Bericht über eine Reise nach Iran
von Elias Davidsson, 6. Mai 2012
Vom 19. bis 29. April 2012 hatte ich Gelegenheit, in einer Gruppe von deutschen Intellektuellen die Islamische Republik Iran zu besuchen. Ich will versuchen, meine vielfältigen Eindrücke zusammenzufassen.
Vorgeschichte
Voriges Jahr (2011) lud mich Dr. Özuguz, der Betreiber der Website Muslim-Markt (der vor etwa drei Jahren ein Interview mit mir geführt hatte) ein, mit einer Gruppe von Nicht-Muslimen aus Deutschland eine Reise nach Iran zu unternehmen. Eine iranische Stiftung würde uns einladen, wir müssten nur die Flugreise selbst bezahlen.Schon damals war mir bewusst, dass das, was uns in den Medien über Iran erzählt wird, einseitig und teilweise verlogen ist. Ich wusste, dass Iran ein relativ moderner Staat ist, wo Ausbildung und Wissenschaft stark gefördert werden, wo die Mehrheit der Studierenden weiblich sind, wo die größte jüdische Gemeinde im vorderen Orient (außer Israel) lebt, und wo wunderschöne Filme produziert werden, die ich mir seit Jahren ansehe. Mir war ebenfalls bewusst, dass der iranische Präsident Dr. Ahmadinedschad weder ein Antisemit noch ein gefährlicher Mensch ist, sondern, wie ich von seinen Reden bei der Generalversammlung der UNO weiß, einer der progressivsten Staatsmänner der Welt. Andererseits kannte ich natürlich auch die glaubhaften Beschuldigungen des Westens, etwa in der Frage der Menschenrechte. Es war mir daher klar, dass, wenn ich die Einladung des “Regimes” annähme, die Feinde Irans mich nach Rückkehr als Freund eines Diktators angreifen würden. Das habe ich in Kauf genommen.Vor der Abreise luden Dr. Özuguz und seine Familie unsere Gruppe nach Hause ein, um uns das Land und seine Staatsreligion, das Schiitentum, nahe zu bringen. Das gab Gelegenheit, ihn und seine Familie so wie die Mitreisenden kennen zu lernen. Diese Begegnung schon vor der Reise war mir ein unvergessliches Erlebnis, geprägt von der persönlichen Ausstrahlung und Menschlichkeit von Dr. Özuguz.
Die Reise selbst
Am 19. April 2012 fanden wir uns alle auf dem Hamburger Flughafen ein. Nach einer ungewöhnlichen Zollkontrolle, bei der unser Handgepäck nach “Geheimdokumenten” durchsucht wurde, verlief der Flug ganz normal.
Bei Ankunft in Teheran spät abends begrüßte uns eine Delegation unserer Gastgeber und lud uns zu Erfrischungen ein, bevor wir zum Hotel gefahren wurden. Wie bei dieser Ankunft waren unsere Gastgeber auf der ganzen Reise um unser Wohlbefinden bemüht und versuchten, allen unseren Anliegen und Wünschen entgegen zu kommen. Es war mir natürlich klar, dass sie uns aus Staatsinteresse eingeladen hatten und nicht, weil sie uns persönlich liebten – sie kannten uns doch gar nicht. Wir haben unsere Begleiter aber als Menschen wie wir selbst erlebt, ihre Freundlichkeit war unverfälscht. So empfanden wir das alle.
Man kann ein Land wie Iran natürlich nicht in neun Tagen in seiner Fülle und Vielfältigkeit kennenlernen, ein ganzes Leben würde dazu nicht reichen. Selbstverständlich wollten unsere Gastgeber uns die Aspekte der iranischen Gesellschaft näher bringen, die sie positiv bewerteten. Um die Schattenseiten des Lebens in Iran kennen zu lernen, brauchte ich nicht dahin zu reisen. Dafür genügt es, deutsche und andere westliche Zeitungen zu lesen, die Jahr ein Jahr aus die islamische Republik Iran und ihre Führung kritisieren und verteufeln.
Auf der Busfahrt vom Flughafen Imam Khomeini zum Hotel nahmen wir unsere ersten Eindrücke auf. Wir waren über die Modernität und Sauberkeit erstaunt. Ungewollt verglich ich das mit den Eindrücken bei meiner ersten Reise nach New York, als ich als 19-Jähriger zum ersten Mal von Hamburg in die USA flog. Schäbig, schmutzig und deprimierend waren mir die Häuser und Straßen auf dem Weg vom Flughafen nach Manhattan vorgekommen. Ich wollte beinah heulen und sofort zurück nach Europa. Die Reise von Flughafen in die Stadt Teheran war dagegen eine großartige und schöne Überraschung.
