Aussagen eines Psychologen zum Konflikt Israels mit den Palästinensern
Aussagen eines Psychologen zum Konflikt Israels mit den Palästinensern / Antisemitismus oder nicht?
“Israels Politik ist zynisch, autoritär und reaktionär”
Von Arn Strohmeyer (Erstveröffentlichung auf Deutsch: Neue Rheinische Zeitung, 10 Mai 2019): http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25876
Da
schreibt ein Psychologe über Israel: „Der grundsätzliche Blick Israels
auf die Welt ist – gemessen an westlichen Standards – zynisch, autoritär
und reaktionär. Der Vorrang von Gewalt und Herrschaft ist das
Kennzeichen der israelischen Identität und Erfahrung geworden. Sie ragt
heraus aus der Welt von Thomas Hobbes [englischer Philosoph 1588-1679],
in der ein ewiger Krieg wütet – ein Krieg zwischen Herrn und Sklave, den
Harten und den Weichen, den Siegern und den Opfern. Die israelische
Realität ist das Produkt und die Widerspiegelung des zionistischen
Traums und der kolonialistischen Realität.“ Für Beobachter und Kenner
der Vorgänge in Israel/Palästina enthält diese Feststellung wenig Neues,
für die Verteidiger der Politik des zionistischen Staates ist sie
vermutlich schlimmer Antisemitismus. Aber der Verfasser, der in
englischer Sprache schreibt (sein Name soll erst später genannte
werden), belässt es dabei nicht, sondern er versucht, das Wesen des
Zionismus und die Auswirkungen dieser Ideologie auf die israelische
Politik zu ergründen. Waren die Zionisten ursprünglich davon
ausgegangen, dass Palästina „leer“ und deshalb für die kolonialistische
Besiedlung gut geeignet gewesen sei („ein Land ohne Volk für das Volk
ohne Land“), so mussten sie nun bei ihrer Ankunft in Palästina am Ende
des 19. Jahrhunderts feststellen, dass das Land keineswegs leer, sondern
voll besiedelt war.
Zionismus in Palästina: Von “überschüssiger” Bevölkerung befreien
Für den Zionismus stellte sich die Frage: Was soll mit diesen Menschen –
der indigenen arabischen Bevölkerung – geschehen? Die Antwort war klar:
Um einen rein jüdischen Staat zu schaffen, mussten sich die Zionisten
von dieser „überschüssigen“ Bevölkerung befreien. Ihre Rechte
anzuerkennen und mit ihnen zusammenzuleben haben die Zionisten (von ein
paar human gesinnten „Kulturzionisten“ abgesehen) gar nicht in Erwägung
gezogen. Um den zionistischen Traum zu erfüllen, eben die Gründung eines
eigenen Staates, war man entschlossen, hart gegen die „Eingeborenen“
vorzugehen, was nicht schwer war, denn diese waren schwach, rückständig
und arm.
Wie also mit diesen arabischen Menschen umgehen? Der Autor schreibt:
„Sie waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für die Zionisten
eigentlich gar nicht vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und kamen in den
Visionen und Plänen der Zionisten gar nicht vor. Die einheimische
Bevölkerung musste ausgesondert und ausgeschieden (eliminated) werden.
Der Autor schreibt: „Der Krieg gegen die Eingeborenen (natives) war
schlicht und einfach ein Teil der Umwandlung der Natur des Landes, und
sie waren ein anderes Element der Natur, man musste sie [die
Eingeborenen] erobern und sie bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und
die Malaria.“
In dieser frühen Zeit der Besiedlung Palästinas erschienen die dort
lebenden Araber den Zionisten nicht einmal als eine Herausforderung,
sondern lediglich als ein Ärgernis, ein Missstand. Wenn sie Widerstand
gegen ihre Verdrängung von ihrem Land leisteten, dann betrachteten die
Zionisten das schlicht als „kriminelle Gewalt“. Dieser Widerstand war
immer „illegal“. Palästinensische Widerstandskämpfer wurden als
„Gangster, Räuber und Banditen“ bezeichnet. Oder man prangerte sie als
„Invasoren und Aggressoren“ an. Mit Blick auf die Verfolgungen in der
jüdischen Geschichte sah man in palästinensischen Widerständlern auch
„heidnische Antisemiten“, die Pogrome gegen friedliche Juden begingen,
sogar der Vergleich mit der spanischen Inquisition wurde benutzt.
