Brief von L. Wagenaar an H. Spehl 10. Januar 1968
Jerusalem, den 10. Januar 1968
Sehr geehrter Herr Spehl,
Es ist klar, daß der Mißbrauch von Religion für politische, sowie von Politik (weltliche Macht) für religiöse Zwecke ebendiese Zwecke korrumpiert. Das kommt wohl daher, daß Politik (das Wort besagt es) diesseitig ausgerichtet ist, Religion dagegen eine „Bindung“ an das jenseitige oder allenfalls metaphysische Außerpoliteiische ist. Ein chinesisches Wort: solange man die Elemente getrennt hält, kann Feuer Wasser dienen, aber mischen darf man sie nicht.
Von jeher haben menschenbewegende Kräfte einen Mythos zuhilfe genommen, besonders wenn es um Landnahme, Eroberung, Unterjochung anderer, wirtschaftliche Expansion, Kolonisierung und dergleichen ging. Der Zionismus, dieser Mythos des 19. Jahrhunderts, geht nach diesem altbewährten Rezept vor. Das soll uns aber nicht stören, auch diese Bewegung im rechten Licht und ohne Strahlenkranz zu bewerten.
Der Zionismus ist von der ersten Minute an eine verbrecherische Organisation gewesen, nur darauf aus, das machtlos darniederliegende Brudervolk der Araber für immer zu entrechten. Wäre nicht der Zionismus, so hätten die muslimischen Länder zwischen Marokko und Indonesien, Länder, wo es niemals Judenhaß gegeben hatte, sämtliche Opfer russischer, osteuropäischer und deutscher Judenverfolgungen mühelos aufgenommen. Sie haben ja selbst ganz richtig bemerkt, daß die überwiegende Mehrheit dieser Menschen die freie Welt außerhalb Palästinas mehr gelockt hat; heute würde man sagen: sie haben mit ihren Füßen gegen den Zionismus gestimmt. Daher ist meine Frage, was suchten wir Juden in einem dejudaisierten Lande, mit Ihrem Hinweis auf die Notwendigkeit eines Refugiums nicht beantwortet. Denn, bei Gott, in den muslimischen, besonders in den arabischen Ländern, hätten die geplagten Juden einen Platz gefunden, wo sie in Ruhe leben und sich kulturell behaupten und entwickeln könnten.
Ja was wollen denn Ihre jungen israelischen Freunde mit ihrem etwas nüchternen, von Ewigkeitswerten entschärfen Nationalismus: Was für ein Nationalismus ist das noch? Jüdischer gewiß nicht (es sei denn nach Nürnberger Maßstäben); vielleicht etwa israelischer oder auch kanaanäischer? Aber passen Sie auf, dann komme ich wiederum mit meiner Frage, was wir im Lande unserer jüdischen Tradition noch suchten und mit welchem Recht wir uns hier Ellbogenraum (um nicht zu sagen Lebensraum, obzwar es nur recht und billig wäre, das Kind beim Namen zu nennen) verschafft haben. Und auch: ob das noch kompatibel ist mit dem Herbringen von so vielen orientalischen Juden?
Über den von Ihnen zitierten Passus aus I. Sam. VIII könnte ich Ihnen vieles schreiben, aber wir wollen doch keine Theologie treiben. Es möge reichen, Sie an Deut. XVII: 14ff zu verweisen und zu bemerken, daß es die e r s t e Kollektivpflicht Israels ist (vorausgesetzt, die Mehrheit des Volkes ist in Erez Israel [Erez Israel: Land Israel, traditionelle Bezeichnung des israelischen Kanaan. Der hebräische Name für den modernen Staat Israel ist Medinath Israel – H.S.), einen König über das Land zu bestellen (Kodex des Maimonides). Worum es aber bei Samuels Widerstand ging war gerade, daß die Israeliten „wie die Gojim“ sein wollten, und das paßt nicht ins Konzept eines theokratischen Königs nach deuteronomistischen Erfordernissen. Sie sind natürlich (vom goischen Standpunkte aus) ganz berechtigt, die Haltung des Volkes als gesunden politischen Instinkt zu werten. Es bleibt dann der Theologie vorbehalten, zu bestimmen, ob Sie damit den göttlichen Absichten gemäß (und urteilsfähiger als Samuel!) gewertet haben, oder ob die Vorsehung, die Unerreichbarkeit eines Idealkönigs vorwegnehmend, der vox populi nachgegeben hat.
