Terrorhysterie beim ‘Tagesspielel’ wegen zwei Globetrottern
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30.09.2008 / Feuilleton / Seite 9
Die Witwen aus Wilmersdorf
Terrorhysterie beim »Tagesspiegel« wegen zwei Globetrottern
Von Jürgen Elsässer
Foto: dpa
Bei Wilmersdorfer Witwen geht jetzt die Angst um. Da viele von ihnen den »Tagesspiegel« lesen, dürfte ihnen am vergangenen Freitag die Schwarzwälder Kirschtorte im Hals stecken geblieben sein, als sie dort auf der Titelseite erfahren mussten: »Deutschland wird offenbar verstärkt zum Schauplatz islamistisch-terroristischer Umtriebe.« Der Umtrieb-Experte des Blattes, Frank Jansen, im Nebenberuf übrigens ein vorzüglicher Cocktail-Tester, fasste in seinem Kommentar zusammen: »Der geballte Wahnsinn militanter Islamisten hat Deutschland in dieser Woche getroffen …«.
Der geballte Wahnsinn? Was war geschehen? Anschläge? Anschlagsversuche? Anschlagsplanungen? Waffenfunde? Wenigstens irgendwo brandgefährliche Chemikalien wie Nagellackentferner? Nein, nichts von alledem. Es geht im Kern um zwei Globetrotter, die mit ihren aktuellen Reiseplänen etwas Pech hatten. Freitagfrüh wurden zwei Somalis auf dem Flughafen Köln/Bonn aus einer abflugbereiten Maschine nach Amsterdam geholt. »Wie der ›Tagesspiegel‹ aus Sicherheitskreisen erfuhr, hatten die Terrorverdächtigen einen Anschlussflug nach Uganda geplant, von wo aus sie in Richtung Pakistan weiterreisen wollten.« Aha. Von hinten durch die Brust ins Auge. Gibt es Tickets, außer denen nach Amsterdam? Bisher wurden diese der verängstigten Öffentlichkeit jedenfalls nicht gezeigt, und auch keine Zitate – geschweige denn Faksimile – aus den angeblichen Briefen der beiden, mit denen sie ihre »Reise in den Dschihad« (»Tagesspiegel«) angekündigt haben sollen. Details würde man schon gerne kennen, bevor man zwei Touristen umstandslos zu Terroristen erklärt. »Dschihad« kann in der muslimischen Religion nämlich nicht nur bewaffneter Kampf bedeuten, sondern auch die spirituelle Versenkung in die religiöse Lehre meinen.
Selbst die Bundesanwaltschaft, die unter der Peitsche von Bundesinnenminister Schäuble oft zur Dramatisierung neigt, reagierte zunächst nüchterner als viele Medien. Die Karlsruher Behörde weigerte sich nicht nur bis dato, die Ermittlungen zu übernehmen – was zwingend wäre, wenn es wirklich die von »Tagesspiegel« und Co. diagnostizierte Terrorgefahr gäbe. Noch Sonnabendfrüh war es sogar offen, ob die beiden Reisenden überhaupt weiter festgehalten werden könnten. »Entweder die Beweise reichten aus, um einen Haftbefehl zu beantragen, oder die beiden würden noch an diesem Samstag freigelassen«, meldete der »Welt«-Ticker.
Der »Tagesspiegel« stützte sich bei seiner Panikattacke jedenfalls nicht auf die Behörden, sondern – das ist typisch – auf nicht näher identifizierbare »Sicherheitskreise«. Die steckten dem rasenden Reporter Jansen auch ein Detail, das über ihn den Weg in den Blätterwald fand: Die zwei Somalis »hätten sich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet der Terror-organisation Islamic Jihad Union (IJU) anschließen wollen, hieß es.« »Hieß es« – eine geniale Formulierung. Wer ist denn »es«? Hat »es« ein Büro am Pariser Platz mit einem Foto von George Dabbelju hinterm Schreibtisch? Weiter teilt »es« via Jansen mit: »Die mit Al Qaida kooperierende IJU hatte die Sauerlandgruppe um den deutschen Konvertiten Fritz Gelowicz gelenkt, die in Deutschland Anschläge mit Autobomben verüben wollte.« Das ist falsch. Die Sauerlandgruppe wurde von einem langjährigen Agenten des baden-württembergischen Verfassungsschutzes gelenkt und erhielt die Zünder für ihre Bomben von einem CIA-Mann. Das ist der Kontext, von dem »es« ablenken will.
»Es« hat den Redakteur übrigens schon früher verrückt gemacht. Als im Juni 2003 auf dem Dresdner Hauptbahnhof eine Kofferbombe entdeckt wurde, wusste Jansen im »Tagesspiegel« sofort Bescheid: »Planten Terroristen Anschlag auf ICE? … Als Täter vermuten Sicherheitsexperten islamistische Terroristen oder Neonazis.« Bald stellte sich heraus, dass der Mordlustige ein 62-jähriger deutscher Makler gewesen war, der die Deutsche Bank erpressen wollte. Sofort sank das Interesse der Medien. Die Wilmersdorfer Witwen sollen sich nicht vor Ihresgleichen fürchten.
Der ND-Autor schrieb zu diesem Thema sein aktuelles Buch »Terrorziel Europa – Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste«.
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