuchtige Konturen annahm. Man war in schlaftrunkenem Zustand plötzlich genötigt, die Medienweltmacht Israel gegen die Energieweltmacht Arabien auszuwiegen. Und man hat gewogen und beide für erdrückend schwer befunden. Aber in der Eile hat man die eine für leichter gehalten. Man hat mit dem saloppen Slogan “Weg vom Öl!” – vom arabischen Öl natürlich ein phantastisches Energie-Umrüstungsprogramm in Gang gesetzt, das Unsummen verschlingt und Wirtschafts- und Gesellschaftsfolgen hat, die schier nicht mehr zu verkraften sind. Noch kann man sagen, daß die Reichen bloß schlanker werden, aber die Armen, die Armen in aller Welt verhungern bereits. Ich meine, man wird gewiß nicht für alle Zeiten die lapidare Wahrheit hinter dem Schuldenberg halten können, daß die Erschöpfung der Welt mit der Erschaffung des Zionistenstaates zusammenhängt, und diese mit der Wegschaffung der Juden [Kommentar]. In dieser scheußlichen Lage ist leider nicht auszuschließen, daß die bequemere Hälfte dieser Wahrheit unters Millionenheer der Arbeitslosen kommt und in die Villen der Arbeitgeber dringt, über denen längst die Pleitegeier kreisen. Und wenn es dann noch ein bißchen schlimmer kommt, wenn der Zweckoptimismus der Kurpfuscher und die privaten Reserven verbraucht sind, werden sie dann nicht alle miteinander nach Väter Sitte dem nächstbesten Abenteurer folgen, der herumplärrt: “Die” Juden sind an allem schuld? Das muß durchaus nicht bei uns, das kann auch im nasgeführten Amerika passieren. Und wird es dann noch, wenn schon die Scheiben klirren, den geringsten Sinn haben, dem Nachdenk-Ausschuß der Christenheit zuzurufen: “Die” Juden wollten ja nicht, ihr habt es doch gewollt!
Freiburg, 16. April 1984 H. S.
Die folgenden Seiten enthalten Auszüge vom Nachdruck einer Broschüre des “Antizionistischen Komitees” Berliner Juden nach dem Original im Archiv des Herausgebers. Das Erscheinungsjahr ist nicht genannt; verschiedene Textstellen weisen auf das Jahr 1912. Die Broschüre ist für einen Nachdruck in diesem Heft deshalb besonders geeignet, weil sie in knapper Form die typische antizionistische Argumentation westlicher Juden in der Zeit von etwa 1896 bis 1917 wiedergibt. Auslassungsstellen sind markiert.
Schriften zur Aufklärung über den Zionismus Nr. 2
Der Zionismus, seiner Theorien, Aussichten und Wirkungen
Herausgegeben vom Antizionistischen Komitee, Berlin
Vorwort
Nachstehende Ausführungen sind eine Zusammenfassung der wichtigen Punkte, die die Gefahr des Zionismus für das Judentum beleuchten. Sie stützen sich – außer auf zahlreiche Artikel zionistischer und gegnerischer Zeitschriften – auf die ausführlichen Darlegungen von H. Vogelstein („Wegen des Zionismus“ und „Der Zionismus, eine Gefahr für die gedeihliche Entwicklung des Judentums“), F. Goldman („Zionismus oder Liberalismus, Atheismus oder Religion“), Breuer („Nationaljudentum ein Wahnjudentum“) und M. Güdeman („Nationaljudentum“).
1. Die Entstehung des Zionismus
Das Judentum stellt nur ein Glied der allgemeinen Kultur- und Menschlichkeitsgeschichte dar. Mag es auch oft mehr als andere Gebilde in seiner augeprägt selbständigen […]-entwicklung als ein streng gegen die Außenwelt abgeschlossenes kleines Ganze erschienen sein, so schlagen doch in seine Kreise die Wellen der großen Welt hinein und beeinflussen sseinen äußeren Entwicklungsgang. Zu dieser selbstverständlichen Tatsache gesellt sich aber noch eine von noch grösserer Tragweite. Denn in den geistigen Bewegungen, von denen das Judentum innerlich erfüllt ist, spiegelt sich die äußerliche Lage ganz getreulich wieder. Nicht etwa, als ob eine Besserung in den äußerlichen Verhältnissen stets Hand in Hand ginge mit einer gesteigerten Intensität des geistigen Lebens und einer optimistischen Auffassung der Lebensprobleme. Das Gegenteil ist oft der Fall. Eine Regel läßt sich über diese Zusammenhänge überhaupt nicht aufstellen, aber sie sind vorhanden, stets konkret nachzuweisen, und daran muß man denken, wenn man jene Bewegung kritisch betrachten will, die – an den alten, heiligen Namen sich klammernd – sich Zionismus nennt. Nur aus den geistigen Strömungen, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die allgemeine Geschichtsbetrachtung beeinflußten, verbunden mit der wirtschaftlichen und politischen Lage der verschiedenen Glieder der Judenheit, ist der Zionismus, ein Versuch zur Lösung der Judenfrage, seinem Wesen und seinen Zielen nach zu verstehen.
