Brief von L. Wagenaar an H. Spehl 19. November 1967
Jerusalem, den 19. November 1967
Sehr geehrter Herr Spehl,
Das ist ein Gedankenaustausch nach meinem Gusto, und ganz abgesehen vom ausschließlichen Zweck meines SPIEGEL-Briefes als öffentliches Polit-Bekenntnis eines Juden aus Jerusalem vor der sogenannten christlichen, jedenfalls okzidentalischen Welt, sind mir Ihre Briefe genügender Lohn.
Gehen wir systematisch vor: am Anfang war die Definition, denn es kommt mir vor, daß wir in grundlegenden Dingen aneinander vorbeireden. Ihre einleitenden Bemerkungen über internationales Gewohnheitsunrecht kann ich nämlich nur für gewöhnliche Völker akzeptieren, und das ist keine billige Tautologie. Das jüdische Volk nämlich ist, in der Sicht des traditionsgebundenen Juden, keineswegs ein Volk wie alle anderen Völker. Das jüdische Volk ist auserwählt, um anders zu sein, nicht um ein Herrenvolk den anderen, sondern um ein Dienervolk seinem Gotte zu sein, „ein Priestervolk und Heiligkeitsnation“ nach der biblischen Forderung. Und nicht weil wir besser oder mächtiger als diese anderen Völker, sondern gerade weil wir geringer, ja die geringsten unter den Nationen sind, sind wir dazu auserwählt worden, der Menschheit den Monotheismus zu bringen. Der Islam ist das Resultat, und wenn das Christentum zum Arianismus zurückfinden könnte, dann würde der überwiegende Teil der Menschheit seine Geisteshaltung aus dem Eingottestum herleiten, niemand würde sich über seinen Bruder erheben können mit dem Anspruch, „es“ besser zu wissen, „es“ besser zu tun, somit besser zu sein und infolgedessen dem Heil näher. Das ist natürlich ein apokalyptisches Bild, eine metaphysische Vorstellung, woran man glauben, worauf man hoffen, wohin man streben kann; worüber man natürlich auch lachen kann. Allerdings hoffe ich, daß darüber in der Stadt eines Husserl, Heidegger, Rahner und anderer ernsthaft gedacht werden kann.
Sind wir Juden aber ein andersgeartetes Volk (nicht andersgeartet im Sinne charakteristischer Unterschiede, wie sie alle Völker aufweisen, sondern weil — verzeihe mir der Physiker meine stotterhafte Bildsprache — die Molekularkräfte des jüdischen Volkes anders ausgerichtet sind); sind wir Juden ein Volk „nicht von dieser Welt“ (und auch Jesus hat sein Königreichswort ohne jegliche Überheblichkeit gesagt), so dürfen wir Juden auch nicht den Maßstab des Gewohnheitsunrechts beanspruchen, so gibt es für unser nationales Verhalten nur das, was Sie „die Maßstäbe einer übermenschlichen Moral“ und „alttestamentarische Strenge“ nennen. Oder was will man denn von uns Juden? Sollten wir etwa das sogenannte Alte Testament ad acta legen? Christen möchten das schon von uns verlangen, aber: was suchten wir dann noch im Lande unserer biblischen Altvordern?
Gerade das versetzt mich in Erstaunen, daß die Christen die Eigenstaatlichkeit der Juden fördern. Ist es doch eine Grundthese des Christentums, daß es die Nachfolge Israels angetreten habe, ja das „wahre Israel“ sei. Ich kann mich nur schwer eines häßlichen Verdachts erwehren: daß die Unterstützung des Staates Israel durch die westliche Welt eine hintergründige, unterbewußte, äußerst subtile Form des Strebens ist, ganz entre nous, judenrein zu sein. Es wäre das kaum Judenhaß im üblichen Sinne, denn die Holländer und die Skandinavier sind gar begeistert vom jüdischen Staat. Es ist das eine Neuauflage der Häuserfrontparole im Vorkriegspolen: „Juden nach Palästina!“, oder der Hitlerschen „Einbahnstraße nach Palästina“. Ob da auch ein leiser Religionswunsch, eine pia vota mitspielt: in einem weltlichen Judenstaat sind die Juden wie Fische auf dem Trockenen, das weiß ich nicht. Aber Religionsneid ist viel zuzutrauen. Ist doch die Existenz, die Weiterexistenz des Judentums dem alleinseligmachenden Glauben nicht sehr bekömmlich! Und wenn sich perfide Juden und Türken am Suezkanal gegenseitig abschlachten, könnte das nicht der Wille des Liebesgottes sein? Ist das nicht so etwas wie die Ausrottung der autochthonen Bevölkerung der westlichen Hemisphäre durch gute Christen, erst Conquistadores, dann Pilgrimfathers? Sie zitieren in Ihrem Brief einen Parlamentsbeschluß Georgias von 1825, wonach „unter Umständen“ Gewalt Recht werden kann. Welches sind denn diese Umstände? Etwa wenn es gegen Nichtchristen geht? Gewiß, man würde das in unserer aufgeklärten Zeit nicht mehr schwarz auf weiß beschließen, aber haben sich die Umstände geändert?
