Brief von H. Spehl an L. Wagenaar 24. Oktober 1967
Freiburg, den 24. Oktober 1967
Sehr verehrter Herr Wagenaar,
Ich habe aus Jerusalem einen Brief von apodiktischer Schärfe, von alttestamentarischer Strenge, von fast selbstquälerischem Schuldbekenntnis erhalten, der es mir sehr schwer macht, darauf zu antworten. Sie haben mein Stückwerk einer Beweisaufnahme vom Tisch gefegt, Sie haben mir meine Kreise gestört, mein Denkschema kurzgeschlossen. Kommt sich nicht der Intellektuelle ohne sein gewohntes Denkschema verlassener vor als der Spießer ohne sein geliebtes Vorurteil? Sie haben das Problem von einer Seite her angesprochen, wo die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, wo das Urteil über Recht und Unrecht schon ergangen ist. Ich sehe mich der unerwarteten Aufgabe gegenüber, ein Urteil anzufechten, das ich durchsetzen wollte, Sie zwingen mich, nach mildernden Umständen zu forschen, die in der Eile übersehen wurden. Denn die Strenge des Urteils kann nicht unangefochten bleiben, wo die Maßstäbe einer übermenschlichen Moral angelegt wurden.
Kämpfe um Macht, Gebrauch von List und Gewalt, Unterdrückungsmaßnahmen — und man kann diesen Katalog lange weiterführen — sind in unserer unvollkommenen, sehr menschlichen Welt wohl unausrottbare Übel. Daß sie bei allen Völkern mit wechselnder Vehemenz auftreten, sanktioniert ihren Gebrauch gewiß nicht, aber es nimmt ihnen doch sicher einen Teil des absolut Bösen. Man kann vielleicht sagen, daß sich im Laufe der Jahrhunderte stillschweigend Spielregeln ausgebildet haben über das Ausmaß von menschlicher Verruchtheit, die im Umgang zwischen Menschen und Völkern noch als angemessen betrachtet werden. Die Besten aus allen Völkern haben durch ihre Kritik diese Spielregeln hin und wieder etwas zivilisieren helfen, aber man darf kaum erwarten, daß das Falschspiel jemals seine hintergründige Anziehung verlieren wird. Mit gezinkten Karten wird oft genug auf beiden Seiten gespielt, und wenn dabei einer der Kontrahenten Hab und Gut verliert, so wird das als Betriebsunfall in den Geschichtsfolianten abgebucht. Das Zusammenleben der Völker regelt sich nach einer Art Gewohnheits-Unrecht, von dem das kodifizierte Völkerrecht ein mutierter Ableger ist. Nur wenn eine der Parteien die ungeschriebenen Regeln verletzt, regt sich so etwas wie das Weltgewissen. Das ist geschehen, als Hitler durch seinen Krieg die abgesteckten Grenzen zu überschreiten begann, und das ist in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß geschehen, als der Völkermord an den Juden offenbar wurde, und es ist noch einige Male mehr geschehen. Man muß aber hinzufügen, daß das Gewissen sehr weit ist, denn die jahrtausendealte Judenverketzerung durch das Christentum etwa, mit allen ihren scheußlichen Folgen, hat die christlichen Völker bis auf den heutigen Tag wenig beunruhigt. Oder: Die nahezu vollständige Ausrottung der Ureinwohner Süd- und Mittelamerikas durch die spanischen Eindringlinge hat das Weltgewissen nicht erschüttert, und noch weniger wurde es aufgerüttelt durch die zivilisiertere Ausrottungsform der Grundstücksspekulation, durch die in den USA ganze Indianerstämme ausgemerzt wurden. Ich lese in einem Parlamentsbeschluß des Bundesstaates Georgia von 1 825 (gegen eine Entscheidung des Supreme Court, daß den Indianern ihr Eigentum restituiert werden müsse): Es sei richtig, daß die Ansprüche Georgias „mehr auf Gewalt als auf Recht beruhten. Aber es sind Ansprüche, wie sie die gesamte Menschheit anerkennt. Es läßt sich nicht bestreiten, daß Gewalt unter Umständen Recht werden kann“.