Was eine vollständige Umkehrung der wirklichen Verhältnisse in Palästina
war: Denn die Palästinenser waren die Opfer des großen zionistischen
Traums, und die Zionisten waren völlig blind für die Tatsache, welch
große Ungerechtigkeit sie mit der Umsetzung ihrer Utopie schufen. Der
Höhepunkt dieser Auseinandersetzung waren dann die Nakba bzw. der Krieg
1948/49, der – so der Verfasser – in erster Linie ein Krieg gegen die
Palästinenser war, erst in zweiter Linie ein Krieg gegen die arabischen
Nachbarstaaten. Die Palästinenser sollten in der Nakba vertrieben und
enteignet werden, und außerdem sollte unter allen Umständen die Gründung
eines palästinensischen Staates verhindert werden. Beide Ziele haben
die Zionisten einschließlich der Gründung ihres Staates im Mai 1948
erreicht.
Was sie aber nicht schafften: Die Zionisten hatten gehofft, dass die
Welt die palästinensischen Flüchtlinge vergessen würde – durch
Aussterben bzw. durch Aufgehen in den arabischen Staaten. Der Name
Palästina sollte wie seine einstigen Bewohner nicht mehr erwähnt werden,
sie sollten aus dem Gedächtnis und dem Bewusstsein völlig verschwinden.
Das Land sollte künftig nur noch „Israel“ heißen. Sollten diese
Menschen und ihre Ansprüche doch noch einmal auf der Weltbühne
auftauchen, dann würde man sie für „illegitim“ erklären.
Zionismus in Palästina: Siedler-Kolonialismus
Der Autor bezeichnet das zionistische Unternehmen in Palästina als das,
was es bis heute ist: als Siedler-Kolonialismus. Die Zionisten scheuen
heute dieses Wort wie der Teufel das Weihwasser, dabei war es in der
frühen Zeit der Besiedlung durchaus üblich, von Kolonialismus zu
sprechen. Im Palästina der Mandatszeit (1923-1948) gab es eine ganze
Reihe von zionistischen Organisationen und Institutionen, die das Wort
kolonial im Namen führten: etwa die „Jewish Colonization Assoziation“,
„The Colonial Bank“ und andere.
Dann wurde der Begriff aber ganz offensichtlich als anrüchig empfunden
und von den Zionisten aus ihrem Wortschatz gestrichen. Man sprach nun
lediglich von „Besiedlung“. Die Erwähnung des Wortes Kolonialismus ruft
heute bei Israelis böse Reaktionen hervor. Der Autor schreibt: „Die
harten Reaktionen besagen, dass man einen rohen Nerv getroffen hat, eine
offene Wunde, eine schwärende Entzündung, die nicht heilen will. (…)
Kolonialismus ist ein hässliches Wort und eine noch hässlichere
Realität. Zionismus ist Teil dieser Realität, weil der zionistische
Traum in der Praxis ein siedlerkolonialistisches Unternehmen ist.“
Und weiter: „Der zionistische Handlungsplan hat die Entrechtung der
einheimischen Bevölkerung zum Inhalt gehabt und hat das auch heute noch.
Der Zionismus, wie er vor Generationen in Palästina und heute noch in
Israel praktiziert wird, ist Kolonialismus, weil er die Palästinenser
als Fremde ansieht und den wirklichen Fremden [den Zionisten]
Privilegien zuspricht, die die Palästinenser nicht haben. Um dieses
Unternehmen zu rechtfertigen, haben die Zionisten den Mythos erfunden:
Nicht sie, die fremden Einwanderer auf einem fremden Territorium, sind
die Fremden bzw. die Ausländer, sondern die Palästinenser, denn die
Juden sind ja nur nach einem längeren Exil in ihr Land zurückgekehrt –
sozusagen in einem Akt der Repatriation.“
Die Israelis schafften es zwischen 1948 und 1967 weitgehend, ihr Ziel zu
erreichen, das Palästinenserproblem „unsichtbar“ zu machen. War der
zionistische Kolonialismus in diesem Zeitraum also sehr erfolgreich, so
war dies nach dem Krieg von 1967, in dem Israel die Golan-Höhen,
Ost-Jerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen eroberten, nicht
mehr möglich. Seit diesem Zeitpunkt trat die kolonialistische Natur des
zionistischen Unternehmens wieder voll an die Oberfläche und konnte
nicht mehr geleugnet werden. Denn die Eroberungen des Krieges von 1967
hatten eine größere Unterdrückung der Palästinenser zur Folge, mehr
Landraub und mehr Vertreibungen. Das bloße Dasein der Palästinenser auf
der Westbank und im Gazastreifen wurde für Israel nun das vorrangige
Problem, das es durch weitere Enteignungen und verschärfte Kontrollen in
plumper und brutaler Weise zu lösen versuchte. Ein kolonialistischer
Kampf zwischen den beiden Völkern, die auf demselben Territorium lebten,
setzte ein, bei dem die Israelis die Mehrheit, die Stärkeren und die
Ausbeuter waren. Bis 1947 waren die Palästinenser nur „Araber“, seit
1967 sind sie „Palästinenser“ geworden, ein eigenes Volk eben. In den
Augen der Israelis standen sie aber nun immer mehr der Verwirklichung
des zionistischen Traums im Wege.