Das allgemeine Schicksal des Judentums am Ende des verflossenen Jahrhunderts unterscheidet sich – wenigstens was die Massen anbetrifft – nur sehr unwesentlich von den finstersten Zeiten des Mittelalters. Jene wesentliche Zeit, den die russische Judenheit mit ihren rumänischen und galizischen Anhängseln darstellt, saß und sitzt in unendlicher wirtschaftlicher und geistiger Not. Ein Netz von Staatsgesetzen, daß tagtäglich dichter wird, raubt ihm eine wirtschafliche Existenzmöglichkeit nach der anderen, im schweren Lebenskampfe ist das geistige Interesse fast erlahmt, und seine letzten Reste verzehren sich in Aberglauben und Mystik. Die ewige Furcht vor blutgierigen Verfolgern hat das Aufrechte und Selbstbewußte des Charakters verloren gehen lassen, und besonders für Russland, wo man sich in die schlimmsten Zeiten eines erbarmungslosen Mittelalters zurückversetzt fühlt, kann mann, ohne ein Prophet zu sein, voraussagen, daß sich trotz des heute gewiß vorhandenen geistigen Lebens eine wirtschaftliche, geistige und moralische Katastrophe vorbereitet, die das Judentum in seinen Grundwerten (?) erschüttern muß, wenn nicht eine Wendung eintritt. Ein anderes kam dazu, um die Lage noch verzweifelter zu machen. Die entwickelten Verkehrsverhältnisse einer neuen Zeit, die de Volksmassen Beweglichkeit erhöhen, schienen anfänglich auch den Juden zu gute zu kommen, und in der Auswanderung meinte man ein Mittel gefunden zu haben, daß dem in die Fremde ziehenden Teile völlige Freiheit, Sicherheit und Brot, dem zurückbleibenden Luft und etwas Bewegungsmöglichkeit verschafft. Aber abgesehen davon, daß Auswanderung nie das Problem für eine so grosse kompakte Masse lösen konnte, begann sich das gelobte Land der Freiheit, Nordamerika, und mit ihm die alte Hochburg der Toleranz, England, gegen den Zuzug der Ostjuden energisch zu wehren und machte es die Niederlassungserlaubnis von Bedingungen abhängig, denen nur ein geringer Teil der Auswanderer genügen konnte. So wurde auch dieser Rettungsweg, sofern er überhaupt einer war, erschwert und versperrt.
(…)
Zu solchen Zeiten ersteht ein Pseudomessias, in jedem Zeitalter in einem anderen Gewande. In ganz moderner Gestalt erhob er sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit verführender und fanatisierender Kraft. Der Pseudomessias nannte sich diesesmal Zionismus!
Als angebliche Rettung aus aller Gefahr trat eine Bewegung auf den Plan, welche für die so vielfach verzweigte Judennot ein einheitliches Entstehungsprinzip gefunden zu haben sich rühmte und kündete, alles Elend komme daher, das die Judenheit sich national auflöse. Sie behauptete, das Judentum sei stets eine Nation gewesen, sei es heute noch, und die Assimilation an die Kultur der anderen Nationen sei eine Verschwendung und Vernichtung der besten Kräfte, stelle einen schmählichen Verrat an dem Wesen und der Zukunft des Judentums dar, habe zudem nie etwas anderes gezeitigt als Unglück und Verfall. Das ganze Unglück rühre daher, daß dieser Nation ein Mittelpunkt, ein territorialer und geistiger Mittelpunkt, fehle, und diesen gelte es darum zu schaffen. Nur dann werde die Judenheit ein erträgliches Los haben, wenn das nationale Moment in den Vordergrund gestellt werde und sich Geltung verschaffe, wenn alle nationalen Kräfte zusammengeführt würden und auf dem geheiligten Boden der Väter eine Zuflucht geschaffen sei, die einerseits dem gehetzten Judenvolke eine rechtlich gesicherte Heimstätte gewähre, wo es seiner Individualität gemäs leben und sich betätigen könne, von der andererseits eine geistige Belebung aller jüdischen Werte ausgehen werde. Einen „Judenstaat“ verlangte der edle Theodor Herzl in seinem Buche, das den gleichen Titel trägt und seinem dichterichen Können ebenso Ehre macht wie seinem Idealismus. Dieser Mann, der ein warmes Herz hatte für die Leiden seiner Brüder, der ein ehrlicher und ehrenhafter Idealist von reiner Gesinnung war, ist es, der der neuen Bewegung einen idealen Impuls gab. Er hat aber das tragische Schicksal gehabt, daß sich an seinen Namen eine pseudomessianische Bewegung häßlichster Natur knüpft und daß mit seinem Namen geschäftsmässige Schreier, gewissenlose Demagogen und unwissende Phantasten ihre wenig idealen Motive und Ziele decken.