Ich sehe es als eine Tatsache an, daß Auseinandersetzungen zwischen Völkern im Grund auf einer vorzivilisatorischen Stufe ausgefochten werden: der Stärkere, der Geschicktere siegt. Die Menschheit hat Mittel und Wege gefunden, diesen archaischen Zustand unter den Mitgliedern e i n e r Gemeinschaft durch einen Verhaltenskodex abzumildern, aber sie ist noch lange nicht so weit, Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften menschenwürdig zu regeln. Mehr als Ansätze dazu sehe ich nicht. Solange das so ist, ist es zumindest wenig sinnvoll, auf Recht zu bestehen, wo keine Instanz das Recht garantiert, oder Wiedergutmachung von Unrecht zu fordern, wo die Maßstäbe nicht gegeben sind, womit es gemessen wird.
Verehrter Herr Wagenaar, Sie werden bemerken, auf welchen Grundlagen ich meine Verteidigung aufbaue, wenn Sie anklagen: „Der zionistische Staat fußt auf schreiendem Unrecht.“ In dieser apodiktischen Schärfe kann ich Ihre Anklage nicht hinnehmen, wenn ich auch die Freimütigkeit Ihrer Selbstkritik bewundere. Hätten Sie gesagt: Der zionistische Staat beruht auf dem zwischen Völkern üblichen Gewohnheits-Unrecht, er ist erwachsen aus der Not eines jahrtausendelang gepeinigten Volkes; hätten Sie gesagt, daß sich Ihr Volk sein Lebensrecht erkämpft mit den gleichen Mitteln, mit denen man es zuvor unterdrückt hat; hätten Sie darauf bestanden, daß Ihrem Volk ein menschliches Maß von Irrtum, Verschlagenheit und Rücksichtslosigkeit zugegestanden wird, ohne das diese Welt ein Paradies wäre: bei allem menschlichen Elend, bei aller Flüchtlingsnot, ich hätte Ihnen mit einem Seufzer zugestimmt. Denn die Probleme des Zusammenlebens von Menschen sind zu komplex, als daß sie mit den Mitteln einer absoluten Moral in Angriff genommen werden könnten. Sie sind selbst das Ergebnis von vorhergegangenen Irrtümern und Ungerechtigkeiten, und man müßte ein Träumer sein, um zu erwarten, daß sie durch absolute Gerechtigkeit aus der Welt zu schaffen wären. Was man fordern muß, ist nicht, daß die Handelnden auf absolute Grundsätze von Gut und Böse festzulegen sind, denn das wäre zuviel verlangt. Selbst gutgemeinte Aktionen entgleiten im komplizierten Mechanismus einer komplexen Gesellschaft der Kontrolle sehr leicht und können sich ins Gegenteil verkehren. Man muß aber fordern, daß die Beschauer bereit sind, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Das kann wohl nur in den seltensten Fällen so geschehen, daß der alte Zustand wiederhergestellt wird.
So sehr ich bedauere, daß sich Israel in der Frage der Palästina-Flüchtlinge bisher so unnachgiebig gezeigt hat, so kann ich doch nicht mit Ihnen darin übereinstimmen, daß Israel diese Misere allein vom Zaun gebrochen hat. Wenn schon nach den Schuldigen gesucht werden soll, was ja den Flüchtlingen auch nicht hilft, so muß die Schuld doch sicher etwas verteilt werden. Die Araber kann man nicht ganz freisprechen. Sie haben um 1948 durch ihre übertriebene Greuelpropaganda, welche die tatsächlichen Gewalttaten der Irgun- und Lechi-Terroristen ins Gigantische steigerte, die arabische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Anstatt die Menschen zum Bleiben zu überreden, hat man sie in panikartige Angst getrieben. Es gab beherzte arabische Männer, die dem entgegengewirkt und ihre Gemeinde zusammengehalten haben, wie etwa das Beispiel Nazareth zeigt. Aber das waren Ausnahmen. Der gleiche Mechanismus hat im neuesten israelisch-arabischen Krieg wieder eine große Zahl von einfachen Menschen ins Elend getrieben. Die systematisch betriebene Volksverhetzung sollte Haß gegen Israel säen und hatte den unvermeidlichen Nebeneffekt, daß die Menschen die Furien der Rache zusammen mit den israelischen Truppen auf sich zukommen sahen. Wieder einmal mehr haben sich die arabischen Führer durch ihre Maßlosigkeit selbst den größten Schaden zugefügt.