Die erste Intifada 1987 war dann eine schwere strategische Niederlage
für die Zionisten, sie hat Israels historische Situation dramatisch und
vollständig verändert, denn die Intifada war ein Volkskrieg in der
besten Tradition anderer antikolonialer Aufstände. Für Israel war dieser
Aufstand die größte Herausforderung seiner Geschichte, die sein Image
nachdrücklich verändert hat. Denn den Israelis wurde klar: Das einzige
wirkliche Problem, das der Zionismus hat, sind die Palästinenser: „Es
sind diese Menschen in ihrer andauernden Existenz und in ihrem
Widerstand hier, die die Zukunft Israels bestimmen werden. Der Schatten
der Palästinenser fällt überall hin und verdunkelt das Morgenrot jedes
neuen Tages.“ Die Israelis verstanden aber auch, dass, wenn man diesem
Menschen gleiche Rechte einräumt, also Demokratie schafft, dann ist das
das Ende des Zionismus.
Der Autor konstatiert weitere bittere Erkenntnisse für die Israelis:
„Hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton begann mit zunehmendem
Widerstand der Palästinenser nun eine Diskussion über die Moral des
Zionismus. Denn den Israelis wurde klar, dass sie sich einer schweren
Ungerechtigkeit schuldig gemacht hatten. Ihr geliebtes Heimatland war
auf Kosten anderer gebaut worden. Und die Kosten ihrer Herrschaft sind
ihre eigene Knechtschaft, die sie durch ihre Unterdrückung ausüben. Das
ist die israelische Situation. Die Bedrohung durch Krieg und Terrorismus
ist ein praktisches Problem, der Schrei der Opfer ist ein moralisches
Problem.“
Zionismus in Palästina: Wie die Ungerechtigkeit rechtfertigen?
Der Zionismus stand von nun an vor der Schwierigkeit: Wie kann er die
Ungerechtigkeit, die er den Palästinensern angetan hat, rechtfertigen –
die Enteignung und das zum Opfer-Machen (victimization) eines ganzen
Volkes. Der Autor belegt die Bedeutung dieser Frage mit der sehr
anschaulichen Aussage eines jungen Israeli aus dem Kibbuz Sasa, der auf
arabischen Grund und Boden entstanden ist: „Warum verbringen wir unsere
Ferien in einem arabischen Dorf? Früher war hier ein arabisches Dorf.
Die Wolken von Sasa zogen ein Jahr zuvor hoch über andere Menschen
hinweg. Die Felder, die wir heute bestellen, wurden ein Jahr zuvor von
anderen bestellt. Die Männer arbeiteten auf ihren Äckern und hüteten
ihre Herden, während die Frauen damit beschäftig waren, Brot zu backen.
Die Schreie und Tränen von Kindern der anderen wurden in Sasa ein Jahr
zuvor wahrgenommen. Und als wir kamen, schrie uns die Verwüstung ihres
Lebens durch die Ruinen, die sie hinterlassen hatten, entgegen. Schrie
zu uns und erreichte unsere Herzen, färbte unser tägliches Leben. So
suchten wir nach der Rechtfertigung für das Recht hier zu sein. Es ist
nicht schwer sich vorzustellen, wie das Leben hier gewesen sein muss.
