Am Jordan gemeinsam gegen den Krebs
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (Frankfurt a.M.), 19. Januar 1979
von Gerd Lobin
An jedem Dienstagmorgen fährt Dr. Horn etwa fünfzig Kilometer weit nach Belt Jala um Sprechstunde zu halten: Im Königlich Jordanischen Krankenhaus warten dort Dutzende von Patienten auf den jüdischen Arzt, der Direktor der Krebsabteilung am Assaff-Haroffe-Krankenhaus ist und in Israel als einer der führenden Onkologen gilt. Er trifft im Hospital von Beit Jala, nur ein paar Autominuten von der Geburtskirche in Bethlehem entfernt, auch seinen arabischen Kollegen Dr. Hamid, der sich unter der Anleitung des jüdischen Spezialisten anschickt, der erste Onkologe auf dem Westufer des Jordans zu werden. Gemeinsam haben der Jude und der Palästinenser im Frühjahr in diesem politisch umstrittenen Gebiet die erste Krebsstation eingerichtet. "Wir Israelis machten das Angebot, und das jordanische Krankenhaus akzeptierte es", sagt Dr. Horn zu Journalisten aus der Bundesrepublik, denen die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn diesen Besuch der ersten israelisch-palästinensischen Kooperation auf medizinischem Gebiet ermöglicht hat.
Krebsberatung und Krebsbehandlung, das ist bei Mohammedanern ein schwieriges Unterfangen. Den Frauen untersagt es die Religion, sich vor einem fremden Mann zu entblößen. ‘Entsprechend ist die Früherkennung schwierig", berichtet Dr. Horn. ‘Meistens kommen die Patienten erst dann, wenn es für eine erfolgversprechende Behandlung längst zu spät ist." Die beiden Ärzte haben deshalb zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vor einem guten halben Jahr zunächst ihre ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um palästinensische Ärzte zu veranlassen, ihre Patienten von der Notwendigkeit zu überzeugen, den jüdischen Spezialisten und seinen arabischen Kollegen zu konsultieren. "Zuerst kamen die Leute nur tröpfchenweise", berichtet Dr. Hamid. "Mittlerweile haben wir bis zu vierzig je Sprechtag." Aus der Sprechstunde am Morgen ist für beide Ärzte und einen weiteren palästinensischen Kollegen längst ein Arbeitstag geworden, der bis in den späten Nachmittag hinein dauert.
Seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit haben die beiden Ärzte 177 Krebserkrankungen behandelt, in vielen Fällen auf chemotherapeutische Weise. Die Radiotherapie ist auf dem Westufer zwar noch nicht möglich, im Telhaschumair-Krankenhaus bei Tel Aviv aber, in dem auch die Patienten aus Dr. Horns Krebsabteilung bestrahlt werden, finden seit einigen Monaten ebenfalls Kranke aus der Krebsstation von Belt Jala eine Behandlungsmöglichkeit. Dort ist ein Hotel eingerichtet worden, in dem die Patienten während der Bestrahlungszeit untergebracht werden.
Dr. Horn ist der einzige israelische Arzt, der in einem arabischen Krankenhaus arbeitet. Wie hat er die Vorbehalte überwinden können? "Daß die Juden blendende Ärzte haben, das wissen die Leute auch bei uns", sagt Dr. Hamid. "Bei Dr. Horn haben sie schnell gespürt, daß er keinen Unterschied macht." So wehren sich die Patienten nicht einmal mehr, wenn es Dr. Horn für erforderlich hält, die Einweisung zur stationären Behandlung in seiner eigenen Krebsabteilung anzuordnen. Gegenwärtig liegen dort vier Kranke aus Beit Jala.
Die Patienten, die an jedem Dienstag geduldig auf den Bänken und Treppenstufen des Königlich Jordanischen Krankenhauses hocken und auf den jüdischen Arzt warten, kommen aus allen Kreisen der Bevölkerung. Der Jüngste war bisher ein Dreijähriger, der Älteste ein Methusalem. "Als ich den Alten fragte, wie alt er sei, winkte er lächelnd ab und meinte, ‘Schreib hundert Jahre’ ", erzählt Dr. Horn.
Die beiden Ärzte wollen nicht zuletzt auch die Krebsvorsorge verstärken. Deshalb soll eine Aufklärungskampagne anlaufen. Mit ihr ist es jedoch deshalb schwierig, weil es dafür an den Nachrichtenmitteln fehlt. Deshalb ist es vielen Frauen einstweilen nicht klarzumachen, warum und wann sie in die Sprechstunde kommen müssen. Dr. Hamid: "Die Früherkennung ist die Hauptschwierigkeit in der erfolgversprechenden Krebsbehandlung überall. Hier wird sie zu einem Problem."
Im Krankenhaus von Belt Jala schert man sich nicht um die Politik. Den Ärzten geht es um die Kranken: Sie sollen auf jeden Fall weiterbehandelt werden. Gleich, wie die Verhandlungen über die Zukunft des Westufers ausgehen werden. Daß die Ärzte einem gewissen Druck ausgesetzt sind, das bestreiten beide nicht. ‘Aber Juden und Palästinenser leben hier zusammen und müssen das Beste daraus machen", sagt Dr. Horn. Und Dr. Hamid fügt hinzu: "Die Leute, die uns heute kritisieren, kommen morgen gern zu uns." (17)