Auf der anderen Seite kann man nicht übersehen, daß die Art, wie in Israel über das Flüchtlingsproblem gesprochen wird, alle Merkmale einer Schuldverdrängung aufweist. Begierig hält man an der Legende fest von „wochenlang verbreiteten Aufrufen arabischer Rundfunksender an die arabische Bevölkerung Palästinas, das Gebiet zu räumen, um die arabischen Truppen nicht zu behindern“. Der einzige verbürgte Versuch einer offiziellen Stelle (des Bürgermeisters von Haifa), Araber von der Flucht abzuhalten, muß seither in allen Variationen herhalten, das Gewissen einer ganzen Nation reinzuwaschen. Hat man sich in Israel schon einmal gefragt, ob ein Gerechter ausreicht? Und daß die Araber die Zahl der Flüchtlinge stark übertreiben“, ist für den Israeli durchaus ein Argument, die Flüchtlingsmisere möglichst überhaupt vergessen zu machen [Kommentar] – Abgesehen von allem, was ich über das Flüchtlingsproblem weiß, genügt mir das Aufkommen dieses Verdrängungsmechanismus etwa ab 1957 als Indiz einer sehr direkten zionistischen Mitverantwortung an dem Massenexodus der Palästinenser. Die Methode, mit den unangenehmen Tatsachen auch die verräterischen Schuldkomplexe zu unterdrücken, ist noch nicht gefunden. Aber wenn wir schon beim Verteilen von Schuld sind, so kann das christliche Abendland und vor allem das deutsche Volk nicht leer ausgehen. Ich kann Ihren Gedanken gar nicht so schockierend finden, daß es wohl angebrachter gewesen wäre, Hessen auszuräumen, um den Juden eine Heimstätte zu geben. Wenn es so etwas wie Moral in der Weltgeschichte gäbe, es hätte so ähnlich kommen müssen. Der Gedanke ist mir schon lange unerträglich, daß da ein Zusammenhang besteht zwischen den Verbrechen der Nazis und dem Leid von Hunderttausenden von arabischen Familien. Ich habe auf dem Höhepunkt der neuerlichen Flüchtlingsmisere, Ende Juni, versucht, einen Hilferuf für die Flüchtlinge in der hiesigen Lokalzeitung unterzubringen. Nachdem man mich zehn Tage lang vertröstet hatte, erhielt ich das Manuskript mit der Bemerkung zurück, daß die ganze Darstellung zu schief sei. Da war ein Satz am Rande mit einem Ausrufezeichen versehen worden. Dort stand: „1,3 Millionen Palästina-Flüchtlinge gehen zu einem schwer abschätzbaren Teil auch auf unser Schuldkonto.“ Ich war wohl irr, als ich annahm, so etwas würde bei uns gedruckt werden.
Ich stimme mit Ihnen völlig darin überein, daß, nach allen erdenklichen Kriterien, den Arabern bitteres Unrecht geschehen ist. Man hat ihnen ein Stück ihrer Welt weggenommen, um ein Problem zu lösen, an dem die halbe Welt, aber gerade die Araber überhaupt keine Schuld haben. Aber das Unrecht wurde erst dadurch zur Tragödie eines Jahrhunderts (wobei der größte Teil der Tragödie noch aussteht), daß es ein Volk traf, das vollkommen unfähig ist, mit diesem Schicksalsschlag in rationaler Weise fertig zu werden. Die arabische Mentalität ist mir verschlossen, aber ich glaube, einen Hang zur Anarchie zu bemerken, eine Vorliebe für destruktives Denken, eine Bedenkenlosigkeit in der Zerstörung der eigenen Werte um abstrakter Begriffe willen, wie Ehre oder Stolz. Ein arabischer Dichter sagt: „Möge uns niemand stolz und überheblich behandeln, denn wir können alle an Mut und Dummheit übertreffen.“ Den Arabern hat alles geschadet, ihr Mut gleichermaßen wie ihre Dummheit. Die politische Raffinesse der Israeli entzündet sich an der Dummheit der Araber und die Dummheit tobt sich an der politischen Raffinesse aus. Israel hat damit den „idealen Gegner“. Die Bejubelung der israelischen Blitzkrieg-Strategie ist deshalb eine bedenkenlose Unverschämtheit. Wahrscheinlich verbirgt sich dahinter mehr geheime Mordlust als hinter den martialischen, offen ausgesprochenen Morddrohungen der Araber. Die Hartnäckigkeit, mit der die Araber an ihrer blutigen Fata Morgana eines Gemetzels festhalten, wider alle Vernunft, wider die eigenen