Hier noch ein Schuh, dort ein Spiegel, hier ein Sack mit Getreide, dort
ein Familienporträt, das Spielzeug eines Kindes. Was gibt uns das Recht,
die Früchte von den Bäumen zu ernten, die wir nicht gepflanzt haben,
Schutz in Häusern zu suchen, die wir nicht gebaut haben? Auf welchem
moralischen Grund werden wir stehen, wenn wir vor Gericht stehen
werden?“
Jeder Israeli ist sich – so der Autor – mehr oder weniger der
grundsätzlichen Immoralität des Vorgehens gegen die Palästinenser
bewusst. Zumeist gehen die Israelis solchen moralischen Fragen aber aus
dem Weg, weil jede Diskussion über grundsätzliche moralische Prinzipien
die gegenwärtige Herrschaftsstruktur aufzudecken oder zu unterminieren
droht. Deshalb können gewisse grundsätzliche Fragen in Israel nicht
offen debattiert werden. Wenn sie aufgeworfen werden, ist die Antwort
Schweigen oder Zynismus. Die hauptsächlichsten Verteidigungsstrategien
für die Untaten des Zionismus sind: das angebliche historische Recht,
dass die heutigen Juden die Erben der antiken Juden seien und lediglich
in ihr Heimatland zurückgekehrt seien. Eine andere
Verteidigungsstrategie ist der Antisemitismus, vor dem die Juden sich in
einem eigenen Staat schützen müssten. Andererseits wird der
Antisemitismus-Vorwurf aber auch benutzt, um jede Kritik am israelischen
Vorgehen gegen die Palästinenser abzublocken und zum Schweigen zu
bringen.
Der Autor merkt hier an: „Das Ziel dieser Verteidigung ist, den
Zionismus mit einer Mauer der Immunität zu umgeben, so dass keine
rationale Diskussion seiner Ziele und Implikationen mehr möglich ist. So
eine Immunität braucht der Zionismus in der Tat, weil er durch normale
politische Standards nicht verteidigt werden kann.“ Da wird dann eben
Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt, um zum gewünschten Ziel
des Abwürgens jedes Diskurses über die israelische Politik zu kommen.
Ein anderes Mittel zur Rechtfertigung des Zionismus ist die
Dämonisierung der Araber bzw. Palästinenser als „Antisemiten“ oder sogar
als „Nazis“. Den Palästinensern wird dann unterstellt, dass sie den
Genozid der Nazis an den Juden fortsetzen wollten. Wobei der Autor gar
nicht bestreitet, dass es Antisemitismus bei den Arabern gibt, er ist
aber aus Europa importiert und nicht zuletzt wegen der zionistischen
Verbrechen an den Palästinensern dort auf fruchtbaren Boden gefallen.
Und schließlich wird auch der Holocaust instrumentalisiert: „Über den
Holocaust zu sprechen, ist der beste Weg, jede kritische Stimme gegen
Israel zum Schweigen zu bringen. (…) Dies ist gewöhnlich ein
erfolgreicher Versuch, jede rationale Diskussion zu beenden. Der
Holocaust ist die Ursünde gegen die Juden, die den Zionismus und Israel
aber total und vollständig rechtfertigt.“ Wobei dann auch der Mythos
angeführt wird, dass Israel von den Holocaust-Überlebenden gegründet
worden sei. Dem widerspricht der Autor vehement, denn die zionistische
Besiedlung habe am Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, der Zionismus sei
nicht im Jahr 1945 erfunden worden.
Zu den Überlebenden schreibt er: „An der Propagandafront spricht Israel
von den Opfern und Überlebenden. Die Opfer des Holocaust haben aber den
Staat Israel niemals autorisiert, für sie zu sprechen. Auch die
Überlebenden haben das nicht, die meisten von ihnen sind dem
zionistischen Traum nach Israel nicht gefolgt. Die meisten
Holocaust-Opfer waren eindeutig keine Zionisten. Sie waren Orthodoxe
oder assimilierte Bundisten oder die schweigende Mehrheit des
osteuropäischen Judentums, in welcher die Zionisten eine Minderheit
waren.“
Opfer-Nation: über oder jenseits des Restes der Menschheit stehend
Die Zionisten gehen aber noch einen Schritt weiter bei der
Rechtfertigung des den Palästinensern angetanen Unrechts. Sie
argumentieren: Die Leiden der Juden in der Geschichte einschließlich des
Holocaust bedeuten für die Juden, dass die Grenzen der konventionellen
Moral für dieses Volk nicht mehr gelten. Angesichts der jüdischen Opfer
sei eine solche Moral irrelevant. Die universalistischen Moralstandards
hätten sich in Bezug auf die Leiden der Juden als falsch und illusorisch
erwiesen, darum brauchten sie sich darum auch nicht weiter zu kümmern –
die Opfer-Nation stehe in diesem Sinne sozusagen über oder jenseits des
Restes der Menschheit. Die Realität des jüdischen Leidens ist deshalb
die ultimative Rechtfertigung für den Zionismus. Daraus zieht diese
Ideologie auch die Berechtigung, die Rechte seiner Opfer negieren zu
können. Denn angesichts der jüdischen Leiden sei das, was man den
Palästinensern antue, geringfügig und ohne Bedeutung.
