Angst machen: Armut ist erwünscht
Ein Kommentar von Anna Mayr
Die Zeit, 11. Dezember 2020
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Schlimm genug, dass es Tafeln gibt in einem Land wie diesem. Dass also Menschen, denen der Staat ein sogenanntes “Existenzminimum” zum Überleben garantiert, auf diesem Minimum nicht überleben können – und dass das ausgeglichen wird dadurch, dass sie sich einmal in der Woche in eine Schlange stellen, damit ihnen jemand Müll in eine Tüte steckt. Ja, es ist Müll. Es sind Nahrungsmittel, die aussortiert wurden, die man nicht mehr verkaufen kann.
Tafeln geben uns durchs Müllverteilen das wohlige Gefühl, dass für die Armen gesorgt ist. Das macht sie zum Teil des Problems. Denn sie beruhigen eine Gesellschaft, die sich eigentlich empören müsste.
Eine moderate Forderung
Das politische Ziel der Tafeln kann deshalb nur ihre eigene Abschaffung sein. Also ist es richtig, dass der Dachverband der Tafeln jetzt einen Corona-Rettungsschirm für die Armen fordert: 100 Euro im Monat extra, für die Dauer der Pandemie. Es ist eh eine moderate Forderung im Vergleich zur Notlage, in der sich die Leute befinden.
Arme Menschen haben überdurchschnittlich häufig Vorerkrankungen, sie haben oft ein schwächeres Immunsystem. Arme Familien leben in Wohnungen, in denen Quarantäne unmöglich ist. Sie können es sich nicht leisten, jeden Tag eine FFP2-Maske für fünf Euro zu kaufen, sie können sich eigentlich überhaupt keine Masken kaufen, denn für rezeptfreie medizinische Erzeugnisse stehen ihnen im Monat genau 2,50 Euro zu. Durch die Pandemie trauen sich viele nicht mehr zu den Tafeln, gleichzeitig fallen andere Strukturen und soziale Kontakte ebenfalls weg.
Niemand interessiert sich dafür
Das Virus bedroht arme Menschen also besonders. Und während der Rest der Bevölkerung Kurzarbeitergeld bekommt oder Steuererleichterungen fürs Homeoffice, sind die Armen seit Beginn der Pandemie kaum weiter besprochen worden. Kürzlich wurde sogar der Hartz-IV-Satz im Bundestag diskutiert, es gab einen mickrigen Inflationsausgleich, niemand interessierte sich dafür.
Wenn in Deutschland eine Sache nicht umgesetzt wird, dann ist es immer am einfachsten, das auf den Verwaltungsaufwand zu schieben, der damit zusammenhängt. Oft ist das sogar wahr: alle wollen das Beste, aber es hat zig Haken. Bei einer Hartz-IV-Aufstockung wäre die Sache allerdings recht einfach. Denn es gibt bereits eine Regelung in den Hartz-Gesetzen, die sich “Sonderbedarf” nennt. Dieser ist dazu da, in “außergewöhnlichen Lebenslagen” oder einer “Notsituation” auszuhelfen. Einen genauen Rahmen dafür, was als Sonderbedarf gilt, gibt es nicht. Er wurde aber in der Vergangenheit bereits für rezeptfreie Medikamente und andere medizinische Produkte bewilligt. Es gibt also bereits einen Hebel, um armen Menschen das Leben leichter zu machen. Man müsste ihn nur umlegen.
Diese 100 Euro wären gut angelegt
Bevor jetzt wieder jemand sagt, dass wir dafür nicht auch noch Geld ausgeben können, weil das kommende Generationen belaste und die Schuldenquote nicht steigen darf (als müsste Olaf Scholz persönlich zum Bankautomaten gehen und das Sparkonto seiner Enkel anzapfen), sollten sich alle bewusst machen, dass diese 100 Euro gut angelegtes Geld wären. Erstens, weil arme Menschen nicht sparen. Jeder Euro, den sie mehr haben, fließt direkt zurück in den großen, magischen Geldkreislauf: Er zahlt die Gehälter der Supermarktkassierer, schafft neue Jobs bei Maskenproduzenten, erhält den lokalen Einzelhandel und den öffentlichen Nahverkehr.
Es ist sinnlos, wenn Staaten in einer Krise sparen, und es ist vor allem sinnlos, wenn sie bei den ärmsten Familien sparen. Denn je ärmer Menschen und ihre Kinder heute sind, desto kränker, ärmer und verlorener sind sie übermorgen. Die Folgekosten der Armut, das verlorene Potenzial, müssen kommende Generationen auf jeden Fall tragen, davor sollte man sich tatsächlich fürchten. Vor Staatsschulden hingegen muss man sich nicht fürchten, denn die sind jetzt dazu da, Volkswirtschaften und die Menschen darin vor der Zerstörung zu bewahren. Die europäische Zentralbank kann Geld drucken, wenn in einer Phase zu wenig davon da ist, aber sie kann keine Menschenleben drucken.
Armut ist erwünscht
Je reicher man ist, desto mehr profitiert man von den Pandemiehilfen der Bundesregierung. Menschen mit hohen Gehältern bekommen mehr Kurzarbeitergeld als Menschen mit niedrigen Gehältern, und Vermieter können sich glücklich schätzen, dass der Staat die Zahlungen an sie ersetzt. Dass der Hebel trotzdem nicht umgelegt wird, dass arme Menschen bei allen Pandemiehilfen abgesehen vom Kinderzuschlag außer Acht gelassen werden, zeigt, was sowieso klar war: Armut ist kein Zufall. Armut ist erwünscht. Armut ist dazu da, denjenigen Angst zu machen, die sich trotz des Virus jeden Morgen in den Bus setzen müssen, in die U-Bahn steigen, um Häuser zu bauen oder Produkte zu kassieren oder Kinder zu betreuen. Sie alle sollen sich davor fürchten, ihren Job zu verlieren, mehr als davor, sich im Job mit einer potenziell tödlichen Krankheit anzustecken. Diese Logik gab es schon vor der Pandemie: Menschen arbeiten weiter, obwohl die Bedingungen ihrer Arbeit unwürdig sein mögen. Weil sie wissen, dass Hartz IV noch schlimmer wäre. In der Pandemie ist nun alles noch viel schlimmer, potenzierter, weil es nicht mehr nur um alltägliches Leid geht, sondern um Leben und Tod.