Interessen, charakterisiert eher den Zustand der Araber als ihre Absichten. Deshalb darf man die Völkermorddrohungen der arabischen Führer wahrscheinlich nicht zu wörtlich nehmen, aber es kann natürlich gut sein, daß eine außer Kontrolle geratene Masse sie wörtlich durchführen würde. Ich glaube, daß sich die israelische Bevölkerung unter den gegebenen Umständen wirklich bedroht fühlen kann, aus welchen Gründen auch immer, aber ich glaube, daß auch ein im Exil erworbener Charakterzug der Juden eine Rolle spielt, nämlich die Neigung, zwischen Optimismus und Pessimismus zu schwanken, selten zum richtigen Zeitpunkt. Die Hitler’schen Drohungen wurden in erschütternder Weise unterschätzt, die Nasser’schen Slogans überbewertet. Allerdings nicht bei Zahal, wie man jetzt immer deutlicher erkennen kann.
Aber was immer man sich an Entschuldigungen ausdenken mag, die wütende arabische Propaganda ist unerträglich. Daß sich in die Propaganda um die totale Ablehnung des zionistischen Staates offene antisemitische Ausfälle eingeschlichen haben, sehe ich mit äußerstem Unbehagen. Als ein besonders krasses Beispiel möchte ich einen Vortrag über „Die Verachtung des Christentums in Israel“ anführen, den Radio Kairo am 11. August 1967 gesendet hat:
„ … Die Israeli waren das erste Volk in der Geschichte, das eine gewisse Politik der Rassendiskriminierung praktizierte. Es war unausweichbar, daß ein Konflikt zwischen der veralteten Religion des Judentums und dem Christentum ausbrechen würde, dem Christentum, das sich zur Liebe, Frieden und Gleichheit aller Menschen bekannte. Die Christen erlitten wilde Verfolgungen und Folterungen durch Israel. Wir haben erfahren, daß die zionistische Haltung dem Christentum gegenüber nur eine Fortsetzung der Vergangenheit ist, mit allen Aspekten der Verfolgung, des Terrors und der Mißachtung, vor allem in der Israelischen Unabhängigkeitserklärung…“ „ … Wir kommen nun zu einer der gefährlichsten Prinzipien der israelischen Lehre: Wenn Du zu unserem Besitztum gelangen willst, so ist es notwendig, daß Du keinen anderen Glauben hast als den unseren. Deshalb ist es unsere Pflicht, alle anderen Religionen zu bekämpfen. Und wenn es zum Atheismus führen sollte, so ist es dennoch nicht gegen unsere Ansichten. Diese würden einzig als eine Frage der Evolution und Veränderung angesehen werden. In diesem Geiste setzten die Zionisten ihre Feindseligkeiten den christlichen und islamischen Völkern gegenüber fort. In ihrer Lehre wird ausdrücklich betont: Die Zeit ist nahe und die vergangenen Ereignisse versprechen uns die Zukunft, die bald verwirklicht werden wird. Ihr kennt das Geheimnis unserer Beziehungen zu den Christen und ihr kennt die Geheimnisse unserer Wirtschaftsmacht. Wir haben die größte Macht in unseren Händen, nämlich die des Goldes. Wir, die wir dieser zerstörten Welt alle Kultur und Freiheit jedes Individuums gegeben haben, das Ruhe, Frieden und gute Beziehungen haben wird, unter der Bedingung, daß es sich unseren Gesetzen unterwirft. Die Zionisten halten sich strengstens an die Prinzipien des Talmud: Du darfst, ja es ist sogar Deine Pflicht, den Besten unter den Christen Zu töten. Wir bitten Dich oh Gott, alle Christen und Heiden zu vernichten und ihre Namen aus dem Buch der Ewigkeit zu streichen und sie als Verworfene zu betrachten. Die zionistische Verfassung bedroht also die Christen im allgemeinen …“
Diese primitive Gemeinheit halte ich für weit gefährlicher als die offene Drohung mit Liquidierung der Israeli, die doch nicht möglich ist. Aber ich übersehe nicht, daß Methode, Wortschatz und Stil dieser antisemitischen Verleumdung aus dem christlichen Abendland importiert ist, da die Araber ganz offenbar aus eigener Tradition nichts schöpfen können. Ich fürchte, da ist zusammen mit dem Staat Israel ein Bazillus in die mohammedanische Welt gelangt, der das Morgenland noch lange vergiften wird.