Der Autor schreibt: „Das Bewusstseins des jüdischen Leidens führt dazu,
sich an der ganzen Welt rächen zu wollen, egal an wem. Es wurde Rache
genommen an denen, die gar nichts mit dem Horror zu tun hatten, der den
Rachewunsch hervorgebracht hat, denn die Palästinenser hatten nichts mit
der Lage der Juden, mit dem Antisemitismus oder mit den jüdischen
Problemen in Europa zu tun. Sie waren unschuldige Zuschauer der
Geschichte, die nun den ungeheuren Preis für die weit entfernten Leiden
eines anderen Volkes bezahlen mussten. Die Leiden der Juden sind Teil
der europäischen Geschichte, und ein europäisches Problem wurde nun in
Palästina gelöst.“
Und weiter: „Die Sünden der Welt gegen die Juden wurden nun auf
Palästina abgeladen, denn sich an den Polen oder den Deutschen zu rächen
wäre zu schwierig gewesen. Es war ganz einfach und leicht, die
Palästinenser für 2000 Jahre Verfolgung verantwortlich zu machen. Die
Palästinenser, die nun die Rache der Juden zu spüren bekamen, waren
nicht die historischen Unterdrücker der Juden. Sie haben die Juden nicht
in Ghettos gesperrt und sie gezwungen, gelbe Sterne zu tragen. Sie
haben den Holocaust nicht geplant. Aber sie hatten ein Vergehen
begangen: Sie waren schwach und konnten sich in der Konfrontation mit
einer militärischen Macht nicht verteidigen, sie waren so die idealen
Opfer für eine abstrakte Rache, die ein Objekt für das tief empfundene
Unrecht der Geschichte suchte. Die Palästinenser wurden die
Repräsentanten für die ganze nicht-jüdische Welt, die den Vorteil boten,
schwache Nicht-Juden zu sein, die einzigen ohnmächtigen Nicht-Juden,
die unterdrückt und bestraft werden konnten für 2000 Jahre
Antisemitismus.“
Der Autor folgert aus dem Gesagten und der heutigen Situation in
Israel/Palästina, dass der Zionismus nicht mehr gerechtfertigt werden
kann. Nach dem Ende des Kolonialismus in der Welt und dem Aufstieg der
Dritten Welt kann man den Zionismus als allgemeines Prinzip nicht mehr
akzeptieren. Mit jedem Tag, der vergeht, gibt der Zionismus ein
unmoralischeres Erscheinungsbild ab, und er muss immer verzweifeltere
Mittel anwenden, um sich zu rechtfertigen.
Der Zionismus hatte ursprünglich das Ziel, die jüdische Frage zu lösen
und so mit dem von ihm geschaffenen jüdischen Staat eine normale Nation
unter anderen zu werden. Aber Israel ist alles andere als ein normaler
Staat. Es kann so lange kein normaler Staat sein, solange er ein
Garnisonsstaat ist. Das Problem mit den Palästinensern hat aus Israel
einen kolonialistischen Staat gemacht, der sich in einem permanenten
Krieg befindet. Der Zionismus hat versucht, sich vom tragischen Verlauf
der jüdischen Geschichte durch Absonderung des Jüdisch-Seins von der
Menschheit abzusetzen. Diese Mühe der Abtrennung ist nicht gelungen. Die
Tragödie der jüdischen Geschichte scheint sich in einer neuen Version
in Israel zu wiederholen. Diesmal, gemäß dem jüdischen Plan, sind die
Juden nicht die Opfer: Sie sind die Herren ihres Schicksals und machen
diesmal andere zu Opfern.