Wie war es nun gekommen, daß eine pseudomessianische Aktion gerade ein solches Gesicht annahm, daß sie sich auf einen Gedanken aufbaute, der dem Judentum absolut fremd war und einer zweitausendjährigen Entwicklung widersprach, die nur Religion und wieder Religion gefordert und gefördert hatte. Hat dieser nationale Gedanke vielleicht doch irgend eine Grundlage in jüdischen Anschauungen, gibt es irgend ein Analogon oder einen Vorläufer in der jüdischen Geschichte? Es ist das nie und nirgends der Fall gewesen! Gewiß kann man oft genug auf Bewegungen hinweisen, die die Rückkehr nach dem heiligen Lande ersehnten, aber noch niemals war man vom prophetischen Wege abgewichen, nie hatt man etwas anderes erträumt als in erster Reihe die Wiedererrichtung des Tempels und den Sieg der Religion! Im Zionismus war etwas völlig Neues, etwas ganz Fremdes aufgetreten. Nicht an die religiösen Gefühle appellierte er, sondern an die nationalen, nicht handelte es sich um die Errichtung des Tempels und die Herbeiführung des Gottesstaates, sondern um den Aufbau eines nationalen Staatswesens, wie andere es auch waren, ohne das von dem Siege der Religion auch nur die Rede war! Hier war nicht das ideale religiöse Moment in die Wagschale geworfen, denn um Glaubensfragen handelte es sich nicht, an sie dachte keiner. Es war de Judenfrage einfach zu einen politischen und wirtschaftlichen Problem degradiert, ein völliges Novum für jeden, der die jüdische Geschichte nicht mit Schlagworten abtat, sondern sie studierte.
Auf jüdischen Boden war der neue Messias nicht groß geworden, aber trotzdem liegt sein Ursprung vor aller Augen offen zu Tage. Daß diese neue Judenrettungsaktion eine spezifisch nationale Färbung annehmen musste, liegt einfach daran, daß sie ein Kind des nationalistischen neunzehnten Jahrhunderts ist. Hier spielt eben die seltsame Richtung, die die geistige Entwicklung unserer Zeit aufweist, in die innere Geschichte des Judentums hinein. In dem merkwürdigen Buche von H. St. Chamberlain über die „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, einem Hohenliede der dilettanenhaften Oberflächlichkeit und der hohlsten Selbstüberhebung spiegelt sich, sowohl was die Form wie die materielle Seite betrifft, am deutlichsten jene bequeme Weltanschauung wieder, die unsere Zeit beherrscht. Sie verachtet die individuelle Arbeit an sich selber und die persönliche Tüchtigkeit, sie erwartet alles Heil nur aus der Rassenveranlagung, die wie ein unabänderlichees Fatum des Menschen Denken und Handeln leitet und beherrscht. Es gibt hervorragende und inferiore Rassen. Unter jenen soll die germanische die erste, unter diesen die jüdische die letzte sein! Jene sei der Inbegriff aller Erhabenheit, Großzügigkeit und Tugend, diese dagegen der Tummelplatz aller Laster und jeder Niedrigkeit. Das Glied der germanischen Rasse, das nichts leiste, sei immer noch erheblich besser als der hervorragende Semit. Wir können und wollen dieser Geistesrichtung nicht in ihre Einzelheiten verfolgen, uns nicht die Mühe geben, ihre offenbaren Fehler aufzudecken. Aber es ist klar, daß dieser Rassenwahn, die künstlich gezüchtete Rassenüberhebung der Betrachtung der Judenfrage neue Wege ebnete und dem Judenhasse eine ganz neue Richtung gab.
Der Antisemitismus des Mittelalters war vorwiegend – man braucht andere Momente, die mehr oder weniger bewusst mitklingen, nicht zu verkennen und abzuleugnen – Religionshaß; die Emanzipation und das Eindringen der Juden in das Wirtschaftsleben ließ auch die wirtschaftliche Seite des Judenhasses weit stärker hervortreten. Der Antisemitismus unserer Tage ist aber Rassenhaß! Und das bedeutet eine völlige Umwertung und eine gewaltige Vertiefung. Religiöse und wirtschaftliche Judenfeindschaft sind mehr äußerlicher Natur, sie gelten der Anschauung und dem Wirken, nicht aber der Person. Rassenantisemitismus jedoch zielt auf den Menschen persönlich. Er hat aus einer Gegnerschaft, bei der beide Seiten sich durch Argumente zu überzeugen suchten, einen Asemitismus gemacht, der Verachtung des minderwertigen Juden und völlige Trennung von ihm auf allen Gebieten der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens eindringlich predigt. Mit welchem Erfolge ist bekannt! Wenn das „völkische“ Moment eine Bedeutung erlangt hat, der gegenüber alles andere, Verdienste, Tugenden, Streben und Gesinnung nichts gelten, wenn der Jude geächtet wird, wenn man ihn zu einer Pariastellung herabdrücken will, so ist das ein Erfolg, den die nationale Weltanschauung, der chauvinistische Rassenwahnsinn unserer Tage, in emsiger Arbeit errungen hat.
Und dieser chauvinistische, nationale Rassenwahn ist die theoretische Grundlage, der geistige Nährboden des Zionismus! Ihm hat er die spezifischen Züge seines Wesens und seiner Wirksamkeit entlehnt ! Schon das Aussprechen dieser unbestreitbaren und unbestrittenen Tatsache enthält die vernichtendste Kritik dieser pseudomessianische Bewegung. Mit aller Deutlichkeit muß man es sich bis in die letzten Konsequenzen ausmalen, was es für das Wesen und die Erscheinungsformen des Zionismus bedeuten muß, daß er auf demselben Sumpfboden erwachsen ist wie der Rassenantisemitismus, diese Geissel, under der wir Juden so entsetzlich leiden. Und es ist immer dasselbe Wasser, mag es nun arisch-antisemitisch, mag es jüdisch-national gefärbt sein, das aus einem vergiftenen Brunnen stammt, und das keine Färbung der Welt zu einem gesunden Tranke machen kann. Wer sich auf den Standpunkt stellt, daß die nationale Verhetzung und der Rassenantisemitismus ein Verbrechen an der Kultur sind – und wer täte das nicht – der muß auch den Bruder im jüdischen Gewande, den nationalen Zionismus verdammen, weil er ebenso verderblich wirken muß wie jene.