Dieses schleichende Gift steht auch Ihrer Vision eines „Größeren Syrien“ entgegen, eines arabischen Staates mit Gruppen-Autonomie für Juden und Christen als Minderheit. Aber auch aus anderen Gründen scheint mir diese Vorstellung keine reale Möglichkeit zur Lösung des seit Jahrhunderten bestehenden Problems zu sein. Die historischen, geographischen und demographischen Einzelheiten des Gebietes, das Sie mit „Größeres Syrien“ umreißen, sind mir nicht geläufig, und ich kann von dieser Seite her nichts sagen. Ich glaube jedoch, daß das Gefälle der Intelligenz zwischen den Juden und Arabern, das Gefälle der Lebensgewohnheiten und der Mentalität keine Grundlage abgeben können für ein friedliches Nebeneinander in einem Staat. Es sei denn, ein totaler Orientalisierungsprozeß bei den Juden würde Niveaugleichheit herstellen. So etwas haben Sie offenbar auch im Sinn; aber halten Sie diese Entwicklung für wahrscheinlich? Doch selbst wenn es zu diesem Gebilde des größeren Syrien kommen würde, was wäre damit für die zerstreute Judenheit gewonnen? Ein Asyl mehr für einen kleinen Teil Ihres Volkes, mit allen Gefahren, welche die Asyle der Juden seit jeher zu latenten Verließen machten. Ich glaube nicht, daß diese Gefahren in irgendeinem Teil der Welt endgültig verschwunden sind. Man darf wohl nicht so sicher sein, daß das Wiederauftauchen der „Protokolle der Weisen von Zion“ 1963 in Spanien (gerade rechtzeitig zum vatikanischen Konzil, auf dem über die zukünftige Haltung gegenüber den Juden beraten wurde) nur ein Nachläufer des alten Antisemitismus ist. Es könnte auch ein Vorläufer des neuen sein. Die christlichen Kirchen haben noch längst nicht alle Giftpfeile verschossen und das Gift ist lange wirksam. Und nun ist die islamische Welt dabei, von den gleichen Bakterien infiziert zu werden. Das alte Elend in neuem Gewand wird gar nicht so lange auf sich warten lassen.
Ist da nicht der Staat Israel der Beginn einer echten Alternative zum Zustand des ewigen Asyls? Eine ganze Reihe von Problemen muß gelöst werden, aber am Konzept des eigenen Staates muß nicht unbedingt gerüttelt werden. Man könnte sich vorstellen, daß eine sehr gemäßigte Regierung, nach einem schmerzhaften Umdenkprozeß des ganzen Volkes, bei den Amerikanern und anderswo Anleihen aufnimmt und die Palästinaflüchtlinge entschädigt, in effektiver Form und ausdrücklich großzügig. Das ist keine moralische Lösung, sowenig wie die „Wiedergutmachung“ durch Deutschland, aber sie ist erfolgreich. Der arabischen Demagogie würde langsam der Boden unter den Füßen weggezogen. Allerdings ist mir klar, daß dieser Weg wohl nicht mehr lange beschritten werden kann. Es kann gut sein, daß der Schock des Juni-Krieges zu einem Erwachen des palästinensischen Volkes führt. Dessen Nationalismus wird dann ziemlich sicher jede gemäßigte Politik unmöglich machen [Kommentar]. Vorläufig noch ist der enge israelische Nationalismus das Haupthindernis einer vernünftigen Lösung. Daß ein gewisses Maß an Nationalismus zur Entstehung und Entwicklung eines neuen Staates, unerläßlich ist, weiß ich sehr gut. Er liefert die untergründigen Energien, die für eine so gewaltige Aufgabe zur Verfügung stehen müssen.