Es fällt mir schwer, meine Beobachtungen mit der wünschenswerten Kürze wiederzugeben. Die Aufzählung der einzelnen Besuche und Treffen, der Vorträge und Besichtigungen würde kaum die Tiefe der Eindrücke vermitteln. Meine Mitreisenden von der Arbeiterfotografie haben Iran etwas zugespitzt als das “Land der Liebe” bezeichnet. Das Wort Liebe kam oft vor, nicht bei Verkaufsgeschäften (wie manchmal bei uns), auch nicht als Lippenbekenntnis, sondern als Bezug der iranischen Politik. Wer könnte sich vorstellen, dass deutsche Politiker ihre Maßnahmen als Ergebnis der Gottesgnade oder der Liebe bezeichnen? Überall trafen wir auf natürliche Freundlichkeit, Gastfreundschaft und menschliche Rücksichtnahme, auch bei unbekannten Menschen auf der Straße. Iraner sind für Höflichkeit und Rücksichtnahme bekannt. Wir könnten davon lernen.
Unsere Gastgeber von der Stiftung Ebn Sina (Avicenna), die unter der Führung von Imam Ali Khamenei steht, hoben immer wieder den islamischen Charakter Irans hervor. Da die meisten unserer Gruppe nicht religiös sind und gar nicht Muslime, war das ständige Pochen auf die religiöse Basis des Regimes ein wenig irritierend. Ich möchte das nicht kritisieren, denn Iran kann man nicht ohne Bezug auf den schiitischen Islam verstehen. Anders als bei uns sind Religion, Politik und Ethik in Iran zusammengeflochten. Wer Iran verstehen will, muss den schiitischen Islam kennen. Gewiss gibt es viele Iraner, die auch von den ständigen religiösen Predigten genervt sind und die möchten, dass sich das ganze System lockert, z.B. was das Tragen des Kopftuches und die Separation zwischen Frauen und Männer betrifft. Die religiösen Herrscher des Landes sind sich über diese Irritation völlig bewusst. Dennoch empfand ich dass die Ausübung der Religion ein organischer Bestandteil des täglichen Lebens vielen Iraner darstellt, und nicht von allen als “von oben” aufgezwungen empfunden wird. Die religiöse Indoktrinierung der Jugend läuft parallel zur Förderung der Naturwissenschaften und der modernen Ausbildung und kann daher nicht mit Ablehnung der Moderne bei den Taliban verglichen werden. Wir erlebten vielfach, dass die Menschen die Religion ernst nehmen. Eine säkulare Regierung in Iran, bzw. die Säkularisierung des Staates, würde bei großen Teilen der Bevölkerung Widerstand finden, ganz besonders bei der Arbeiterklasse und auf dem Land. Viele Iraner konnten nicht begreifen, dass wir Reisenden nicht alle an Gott glaubten. Sie gingen davon aus, dass wir alle den Christentum, bzw. Judentum praktizieren, und sprachen uns als Gläubige an.
Unsere Gastgeber versuchten uns über das Schiitentum durch vielfältige Veranstaltungen zu veranschaulichen und erklären. Ein gelehrter Muslim, Ajatollah al-Shirazi, wurde eingeladen mit uns zu sprechen. Er sprach von der heiligen Maria, Mutter Jesu, die von den Schiiten neben Fatima, der Tochter des Propheten, verehrt wird, um uns davon zu überzeugen, dass der Islam kein Feind der Christen ist. Unsere Gesprächspartner betonten auch, dass die Muslime auch die jüdischen Propheten, von Moses abwärts, verehren. Sie wollten Hetzpropagandisten etwas entgegensetzen. Immer wieder versuchten sie, ihre Kultur, Religion und Politik zu erklären und zu verteidigen, obwohl es bei uns Reisenden nicht notwendig war. Man brauchte uns nicht davon zu überzeugen.
Ein Referent erklärte uns, welche ethischen Eigenschaften Imame erfüllen müssen, um gewählt zu werden, und welche Rolle sie spielen. Eine Besonderheit besteht darin, dass die höchste Instanz des Irans, nicht ein Politiker, sondern ein Geistlicher ist, der nicht nur strikte ethische Voraussetzungen erfüllen muss, sondern auch einen bescheidenen Lebenswandel haben muss.