II. Das Wesen des Zionismus
[…]
c) Zionismus und Assimilation
Vielleicht hält sie auch der Zionismus im Grunde seines Herzens nicht für echt jüdisches Gut, aber eine Eigenschaft besitzen sie jedenfalls: Sie sind fremdartig! Und gerade das paßt in die Ziele und Zwecke des Zionismus vortrefflich hinein. Denn das Fremdartige bevorzugt er sehr. Wie der Antisemitismus macht auch er ja die Scheidung zwischen jüdisch und deutsch, und wie jener zieht auch er eine reinliche Scheidung einem verständnisvollen Zusammenarbeiten vor. Kann es nicht echtes nationales Gefühl sein, das dies bewirkt, so soll es wenigstens das der Rassenverhetzung und der gegenseitigen Verbitterung sein. Das – so hofft er – führt vielleicht einmal zum Nationalgefühle, und das muß gepflegt werden, indem die Mauern immer höher aufgerichtet und jede Verständigung unmöglich gemacht, indem jede Brücke zwischen Christen und Juden abgebrochen wird. Als Unterlage und Vorschule für den künftigen Nationalstaat sucht der Zionismus langsam aber folgerichtig ein geistiges Ghetto zu errichten, und die bewusste Umdenkung von tadelswerten Ghettoeigentümlichkeiten in jüdische Kulturwerte ist eine Stufe auf dem Wege zu dieser Tiefe. Hier bewährt sich wieder die Verwandschaft mit dem Rassenantisemitismus, denn ihn zieht er als Eideshelfer heran, wenn er beweisen will, daß zwischen Christen und Juden, zwischen „Ariern“ und „Semiten“ keine, auch keine Verbindung möglich sei.
Diese Assimilantenhetze des Zionismus ist demnach durchaus nicht so harmlos, wie man anfangs meint. Sie stellt einen Ausfluss jener systematischen Versuche dar, die darauf zielen, den Juden langsam aus dem Zusammenhange mit der Weltkultur zu entfernen, ihn gegen den Andergläubigen und diesen gegen ihn zu verhetzen. Die Vortäuschung von jüdischer Eigenkultur hat den Zweck, dem Juden die Freude an der Kultur seines Vaterlandes zu rauben, mit der ihn seine und seine Vorfahren langjährige Arbeit verbindet, für die er gewaltige Opfer an Gut und Blut gebracht hat. Was gibt der Zionismus uns dafür ? Nichts, und wieder nichts ! In bestem Falle etwas Ghettokultur, Sklavensinn, den wir schon lange überwunden zu haben glaubten.
Der Antisemitismus behauptet, wir seien keine Deutsche, wir seien Fremde, wir hätten kein Verständnis für deutsche Kultur, keinen Anteil an ihr! Der Zionismus gibt ihm freudig recht! Uns anderen bedeutet die Tatsache, daß der haßerfüllte Rassenantisemitismus diese verkündet, nur den Beweis, daß jene verletzende und frivole Meinung falsch ist. Wir werden uns nicht beirren lassen in unseren Wege weder durch den Haß der Judenfeinde noch den Hohn unserer zionistischen Brüder. Wir werden nicht ermatten, weder im Kampfe um unsere Anerkennung als Deutsche, noch in dem Bestreben, uns der deutschen Kultur in allem, was nicht Religion ist, völlig anzupassen. Das wollen wir freudig tun, selbst auf die Gefahr hin, daß der zionistische Sprachschatz ein noch schlimmeres Schimpfwort gebiert, als es in seinen Augen der Ausdruck „Assimilant“ bereits ist.
[…]
Auch hier zeigt sich eben wieder die Erscheinung, daß ihm der Rassenantisemitismus unanfechtbare Authorität ist. Deutschtum ist ihm eben Deutschtum im Sinne unserer Rassenchauvinisten. Jede Forderung und Anschauung der alldeutschen Clique über Vaterlandsliebe ist dem Zionismus ein Evangelium. Daß nur der christlische, rassenreine Arier das Recht hat, deutsch zu fühlen, sich deutsch zu betätigen, sich deutsch zu nennen, ist ihm ganz selbstverständlich. Wenn der alldeutsche Rassenwahn den Juden einen Fremdling nennt und ihm die Berechtigung abspricht, an deutscher Kultur mitzuarbeiten, dann klatscht er entzückt Beifall. Jede Äusserung, die den Gegensatz zwischen Deutschtum und Judentum betont, wird jubelnd begrüsst und registriert, und die Aussprache, die sich vor kurzer Zeit im „Kunstwart“ an einen Aufsatz Moritz Goldsteins knüpfte, spricht nach dieser Richtung hin Bände.