Ideologien sind die Weiterentwicklung der tierischen Instinkte, durch die die Natur ein kollektives Verhalten erzwingt. Der Nationalismus müßte allerdings langsam anderen, gemäßigteren Formen von Gemeinregulativen weichen. Daß in Israel nach dem jüngsten Krieg genau das Gegenteil der Fall ist, kann ich sogar aus der Ferne sehen. Die Nachrichten darüber fließen mir nur in kleinen Dosen zu, aber stärkere Dosen dieser Art sind für den Außenstehenden auch kaum zu verkraften. Ich habe einige Kostproben geschmeckt, als ich mich kürzlich in Boston mit israelischen Freunden zwei Nächte lang herumgebalgt habe. Für die Araber hat dieser letzte Krieg katastrophale Folgen gehabt. Aber niemand wird mich davon abbringen, daß die Katastrophe für Israel noch größer war, wenn auch von einer Art, die sich für einige Zeit mit allen Hochgefühlen eines Vollrausches ertragen läßt.
So kann ich leider mit nur wenig Optimismus in die Zukunft sehen. Ich sitze da, mit all meinen Zeitungen, Tonbändern und Büchern und wo ich hinsehe und hinhöre, überall nur Phrasen, Rechthaberei, Propaganda, Worte, Worte, Worte. In dem allgemeinen Gebrüll suche ich nach der Stimme der Vernunft. Ich kann die arabische Hetze, diese dummdreiste Unflätigkeit nicht mehr ertragen. Ich kann diese Stimmen nicht mehr hören, die „Schalom“ sagen und „Groß-Israel“ meinen (oh, das Wort stammt nicht von mir. Rabbiner Halevy aus Rishon le-Zion hat es über die Lippen gebracht). Ich möchte hinausschreien: Seid ihr denn alle wahnsinnig, wißt ihr nicht, daß es um Menschen geht, Menschen, die nur dieses eine, einzige Leben haben. Laßt sie doch um Himmels willen diese 60 Jahre in Ruhe mit eurem Wahnsinn! — Ja, ich weiß, das ist zu simpel.
Verehrter Herr Wagenaar, an was soll ich denn glauben, wenn nicht an eine Verständigung beider Brudervölker auf der Basis des Vergleichs? Daß dieses Israel, das nicht nur auf Unrecht, sondern mit mehr Schweiß, Tränen, Verzweiflung und Hoffnung gebaut ist, daß Israel wieder verschwinden soll, daran kann ich nicht glauben. Soviel Wahnsinn kann nicht in dieser Welt sein. Kann es nicht sein, daß Leute wie Sie eine Verschwörung der Vernunft anzetteln, nicht jetzt, aber irgendwann? Die Wandelbarkeit des jüdischen Geistes und die Unberechenbarkeit der arabischen Mentalität könnten zusammenwirken, daß nicht unbedingt ein Wunder geschehen muß, um die Brudervölker zusammen zu bringen. Kann es nicht sein, daß das bloße Bekennen von eigener Schuld eine gewaltige menschliche Energie freisetzt, die über alles Leid hinweg Probleme in Nichts auflöst? Ich glaube an solche Energien, und ich sage Ihnen: Ihr Brief, Ihre Bereitschaft, Unrecht einzugestehen, erweckt mehr Sympathie, als eine ganze Propagandamaschine mit allen Kibbuzgeschichten, Wüstenbesiedlungslegenden und Zahalmythen einzuhämmern vermag.
Aber vor allen Einwänden, vor aller Sympathie steht etwas ganz anderes, wenn man Ihren Brief zum ersten Mal liest: Die Erschütterung, daß von solcher Art unsere Mitbürger waren, die ein verbrecherisches Regime und ein hysterisches Volk als Untermenschen klassifiziert hat; das schmerzhafte Bewußtsein, daß von dieser Art die Menschen sind, die aufs Neue einem ungewissen Schicksal entgegensehen; der ohnmächtige Zorn, daß wir die Besten eines solchen Volkes hingemordet haben. Das steht in schweren Lettern über allem, was zur Tragödie Israel und die Araber zu sagen ist.
Ihr Helmut Spehl