Bis ins Detail monströs
Bis ins Detail monströs
Mit einem Dokumentartheaterstück haben Historiker in Berlin an die »Hungerplan-Konferenz« der Nazis erinnert.
Gerd Bedszent
Junge Welt, 13. Mai 2014
Für die Strategie der Nazis, Besatzungstruppen und Hinterland mit Lebensmitteln aus der besetzten Sowjetunion zu versorgen, haben Historiker den Begriff »Hungerplan« geprägt. Der Tod von 30 Millionen Menschen wurde ausdrücklich einkalkuliert. Die tatsächliche Zahl der Opfer läßt sich nur schätzen. 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene überlebten die deutschen Lager nicht. Elf Millionen sowjetische Zivilisten kamen während der Besatzung ums Leben (etwa eine Million allein im belagerten Leningrad). Wie viele davon an Unterernährung, Kälte und Krankheiten starben; wieviele mordenden SS-Wehrmachts- und Polizeieinheiten zum Opfer fielen, läßt sich nicht mehr genau klären.
Am 2. Mai 1941 kamen Staatssekretäre, andere höhere Beamte und Wehrmachtsgeneräle in Berlin zu einer »Hungerplan-Konferenz« zusammen (analog zur Wannsee-Konferenz, auf der ein dreiviertel Jahr später die »Endlösung der Judenfrage« erörtert werden sollte). Das Protokoll dieses Arbeitstreffens ist nicht überliefert, konnte aus Aktennotizen und Arbeitsanweisungen aber weitgehend rekonstruiert werden.
Anfang Mai 2014 vergegenwärtigten Historiker mit einem Dokumentartheaterstück im Kapitulationssaal des Deutsch-Russischen Museums BerlinKarlshorst die Konferenz. Acht ihrer Teilnehmer wurden von zehn Historikerinnen und Historikern gespielt, die alle zum Thema forschen. Sie haben Anordnungen, Richtlinien, Operationsberichte, Briefe, Tagebücher und Memoiren ausgewertet. Unter der Regie des Geschichtsforschers Christian Tietz entstanden eingängige Psychogramme. Auf der Grundlage von kriegwirtschaftlichem Kalkül, deutschnationalem und monströs rassistischem Gedankengut erarbeiteten Bürokraten detaillierte Weisungen für die Ausführenden vor Ort. Für verbrecherisch hielten sie ihr Tun bis zuletzt nicht.
Die beiden Hauptverantwortlichen unter den acht porträtierten Tätern wurden nach dem Krieg hingerichtet. Ein dritter starb in Kriegsgefangenschaft, ein vierter durch Suizid, zwei waren kurzzeitig inhaftiert, zwei wurden nie belangt. Hans-Joachim Rieke (1899- 1986), einer der Hauptorganisatoren bei der Ausplünderung der sowjetischen Gebiete, schrieb 1955 in einem Brief: »Es beseelt mich nur der eine Wunsch, daß unseren nachfolgenden Generationen wieder solche Aufgaben gestellt werden ( … ) Es war für unser liebes, so arm gewordenes Volk.« .
Ergänzt wurde die Theatralisierung in Berlin durch Auftritte von drei eigens angereisten Opfern, die über Folgen der Planung aus eigenem Erleben berichteten. Tamara Bytschok erzählte über ihre Kindheit im Lager Osaritschki im heutigen Belarus: »Wir bekamen nichts zu essen, sehr selten kam ein Auto, und die Deutschen warfen Brot hin mit den Worten: ‚Freßt, russische Schweine!‘ Und die vor Hunger ausgemergelten Menschen warfen sich auf dieses Brot und blieben tot liegen. Sie hatten sich gegenseitig erdrückt. ( … ) Die Deutschen sagten: ‚Alle, die alt und schwach sind, in die Scheune!‘ Als die Scheune voll mit Leuten war, schlossen die Deutschen das Tor, zündeten sie an und sagten: ‚Die übrigen können sich wärmen.‘“
Ein mutiges, auch zeitgemäßes Stück.
historikerlabor.de