Nach dem Tode des Imams Khomeini, des Vaters der islamischen Revolution, wurde der Imam Ali Khamenei als oberster Führer gewählt. Er wird von einem 85-köpfigen Gremium von sog. “Experten” gewählt, die auch dafür Sorge tragen müssen, dass sich das Oberhaupt an die Regeln des Islam hält. Diese Experten werden direkt vom iranischen Volk gewählt. Parallel werden Parlament und Staatspräsident vom Volk gewählt.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass nicht der Staatspräsident, sondern Imam Ali Khamenei der höchste Befehlshaber der iranischen Streitkräfte ist. Im Rahmen seiner Befugnisse hat Imam Khamenei mehrfach betont, dass Iran weder nach Atomwaffen strebt noch auch danach streben darf, weil solche Waffen unmenschlich sind und daher eine Sünde gegen den Islam wären. Er hat wiederholt die Staaten der Welt aufgefordert, Atomwaffen zu vernichten, und er spricht sich für eine atomwaffenfreie Zone in vorderen Orient aus. Solche Äußerungen sind in den westlichen Medien selten wiedergegeben worden, oder es wird einfach Heuchelei unterstellt. Westliche Machthaber haben Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass der Imam aufrichtig ist und sich bei seinen Entscheidungen an ethische und religiöse Normen gebunden fühlt.
Wir besuchten das iranische Parlament, wo gerade eine Debatte über den Status von Lehrern stattfand, und kamen mit einigen Abgeordneten zusammen, darunter Vertretern der jüdischen und der christlichen Gemeinschaften, die nach der Verfassung mit wenigstens je einem Vertreter im Parlament vertreten sein müssen. Leider konnten wir mit diesen Parlamentariern kein Gespräch führen, die Zeit war zu knapp. Wir hatten aber auch den Eindruck, dass sie nicht sonderlich an einem Gespräch interessiert waren.
Einer der Höhepunkte der Reise war ein Besuch in der Nationalbibliothek in Teheran. Eine so schöne und gut eingerichtete Bibliothek habe ich in Deutschland noch nicht gesehen: eine bezaubernde Architektur, die Räume großzügig dimensioniert, mit der neuesten Technik ausgestattet. Die Bibliothek, deren Einrichtungen für Forscher und Studenten frei zugänglich sind, beherbergt rund 1,5 Mio. Bücher und Handschriften, die meisten in persischer Sprache. Ich entdeckte eine erstaunliche Zahl von wissenschaftlichen Zeitschriften in Persisch auf jedem Feld, sei es Wirtschaft, Politik, Naturwissenschaften oder Recht. Auf jedem Gebiet gab es Dutzende von Zeitschriften, auch zu Spezialgebieten. Leider waren nur die Titel auf Englisch. Wenn man aus den Titeln schließen darf, stehen sie für ein hohes Niveau der wissenschaftlichen Forschung.
Über unseren Empfang bei Präsident Ahmadinedschad haben sich bereits die Gegner Irans ausgelassen. Leider hatten wir keine Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen und ein Gespräch mit ihm zu führen, die Zeit war zu knapp. Auftreten und Körpersprache zeugten von natürlicher Selbstsicherheit bei gleichzeitiger Zurückhaltung und Bescheidenheit. Mir wurde erzählt, dass er auch privat ein sehr bescheidenes Leben führt. Seine Ausführungen gegen die USA, die durch Wirtschaftssanktionen und militärische Drohungen Iran eigentlich den Krieg erklärt haben, waren nicht von Hass oder Zorn geprägt. Solche Persönlichkeiten würde man sich auch im Westen als Präsidenten wünschen.
Leider haben wir wenig über die Entwicklung der Wirtschaft, über soziale Einrichtungen oder über die Menschenrechte erfahren. Wir hatten aber Gelegenheit, mit Vertreterinnen von Frauenorganisationen zu sprechen, darunter die Beraterin des Präsidenten in Frauenangelegenheiten. Es soll etwa 8.000 Frauenorganisationen geben, teilweise in Landesverbänden zusammengeschlossen. Dank ihrer Vernetzung können die Frauen auch politischen Druck auszuüben. Was Frauenrechte betrifft, wurde mir klar, dass die iranischen Frauen beim Kampf für ihre Rechte nicht auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Dazu sind sie selbst fähig, sie haben auch den nötigen Zugang zu den Institutionen, um ihre Interessen zu verteidigen.
Uns wurde u.a. über den Stand des Arbeitsrechts und des Erbrechts berichtet, doch ließ die kurze Zeit leider keine gründliche Diskussion zu. Vieles von dem, was wir im Westen über das Familienrecht in Iran hören, erscheint mir nun differenzierter und möglicherweise gerechter als vor der Reise. Angeblich beträgt die wöchentliche Regelarbeitszeit nur 30 Stunden, Männer und Frauen sollen für gleiche Arbeit gleichen Lohn erhalten. Wenn das wirklich so ist, wäre Iran dem Westen weit voraus.