[…]
Wenn jüngst die Zionisten in Posen einen Beschluss gefasst haben, daß jeder Gesinnungsgenosse sich in Palästina Interessen schaffen solle, so mag man über solche hohlen Demonstrationen lächeln; aber es steckt ein ernster Kern nicht nur in dem Spott, der sich über unsere deutsche vaterländische Gesinnung ergiesst, sondern auch in dem Jubel, mit dem man die antisemitische Fremdentheorie begrüsst, die das Ziel der Zionisten, das Schwergewicht der Lebensinteressen allmählich nach Palästina zu verlegen, nur fördern kann. Denn alles geht auf eine systematische Entfremdung vom deutschen Vaterlande aus, die Zionisten schüren das Gefühl der Fremdheit und damit das der Gleichgültigkeit, sie schaffen künstlich den Spalt, den der Antisemitismus so gern haben möchte und den er darum als gegeben voraussetzt.
Man braucht ja auf die Außenwelt nicht zu achten. Aber etwas bedenklich stimmt es doch, wenn die Judenfeinde aller Schattierungen – vom vornehmen Salonantisemiten der „Täglichen Rundschau“ bis hinab zu Leuten vom Schlage der „Wahrheit“ – den Zionismus freudig begrüssen und in Nationaljuden die einzigen anständigen Juden erblicken. Ihre Gründe sind klar und logisch, sie wittern Morgenluft ! Der Zionismus arbeitet, gewiß ohne Absicht, ihnen in die Hände und ebnet ihnen, indem er die Kluft zwischen Juden und Christen immer mehr vertieft, den Weg zu einem fernen lockenden Ziel. Und dieses Endziel heisst: Aufhebung der Emanzipation, Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden!
e) Zionismus und Gleichberechtigung
Ja, das ist der letzte Wunsch des gesamten Antisemitismus: Die Gleichberechtigung soll aufgehoben werden! Und wenn er in dem zähen Ringen um diese Errungenschaft den Zionismus lobt und streichelt, wenn er ihn als einzig berechtige Form des Judentums ansieht, so beweist er seine Klugheit und Folgerichtigkeit. Denn der Zionismus mach sich – ganz gewiß unbewußt und wider Willen – zum willkommenen Handlanger aller jener Mächte der gehässigen Reaktion, die den Juden zum verachteten Paria herabdrücken wollen.
[…]
Noch einige Jahrzehnte zionistischer Erfolge in der jüdischen Jugend, und die Regierungen werden mit Recht darauf hinweisen können, daß die Juden keinen inneren Beziehungen zu dem Gedeihen des Vaterlandes haben, daß sie fremd fühlen und denken, fremde Interessen haben, und dann wird man mit vollem Rechte die Gleichberechtigung solcher Bürger antasten dürfen. Warum soll man auch dem Juden, der sich außerhalb des Deutschtums gestellt hat, mehr Rechte und Freiheiten gewähren als einem Franzosen oder Chinesen, der sich hier fremd fühlt? Der Jubel des Antisemitismus, seine Anerkennung für den Zionismus ist auch in dieser Hinsicht begreiflich und selbstverständlich, denn auch hier arbeitet er ihm glatt in der Hände. Nur ein guter Deutscher hat ein Anrecht auf Gleichberechtigung im deutschen Vaterlande. Ist der Jude kein Deutscher vom ganzen Herzen und mit voller Begeisterung, so hat er sein Anrecht verwirkt!
[…]
Die folgenden Seiten, die die christliche Förderung des Zionismus zu einer Zeit beleuchten, zu der die deutschen Juden (und die Juden überhaupt) bis auf eine winzige Minderheit antizionistisch oder nichtzionistisch eingestellt waren, sind dem Keren Hajessod – Jahrbuch 1955/1965 entnommen. Sie erfüllen dort, in einer offiziellen Publikation der zionistischen Spenden-Organisation, eine Funktion, die derjenigen in diesem Heft selbstverständlich genau entgegengesetzt ist. Im Zusammenhang dieses Heftes gelesen, werden die Ausführungen von Hermann Pünder, dem Chef der Berliner Reichskanzlei von Mai 1926 bis Juni 1932, freilich eine andere Färbung annehmen.
Das wenig bekannte “Pro Palästina-Komitee”, um das es dabei geht, kann durchaus als eine Art offiziöse deutsche “Balfour-Deklaration” angesehen werden. Dies geht nicht nur aus einigen Sätzen im “Gedenkwort” von Pünder hervor. Die Mitgliedschaft eines ehemaligen Reichskanzlers (Müller), mehrerer Staatssekretäre und anderer hoher Regierungsbeamter, sowie zahlreicher Reichstagsabgeordneter verschiedener Parteien, hat dem “Pro Palästina-Komitee” tatsächlich quasi offiziellen Charakter gegeben, wogegen von nichtzionistischer jüdischer Seite scharf protestiert wurde.
Die Mitgliedschaft der Handvoll deutscher Juden, von denen die meisten nicht zur eigentlichen zionistischen Führungsschicht gehörten, erscheint bei kritischer Durchsicht der Liste der Komitee-Mitglieder fast wie ein gesichtswahrendes Anhängsel. Ein meßbarer Erfolg war dem “Pro Palästina-Komitee” nicht beschieden [Der von Staats wegen forcierte Aufschwung des Zionismus In Deutschland begann erst 1933, als alte Biedermännermasken und Gesellschaftsschranken fielen. Der Leser sei dazu auf den Artikel von Klaus Polkehn in KLARTEXTE 9 hingewiesen].
