Augenzeugen aus Hamburg berichten von polizeistaatlichen Methoden
Uniformierte Chaoten drehten frei. Jugend noch immer in Haft
Von Markus Bernhardt, Junge Welt, 13. Juli 2017
Deutsche Polizisten marschieren durch den Distrikt »Schanze« während der Unruhen von Hamburg am 7. Juli 2017
Foto: Kai Pfaffenbach/REUTERS
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Die Erfahrungs- und Zeugenberichte, die junge Welt in diesen Tagen über die Einsätze der Polizei rund um den G-20-Gipfel in Hamburg erreichen, erinnern mehrheitlich an Zustände in Polizeistaaten und Diktaturen. »Ich habe in Hamburg eine Polizei erlebt, die an Brutalität alles übertroffen hat, was ich bisher erlebt habe. Demokratische Grundrechte wurden massiv eingeschränkt und die Verhältnismäßigkeit der Mittel in keiner Weise respektiert«, sagte Sylvia Gabelmann, stellvertretende Landessprecherin der NRW-Linken, auf jW-Anfrage. Im Rahmen des Polizeieinsatzes gegen die »Welcome to Hell«-Demonstration am vergangenen Donnerstag sei faktisch in Kauf genommen worden, dass dieser »Menschenleben kosten könnte«. »Die Bilder erinnerten nicht nur mich an die Bilder der Loveparade-Katastrophe 2010 in Duisburg.« Sie lehne es »massiv ab, eine zutiefst heuchlerische Debatte« über vermeintlich von Demonstranten ausgehende Gewalt mit »denjenigen zu führen, die selbst für massive Gewalt verantwortlich sind – sei es durch Kriegseinsätze, Waffenlieferungen, das Flüchtlingselend oder soziale Grausamkeiten«, sagte sie am Mittwoch.
Der Vizepräsident des Hessischen Landtages, Ulrich Wilken (Die Linke), der als parlamentarischer Beobachter in Hamburg vor Ort war, berichtete von Übergriffen bei Blockadeversuchen. »Aus meiner Sicht, aus der Sicht des Grundgesetzes oder der Menschenrechte rechtfertigen diese auf keinen Fall, einer Frau mit dem Einsatzwagen ins Kreuz zu fahren oder mit dem Knüppel auf die Köpfe laufender Menschen einzuschlagen.«
Nils Jansen, Geschäftsführer der Verdi-Jugend NRW Süd, berichtete ebenfalls am Mittwoch gegenüber jW von grundlosen Übergriffen der Beamten mit Schlagstöcken und Wasserwerfern, die sich am Freitag morgen ereigneten. Die Betroffenen »flohen in Panik, viele wurden verletzt, zum Teil schwer«. Allein 13 Bonner Verdi-Mitglieder seien von der Polizei festgenommen worden. Die Zustände in der Gefangenensammelstelle (Gesa) bezeichnete Jansen als »entwürdigend«. »Wir mussten uns vor der Polizei nackt ausziehen, die Kolleginnen wurden gezwungen, unter den Augen der Polizei ihre Tampons herauszunehmen und bekamen anschließend keine neuen.« »Alle außer den Minderjährigen wurden über 30 Stunden in einen fensterlosen Container gesperrt, bevor wir für weitere 24 Stunden in die JVA verlegt wurden.« Auch nachts habe in der Gesa grelles Neonlicht gebrannt, teils hätten alle 20 Minuten Polizisten gegen die Türen gehämmert, um die Betroffenen am Schlafen zu hindern. »Essen und Trinken gab es oft nur nach stundenlangem Warten. Wer auf die Toilette musste, wurde dorthin im Polizeigriff eskortiert«, berichtete der Gewerkschafter. Er selbst habe seinen Anwalt erst nach 14 Stunden, einen Richter nach 30 Stunden zu Gesicht bekommen. Noch immer säßen »drei Verdi-Kolleginnen und -Kollegen mit völlig haltlosen Vorwürfen in Untersuchungshaft«, so Jansen weiter.
Von brutaler Gewalt betroffen war auch der Hamburger Jugendliche Leo, der im Schanzenviertel friedlich auf einer Treppenstufe saß. Er erlitt durch gezielte Schläge schwere Verletzungen und wurde bei seiner Festnahme von den Beamten als »Dreckszecke«, »Kanacke« und »Muschi« bezeichnet. »Ich würde dir aus einem Meter Entfernung direkt ins Gesicht wichsen«, habe ein Beamter zu ihm gesagt. »Dieses Wochenende war eine Schande für die Demokratie«, es sei wichtig, diese Vorfälle nicht unaufgearbeitet zu lassen, stellte er klar.
Der Aufruf der Polizei, dass die Bevölkerung ihr eigenes Video- und Bildmaterial zwecks Identifizierung vermeintlich straffällig gewordener G-20-Gegner zur Verfügung stellen solle, könnte sich indes für die Beamten rächen. »Liegt der Anfangsverdacht für eine von Polizeibediensteten begangene Straftat vor, führt das Dezernat »Interne Ermittlungen« die entsprechenden Maßnahmen durch. Dies gilt selbstverständlich auch, sofern sich ein Anfangsverdacht aufgrund der Sichtung von Bild- oder Videoaufzeichnungen ergibt«, erklärte Frank Reschreiter, Pressesprecher der Hamburger Innenbehörde, am Mittwoch auf jW-Anfrage. Mit Stand von Mittwoch morgen führe das Dezernat Interne Ermittlungen, »insgesamt 28 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete, davon in 20 Fällen wegen Körperverletzung im Amt«. Die Frage, ob die Behörde ausschließen könne, dass es rund um die Proteste zu Straftaten von Polizisten in Zivil gekommen sei, beantwortete er ebensowenig wie die, wie viele Zivilbeamte rund um das Gipfelgeschehen im Einsatz waren.