Einen interessanten Einblick in das islamische Strafrecht bekam ich auf meine Frage nach der Todesstrafe. Als Gegner der Todesstrafe wusste ich, dass in Iran häufig Todesurteile gefällt werden. Ich wusste aber nicht, dass Opfer von Kapitalverbrechen oder ihre Angehörigen die Möglichkeit haben, dem Täter zu vergeben. Der Staat verzichtet dann auf seinen Strafanspruch. In der Praxis werden daher die meisten Todesurteile nicht vollstreckt. Die Gerichte sind verpflichtet, den Opfern bzw. ihren Angehörigen zu erklären, dass sie bei Verzicht auf Bestrafung des Täters einen Anspruch auf finanzielle Entschädigung geltend machen können. Vergebung anstelle von Vergeltung. Vergebung spielt im Islam eine wichtige Rolle.
Als die UNO im Sommer 1990 ein Wirtschaftsembargo gegen Irak verhängte, trafen die Maßnahmen die Bevölkerung auch deshalb besonders schwer, weil Irak zwei Drittel seiner Nahrungsmittel importierte, davon vieles aus den USA. Iran wäre davon weniger betroffen, es erzeugt seine Nahrungsmittel und Medikamenten beinah alle selbst. Die westliche Sanktionspolitik hat die Bestreben Irans gestärkt, sich durch eigene Produktion wirtschaftlich unabhängig zu machen. Das ist auch eine der Ziele der Wissenschaftsförderung. Heute produziert Iran nicht nur Autos, sondern ist auf vielen Gebieten der Technik auf dem neuesten Stand.
Ist die Islamische Republik böse, faschistisch wie die Nazis, gar kriegslüstern? Die Gegner werden nicht müde, das Land zu dämonisieren. Geschieht das aus Unwissenheit oder Boshaftigkeit?
Iran hat – im Gegensatz zu Deutschland – seit 300 Jahren kein Land angegriffen, es kennt auch kaum Rassismus, der in Deutschland auch vor 1933 verbreitet war. Der schiitische Islam ist nicht einmal nationalistisch, sondern hat wie das Christentum einen universellen Anspruch. Das deutsche Faschismus beruhte auf Anbetung des Nationalismus und Ablehnung Gottes, während die islamische Republik Iran nicht auf Nationalismus beruht, sondern seine Politik aus dem Gesetzen des gemeinsamen Gottes der Juden, Christen und Muslime ableitet.
Das politische System Irans ist einmalig in der heutigen Welt, kann jedoch – mit Vorbehalt – als ein Experiment der Befreiungstheologie betrachtet werden. Die islamische Revolution wird, ähnlich der Oktoberrevolution von 1917 als Befreiung von Unterdrückung gefeiert. Das iranische Experiment ist noch jung, es ist heute noch nicht älter als 32 Jahre. Iran ist sicher kein Paradies. Auch bei bestem Willen können die Herrscher nicht Traditionen und Gewohnheiten, darunter negative Phänomene, – in absehbarer Zeit ändern. Und sie sind auch nur fehlbare Menschen, wie wir alle. Entwicklung im Sinne der bürgerlichen Menschenrechte hat auch im Westen einige Jahrhunderte gedauert.
Ich frage mich, welches die tieferen, die wahren Gründe sind, weshalb die Besorgnisse im Westen so groß sind, weshalb Interventionen im kleinen und großen Befürworter finden. Ist es, weil das Experiment dem vorherrschenden liberalbürgerlichen und freikapitalistischen Vorstellungen nicht entspricht und sich die Machthaber hegemonialen Bestrebungen widersetzen? Stellt Iran eine Herausforderung des kapitalistischen Systems dar?
Übrigens, niemand von denen, mit denen wir sprachen, äußerte die Befürchtung dass das Land angegriffen werden könne. Die Gelassenheit der Menschen war deutlich. Überall wurde gebaut. Touristen sind herzlich willkommen, viele kehren mit wunderschönen Teppiche und anderen Kunstwerken heim. Fotografieren kann man praktisch überall, ausser – selbstverständlich – Militäreinrichtungen und dgl.
Für einen Humanisten, wie ich mich selbst definiere, war Iran eine Entdeckung, ich würde das Land gerne wieder besuchen. Ich hoffe, dass westliche Staaten den Embargo gegen Iran aufheben und stattdessen eine kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der islamische Republik Iran aufbauen.