PROGRAMM
des Deutschen Komitees Pro Palästina vom 15. Dezember 1926
Das Deutsche Komitee Pro Palästina zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung wird in der Überzeugung, daß der Aufbau der im Palästinamandat vorgesehenen Heimstätte für das jüdische Volk als ein Werk menschlicher Wohlfahrt und Gesittung Anspruch auf die deutschen Sympathien und die tätige Anteilnahme der deutschen luden hat, bemüht sein, die deutsche Öffentlichkeit über das jüdische Kolonisationswerk in Palästina aufzuklären, die Beziehungen zwischen Deutschland und Palästina zu pflegen und allgemein die Erkenntnis zu verbreiten, daß das jüdische Aufbauwerk in Palästina ein hervorragendes Mittel für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Orients, für die Ausbreitung deutscher Wirtschaftsbeziehungen und für die Versöhnung der Völker ist.
EIN GEDENKWORT
zum 40. Jahrestag der Gründung des Pro Palästina-Komitees
Von Hermann Pünder*
*Entnommen aus: ISRAEL UND WIR. Keren Hajessod-Jahrbuch der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland 1955-1965. Herausgegeben von Mendel Karger-Karin (Frankfurt, 1966), Seite 70.
Es ist schon ziemlich lange her, als in Berlin das “Pro Palästina-Komitee” gegründet wurde. Seines Gründungsjahres 1926 entsinne ich mich deshalb noch so genau, weil die Gründung ziemlich zur gleichen Zeit erfolgte, da ich als damals jüngster Staatssekretär von Hindenburg zum Chef der Reichskanzlei berufen wurde. Da ich damals vorher und nachher amtlich lange Jahre in der Berliner Wilhelmstraße habe wirken dürfen, war mir die Schichtung der Bevölkerung in unserer Reichshauptstadt nach jeder Richtung hin recht gut bekannt. Juden gab es damals in Berlin eine ganze Menge. Aber die große Mehrheit wollte von dem alten Glauben ihrer Väter nicht mehr viel wissen. Diese betrübliche Erscheinung reichte schon Jahrzehnte bis in das Wilhelminische Zeitalter zurück, als die jüdische Geldaristokratie so manches Wappen ostelbischer Junker durch Heirat vergoldete, aber darüber das Gold echten Judentums verloren ging.
Gottlob hatte ich aber in meinen Jünglingsjahren auch noch echtes, gläubiges Judentum kennen gelernt, und zwar als Frontsoldat im ersten Weltkrieg in Polen. Den Juden war es unter den Zaren nie gut gegangen und erst recht jetzt nicht mit all der Not, den Drangsalen und den Verlusten, die der über ihre Heimat sich hinwälzende Krieg über sie hereinbrechen lies. Und dennoch: Die durchweg gläubigen Juden in Russisch-Polen hielten fest an den Traditionen ihrer Väter, standen in Familie und Gemeinschaft treu zusammen, halfen sich gegenseitig, feierten ihren Sabbath, so gut es in diesen Kriegszeiten eben noch ging, und traten auch uns Feldgrauen mit gemessener Freundlichkeit gegenüber.
Diese wertvollen Eindrücke werde ich zeitlebens nicht vergessen, und so freute ich mich ehrlich auch über die Balfour-Deklaration von 1917, von der die Kunde sogar bis in unsere Schützengräben drang. Mit gleichgesinnten Kameraden begrüßte ich sehr diesen großzügigen Plan, den Juden aller Länder und Stände in Palästina, der Heimat ihrer Väter, eine neue Heimstatt zu schaffen [Es durfte nicht gerade häufig vorkommen, daß sich Frontsoldaten ehrlich über Erklärungen des Kriegsgegners freuen und dazu noch gleichgesinnte Kameraden finden, die den großzügigen Plan eines Landes, das sie mit dem Schützengrabenfluch “Gott strafe England” zum Teufel wünschen, sehr begrüßen – H.S.]. Im folgenden Jahrzehnt ging der Kampf über diesen Plan vor allem in Berlin und vor allem auch innerhalb der Judenheit hin und her. Die Zionisten hatten es schwer. Dann tauchte eben im Jahre 1926, von dem ich eingangs schon sprach, der Gedanke der Gründung eines Pro Palästina-Komitees auf, in dem neben zionistischen Juden gerade auch Nichtjuden, und zwar möglichst aller sozialen, politischen, kulturellen usw. Richtungen sich zu gemeinsamem geistigen Kampf “Für Palästina” zusammenfinden sollten. Damals lernte ich Kurt Blumenfeld kennen, den begeisterten und unermüdlichen Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. In den Monaten, die der Gründung des “Pro Palästina-Komitees” vorangingen, hatte ich mehrfach die Freude, Herrn Blumenfeld in der Reichskanzlei zu empfangen. Bei solchen Gelegenheiten lernte ich auch die Berliner Rechtsanwälte Dr. Martin und Dr. Felix Rosenblüth kennen. Den letzteren sah ich zu meiner großen Freude vor einigen Jahren in Jerusalem als Justizminister des Staates Israel wieder.
