Landgericht Bonn verhandelt über die Klage serbischer Opfer des NATO-Bombenkrieges
Jürgen Elsässer
Für NATO ein »Sekundärziel«
Landgericht Bonn verhandelt über die Klage serbischer Opfer des NATO-Bombenkrieges
junge Welt, 15. Oktober 2003
Am heutigen Mittwoch beginnt vor dem Landgericht Bonn ein Prozeß, der Rechtsgeschichte machen könnte: Zum ersten Mal wird nicht über Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland, sondern der Bundesrepublik verhandelt. Serbische Bürger klagen gegenüber der Bundesregierung auf Schadensersatz, weil bei einem NATO-Bombardement ihres Heimatortes Varvarin am 30. Mai 1999 zehn Menschen getötet und 30 zum Teil schwer verletzt wurden, allesamt Zivilisten. Die Schröder-Regierung hat die Opfer »aufrichtig bedauert«, im übrigen aber über ihre Anwälte mitteilen lassen, daß die 14 kriegsbeteiligten Tornados der Bundesluftwaffe genau jenen Angriff nicht mitgeflogen haben. Die Bundesregierung sei somit nicht haftbar zu machen, auch nicht »gesamtschuldnerisch« als NATO-Mitglied für das Bündnis insgesamt, wie die Kläger behaupten. Diese wiederum verweisen auf die Verantwortung, die die deutsche Führung bei der Auswahl des Zieles Varvarin trug.
Der Ort hatte keinerlei militärische Bedeutung, das Bombardement fand zum Zeitpunkt und in unmittelbarer Nähe eines großen Kirchenfestes statt. Trotzdem sprach die NATO von einem »legitimen Angriff auf eine Hauptnachschublinie der serbischen Armee«. NATO-Pressesprecher Jamie Shea nannte Varvarin »ein ausgewähltes und gerechtfertigtes Ziel«. Oberstleutnant Michael Kämmerer, in der Öffentlichkeitszentrale des NATO-Oberkommandos Europa im südbelgischen Mons für die deutsche Presse zuständig, räumte allerdings ein, daß Varvarin lediglich ein »Sekundärziel« gewesen ist. Mit anderen Worten: Das eigentlich ausgewählte Angriffsobjekt war schon zerstört gewesen, deshalb hat man einen Ersatz gesucht.
Wer hat Varvarin als Bombenziel ausgewählt? Die NATO weigerte sich gegenüber Reiner Luyken von der Zeit, die Namen der Piloten zu nennen, selbst ihre Nationalität wurde verschwiegen. Wer gab den Piloten die Befehle? Die Ziele für jeden Einsatz wurden vom Deskofficer des Combined Allied Operations Command im italienischen Vicenca zusammengestellt. Grundlagen waren Ziellisten, die – so die Washington Post – ein NATO-Planungsstab angefertigt hatte und die von den politischen Spitzen der NATO-Staaten – Clinton, Blair, Jospin und auch Schröder – abgesegnet worden waren. Bekannt ist, daß die französische Regierung in einigen Fällen erfolgreich ihr Veto gegen die Bombardierung ziviler Ziele, etwa von Donaubrücken, eingelegt hatte.
Sekundärziele, so Oberstleutnant Kämmerer, wurden allerdings ohne politische Gegenkontrolle festgelegt. Nach Meinung von Paul Beaver von der Fachzeitschrift Jane’s Defense Weekly wurden die Koordinaten dieser Ausweichziele den Piloten von den Awacs-Flugzeugen mitgeteilt, also den fliegenden NATO-Kommandozentralen. An Bord waren auch deutsche Spezialisten und Offiziere.
Die Bundesregierung hat sich über ihre Anwälte gegen die Behauptung verwahrt, die NATO habe 1999 »einen gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Angriffskrieg geführt«. »Der Umstand, daß es nur in 0,4 bis 0,9 Prozent der Einsatzfälle zu zivilen Opfer kam«, wird als Beleg angeführt. Diese Statistik verschweigt das Verhältnis zwischen militärischen Treffern und den sogenannten Kollateralschäden: In 78 Tagen Bombenkrieg zerstörte die NATO nur 14 jugoslawische Panzer, aber 48 Krankenhäuser, 74 TV-Stationen und 422 Schulen. 20000 Splitterbomben liegen noch heute als Blindgänger in der Erde und können jederzeit explodieren. Über 2000 jugoslawische Zivilisten wurden getötet, ein Drittel davon Kinder. Dem stehen 1000 gefallene Polizei- und Armeeangehörige gegenüber.
Wenn das Bonner Landgericht die Klage nicht gleich zu Beginn abweist, müßte in einer umfangreichen Beweisaufnahme geklärt werden, welche Rolle deutsche Stellen bei der Auswahl der Bombenziele trugen. Generäle, Verteidigungsminister und Kanzler im Zeugenstand, womöglich im Kreuzverhör, schließlich auf der Anklagebank – das hätte die Republik noch nicht gesehen.