Ich habe mich vielleicht nicht deutlich genug, oder zumindest nicht vollständig geäußert über die Auserwählung des jüdischen Volkes. Zwar ist diese Auserwählung eine Mission an die Welt, aber als Geisteshaltung ist sie absolut individuell gefordert. Es gibt keinen Kollektivauftrag an das jüdische Volk, seine Eigenart zu demonstrieren. Die Forderung, ein Priestervolk und Heiligkeitsnation zu sein (Ex. XIX: 6 und öfters in anderem Wortlaut), ist nicht eine Gesetzesvorschrift, sondern eine Aufforderung zur (individuellen) Geisteshaltung. Hier ist die ideale Gesellschaft die Summe aller idealen Individuen. Nur wenn das Kollektiv in den Spiegel schaut, wie sie trefflich bemerken, sieht es verkehrt. Aber wann schon hat das jüdische Volk sich wegen seiner Priestereigenschaft überhoben? Das jüdische Volk soll still durch die Welt und die Zeit gehen, ohne Aufhebens zu machen; und wenn wir dazu erkoren sind, zu leiden, so ist das eben unser Dienst, den wir freiwillig und freudig auf uns genommen haben. Wer den Dienst nicht will, wem das Leiden zu schwer ist, der soll aus dem Kreis heraustreten. Wir verübeln es ihm, aber halten ihn nicht auf. Wer eintreten will, wir machen es ihm möglichst schwer, aber wenn er trotzdem kommt, steht niemand höher in unserer Achtung. Unsere Gemeinschaft ist kein Blutband, es ist eine geistige, eine Glaubensverbindung. Für machtpolitische Konspirationen ist bei uns kein Platz; wer das Exil nicht leiden will, hat andere Ausgänge. Denn das Exil ist kein politisches Faktum, oder jedenfalls nicht primär. Vor allem ist es Glaubensgut. Wer Jude ist und es sein will, hat die Zertreuung als gottgewollt anzunehmen.
Das ist die Haltung der Juden vom alten Jischuw [Bezeichnung für die jüdische Gesamteinwohnerschaft in Israel – H.S.], das ist auch meine Ansicht. Keine zionistische Lügenpropaganda, kein Gebrauch eines dem Hebräischen barbarisch nachgeäfften Ivrit [Ivrit: Das in Israel gesprochene Neuhebräisch – H.S.], keine Handlangerdienste von Rabbinern in Staatsdiensten und nicht die Verirrung von bedauerlich großen Kreisen meiner Glaubensbrüder können mich irre machen: ceterum censeo ein Staat der auf Unrecht, auf Entrechtung fußt, ein „jüdischer“ Staat, der das Judentum gefährdet — muß verschwinden; ein hybrides Staatsgebilde soll nicht das Wahrzeichen der Juden, kann auch nicht deren sicherer Hafen gegen Unbill sein. Ich weiß, daß Sie den Bestand des Staates nicht angetastet sehen möchten, aber da gehen unsere Ansichten eben auseinander. Das jüdische Volk ist schon sehr lange eine kranke Nation. Der Staat Israel ist nur für oberflächliche Beobachter ein Heilmittel; wer tiefer sieht, wer auch den Charakter des Judentums und des jüdischen Volkes kennt, dem ist der Staat eine Komplikation. Eine um so gefährlichere, da sich der Patient sein Wohlbefinden einbildet.
Mit bestem Gruß,
Ihr L. Wagenaar