Bei diesen Vorbesprechungen mit den jüdischen Herren erklärte ich mich alsbald gern bereit, dem Komitee beizutreten. Diesen immerhin für mich in meiner damaligen hohen amtlichen Stellung bedeutsamen Entschluss hatte ich ohne jeden Auftrag, ja nicht einmal auf irgendeine Anregung hin, sondern rein aus freien Stücken gefaßt [Diese Darstellung aus dem Jahre 1966 ist nicht ohne weiteres mit den beiden ersten Sätzen aus dem Jahre 1926 in Einklang zu bringen, die Pünder aus seinem Brief an die “Vereinigung für das liberale Judentum” weiter unten zitiert – H.S.]. Für die zionistische Bewegung war es natürlich auch recht bedeutsam, daß der Chef der Reichskanzlei sich dadurch vor aller Öffentlichkeit zu ihr bekannte. Die konstituierende Sitzung des Komitees fand am 15. Dezember 1926 statt, von der erfreulicherweise noch ein hübsches Photo existiert. Auf ihm sind drei Dutzend angesehener Persönlichkeiten des damaligen öffentlichen Lebens zu sehen. Tatsächlich waren es aber noch recht erheblich mehr, wie ich mich genau erinnere. Vielleicht waren sie an diesem Abend gerade verhindert. Vor allem erinnere ich mich noch genau, daß auch die beiden Oberbürgermeister Adenauer (Köln) und Brauer (Altona) zu unserem Freundeskreis gehörten. Herrn Blumenfeld und seinen engsten Mitarbeitern war es gelungen, als Präsidenten den hochangesehenen Grafen Bernstorff zu gewinnen. Er war der letzte Kaiserliche Botschafter in Washington gewesen und jetzt demokratischer Reichstagsabgeordneter [Kommentar]. Schon allein durch seine Persönlichkeit gab er dem Komitee ein zusätzliches Relief. Dem zwölfköpfigen Präsidium gehörten außer dem Grafen noch fünf weitere führende Reichstagsabgeordnete an, und zwar Prälat Prof. Dr. Kaas (Zentrum), Dr. Breitscheid (SPD), Prof. Dr. Hoetzsch (DNVP), Dr. von Kardorff (DVP) und Prof. Dr. Bredt (WIP). Von all diesen wertvollen Persönlichkeiten lebt heute niemand mehr [Kommentar]. Dem Präsidium hatte man noch einen Ehrenausschuß von neun Personen vorgelagert, dem u.a. auch ich angehörte. Auch von diesem Ehrenausschuß lebt außer mir nur noch unser verehrten Herr Altreichstagspräsident Paul Löbe.
Viel Arbeit hat uns allen das neu gegründete Komitee nicht gemacht. In kleinem Kreis traf man sich gelegentlich da und dort. Besonders gern erinnere ich mich noch manchen besinnlichen Abends – meist gelegentlich kurzer Besuche von Chaim Weizmann aus London in der gepflegten Häuslichkeit des Vorstandsmitgliedes der Deutschen Bank, Direktor Wassermann, der ein gläubiger Jude und überzeugter Zionist war. Trotzdem war Direktor Wassermann nicht Mitglied der Zionistischen Vereinigung geworden und vertrat bei der Eröffnungsveranstaltung der Jewish Agency im Jahre 1928 in dieser die Nichtzionisten Deutschlands. Die wirklich große Bedeutung des Pro Palästina-Komitees bestand darin, daß es überhaupt da war und daß eine repräsentative Bejahung der Grundsätze der Balfour-Deklaration jetzt auch im Deutschen Reich, und zwar weit über einen kleinen jüdischen Kreis hinaus, weithin sichtbar wurde. Gerade dies war aber dem liberalen Judentum ein Dorn im Auge. So setzte denn schon gleich nach der Komitee-Gründung um die Jahreswende 1926/27 eine äußerst heftige Gegenbewegung ein. Ich weiß es noch wie heute, daß uns genau am Heiligen Abend 1926 ein scharfes Protestschreiben der “Vereinigung für das liberale Judentum” zuging, welche ihre Geschäftsstelle in der südlichen Wilhelmstraße hatte. Gleichzeitig war in der BERLINER JÜDISCHEN-LIBERALEN ZEITUNG ein äußerst heftiger Leitartikel mit dem gleichen Tenor erschienen. Da beides allüberall herumgeschickt wurde, schien es mir jedenfalls ratsam, sich nun auch öffentlich zu äußern. Ich tat dies in einem mir heute noch in Kopie vorliegenden Antwortbrief an die “Vereinigung für das liberale Judentum”, dem ich folgende Sätze entnehme:
Der Staatssekretär Berlin, den 30. 12. 1926
in der Reichskanzlei
Sehr geehrte Herren!