Die Situation der jüdischen Geschichte hat sich also grundsätzlich
geändert, denn die Existenz in Palästina als Siedler-Kolonialisten hat
wenig zu tun mit dem jüdischen Schicksal in Osteuropa oder den USA.
Anders als die frühere Situation der Juden, als sie verfolgt wurden,
weil sie Juden waren, befinden sich die Israelis mit den Arabern bzw.
den Palästinensern im Krieg, weil sie die Sünde des Kolonialismus
begangen haben – nicht wegen ihrer jüdischen Identität. Die Feindschaft
gegen die Juden in Israel hat also einen bestimmten Grund, den es so
niemals zuvor in der jüdischen Geschichte gegeben hat.
Ursprungssünde sucht die Israelis heim und quält sie
Der Autor beschließt seine Betrachtungen über den Zionismus mit der
Anmerkung, dass die Israelis offenbar von einem Fluch heimgesucht
werden: Es ist der Fluch der ursprünglichen (original) Sünde gegen die
Palästinenser. Wie kann man über Israel sprechen, fragt er, ohne die
Vertreibung, Enteignung sowie den Ausschluss dieser Nicht-Juden zu
diskutieren? Das ist die grundlegende Realität Israels und ohne ihre
Wahrnehmung kann man diesen Staat nicht verstehen. Die Ursprungssünde
sucht die Israelis heim und quält sie. Diese Sünde liegt auf allem und
befleckt jeden. Die Erinnerung an diese Sünde vergiftet das Blut und
markiert jeden Augenblick der Existenz, schreibt er.
Den einzigen Ausweg aus der vertrackten Situation sieht der Autor in der
Versöhnung der Israelis mit den Palästinensern. Nur so könne Israel
eine humane und lebenswerte Zukunft gewinnen. Nur ein radikales Umdenken
der Israelis und die Sühne für die Sünden des Kolonialismus kann den
unendlichen Konflikt zwischen beiden Völkern beenden. Die Israelis
müssen um Vergebung bitten, und die Palästinenser müssen dazu bereit
sein zu vergeben. Der Autor schätzt die Chancen für eine solche humane
Lösung aber sehr gering ein. Denn die Israelis sind nicht in der Lage,
das Unrecht, das sie den Palästinensern angetan haben, einzugestehen.
Sie werden sich mit allen Mitteln dagegen wehren. Sie haben außerdem
Angst vor der Rache der Palästinenser, wenn sie ihre Schuld eingestehen
würden. Es kommt ein weiteres gewichtiges Argument hinzu: Einzugestehen,
dass der Zionismus eine höchst unmoralische koloniale Bewegung ist,
würde ihm die moralische Basis entziehen. Die Israelis müssten Angst
haben, dass ein solches Schuldeingeständnis ihnen das Recht nehmen
würde, weiter in Israel zu leben.
Und so schließt der Autor mit der paradoxen Feststellung, dass die
Schwachen letzten Endes die Starken sind. Denn die Asymmetrie der Macht
zwischen Israelis und Palästinensern verhindert eine einfache Lösung des
Konflikts. Aber die Macht der Palästinenser ist ihre bloße Existenz,
ihr Dasein so nahe an dem der Israelis. Die Palästinenser verfügen über
die Vetomacht über Israels Zukunft und über die Macht zu vergeben.
Der Autor der hier wiedergegebenen Ausführungen ist der israelische
Psychologie-Professor und Psychoanalytiker Benjamin Beit-Hallahmi, der
an der Universität von Haifa gearbeitet hat und jetzt emeritiert ist. Er
hat diese Argumente in seinem Buch „Original Sins. Reflections on the
History of Zionism and Israel“ niedergelegt, das 1992 in London
erschienen ist, aber bis heute nichts von seiner Aktualität verloren
hat. Dass es nie in deutscher Übersetzung erschienen ist, ist wohl
angesichts des idealisierten deutschen Israel-Bildes nicht
verwunderlich. Die Gedanken dieses klugen Intellektuellen und guten
Kenners der israelischen Situation sollten gerade in Deutschland so
manchen, der sich vorschnell und vorurteilsbelastet zum Konflikt
zwischen Israelis und Palästinensern, zum Zionismus und zum
Antisemitismus äußert, zum Nachdenken bringen.
Original Sins: Reflections on the History of Zionism and Israel

Benjamin Beit-Hallahmi
232 Seiten, Verlag: Interlink Pub Group Inc, 1998