. . . Es war der Reichsregierung natürlich bekannt, daß nicht alle jüdischen Kreise hinter den Bestrebungen des “Pro Palästina-Komitees” stünden. Wenn sie trotzdem durch einige Vertreter ihre Sympathie für die Bestrebungen des “Pro Palästina-Komitees” ausgesprochen hat, so glaubte sie hierzu durchaus berechtigt zu sein. Ich persönlich weiß mich völlig frei von Antisemitismus und kann daher für mich erklären, daß ich den idealen und politisch einwandfreien Bestrebungen auf Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina keineswegs deshalb diene, um das Judentum aus dem deutschen Volkskörper auszumerzen. Im Gegenteil unterstütze ich mit ebenso fester Überzeugung alle Bestrebungen, die dem Judentum in Deutschland zu voller Gleichberechtigung verhelfen wollen. Ich sehe auch nicht, inwiefern die Schaffung von Heimstätten für das jüdische Volk in Palästina eine gegen sein Deutschtum gerichtete Angelegenheit sein soll… Ich möchte gerade entgegen dem von Ihnen liebenswürdigerweise beigefügten Zeitungsartikel der Meinung sein, daß durch die Siedlungsbestrebungen auf dem alten palästinensischen Kulturboden altes Unrecht am jüdischen Volk wieder gutgemacht wird. Nicht zuletzt durch die Drangsalierungen des Judentums im Mittelalter, seine zwangsweise Abwendung vorn Lande und die Zusammenpferchung in erbärmlichen Stadtvierteln usw. ist meines Erachtens die gegenwärtige falsche soziale Schichtung des Judentums, die es ganz einseitig von der Scholle und dem Handwerk weg dem Handel zugeführt hat, zurückzuführen. Sollten durch die Siedlungsbestrebungen in Palästina im Judentum wieder die Liebe zur eigenen Scholle und Handarbeit eine Pflanzstätte finden, so wäre dies ein Teil, dem man meines Erachtens rückhaltlos Erfüllung wünschen könnte [Kommentar].
Ich sage Ihnen, sehr geehrte Herren, mit diesen meinen Ausführungen wahrscheinlich nichts Neues. Nur lag mir daran, auch Ihnen gegenüber klarzustellen, von welchen Gedankengängen aus jedenfalls ich mich beim Eintritt in das “Pro Palästina-Komitee” habe leiten lassen. Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, mich über die Erfolgsmöglichkeiten dieser idealen Bestrebungen in Prophezeiungen einzulassen. Jedenfalls geht mein Wunsch dahin, daß sie in Erfüllung gehen möchten…
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Dr. Hermann Pünder.
Noch heute bin ich froh, daß ich damals diesen Brief geschrieben habe. Von vielen Seiten hörte ich, daß er seine Wirkung getan hätte. Kurt Blumenfeld, Dr. Rosenblüth und ihre engeren Freunde sorgten dafür, daß mein Brief weiteste Verbreitung fand, und zwar sogar im Ausland. Schon recht bald hatte ich übrigens damals Gelegenheit, mich gerade von Letzterem persönlich zu überzeugen, und zwar in meiner Eigenschaft als Mitglied der Deutschen Delegation zum Völkerbund in Genf. In der sehr wichtigen Mandatskommission des Völkerbundes wurde damals mit großem Eifer und natürlich auch mit vielem Für und Wider über die Balfour-Deklaration, die etwaige Gründung solcher jüdischer Pflanzstätten in Palästina und vielleicht auch eines selbständigen Staates Israel verhandelt. Selber gehörte ich dieser Kommission nicht an, konnte aber hinter den Kulissen doch einen gewissen Einfluß ausüben. Auch in Genf wurden Bedenken laut, ob denn der Zionismus, wenn er erst einmal in Palästina an der Macht sei, auch bereit und in der Lage sei, dort den heiligen Stätten der Christenheit ihre Unantastbarkeit zu garantieren. Bei solchen Debatten in Genf war es dann sehr wertvoll, auf das deutsche Pro Palästina-Komitee hinweisen zu können, in dem angesehene und aktive Christen mit den deutschen Zionisten aufs engste zusammenarbeiteten [Kommentar].
DEUTSCHES KOMITEE PRO PALÄSTINA
ZUR FÖRDERUNG
DER JÜDISCHEN PALÄSTINASIEDLUNG
EHRENAUSSCHUSS
Preußischer Kultusminister Prof. D. Dr. Becker
Preußischer Ministerpräsident Otto Braun
Professor Dr. Albert Einstein
Reichstagspräsident Paul Löbe
Staatssekretär der Reichskanzlei Dr. Puender
Geh. Konsistorialrat Professor D. Dr. Sellin
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Dr. von Schubert
Oscar Wassermann, Direktor der Deutschen Bank
Staatssekretär des Preußischen Staatsministeriums Dr. Weismann
PRASIDIUM
Botschafter z. D. Graf Bernstorff, M. d. R.
Rabbiner Dr. Leo Baeck
Professor D. Dr. Dr. I. V. Bredt, M. d. R.
Dr. R. Breitscheid, M. d. R.
Kurt Blumenfeld, Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland
Prof. Dr. 0. Hoetzsch, M. d. R.
Domkapitular Prälat Professor Dr. Kaas, M. d. R.
Dr. von Kardorff, M. d. R.
Freiherr von Richthofen, Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt
Leg.-Rat Prof. Dr. M. Sobernheim
Kommerzienrat Konsul Dr. W. Sobernheim
SCHRIFTEUHRER:
Frau Katharina von Kardorff-Oheimb
Karl Glaser
BERLIN W 15 • MEINECKESTRASSE 10 • TELEFON: BISMARCK 7165
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