Für uns Juden haben sich die Umstände nicht geändert. Wir haben uns niemals überhoben, heilsnäher zu sein, und dem christlichen Heil haben wir uns auch nicht genähert. Theologisch stehen uns die Muslimin natürlich viel näher als irgendwer sonst, aber das sollte doch für uns keinen Grund abgeben, sich mit ihnen, gerade mit ihnen zu verfeinden, ihnen unprovoziertes Unrecht anzutun! Ob und inwiefern das getane Unrecht aus der Welt geschafft werden kann, ist keine Frage, die der Schuldige in seiner Schuldlage zu erwägen hat. Hat er sich erst zu seiner Schuld bekannt, hat er sich zum moralischen Bekenntnis, zur Anerkennung seiner Schuld durchgerungen, dann erst kommt die Frage auf, ob und in welchem Maße gutgemacht werden kann. Die Herren Zionisten sind noch gar nicht so weit.
In Anlehnung an meine Erwähnung von abgeschlossener Beweisaufnahme, schieben Sie sehr passend Ihr Plädoyer für mildernde Umstände vor dem Urteilsspruch ein. Ganz richtig, die Geschichte wird und muß solche Umstände in Betracht ziehen, wenn es einmal zum Spruch kommt. Aber vorher: bitte den Raub herausgeben! Denn über das Strafmaß läßt sich handeln, nicht aber über das Raubgut. Und damit meine Absicht und meine Anschauungen ganz klar sind: ich spreche nicht über das in diesem Jahr geraubte, sondern über alles, was dem bodenständigen Volk seit 1948 genommen wurde, nämlich ganz Palästina, auch Rehovoth, auch Tel Aviv. Zwar haben Juden diese Flure für gutes Geld ehrlich gekauft und es steht einem privatrechtlichen Titel in jüdischen Händen nichts entgegen. Staatsrechtlich ist aber ein solcher Kauf irrelevant. Wenn halb Brooklyn Juden gehört, wird es dadurch ein jüdischer Staat? Wenn ich in einem der äthiopischen Staatskirche gehörenden Haus wohne, ist hier etwa Abessinien? Sie wissen doch, ‘wie sich die Vereinigten Staaten Land von Frankreich und Mexiko durch Staatsvertrag, durch Hoheitsakt gekauft haben. So eine Art Eigentumsübertragung schafft einen Hoheitsanspruch, aber nicht, wenn Bauern verschiedener Religion unter sich schachern.
Daher: dieser Staat fußt auf schreiendem Unrecht. Es gibt für das jüdische Volk keine Ausrede unterm Titel „Gewohnheitsunrecht“, das ist die sittliche Forderung nicht nur unserer Propheten, sondern auch Balaam [hebr. Bileam: Heidnischer Prophet zur Zeit der Landnahme. Bezug auf Num. XXIII, 21. – H.S.] hat schon verstanden, das zu formulieren. Auch Isaia sagt: Zion wird mit Gerechtigkeit erlöst werden. Was hier und heute vorgeht, ist unjüdisch.
Sie schreiben, es hätte Sie nicht besonders schockiert, wenn etwa Hessen ausgeräumt worden wäre, um den Juden eine Heimstätte zu geben. Darf ich da noch einige Fragen stellen? Primo : geht das auch soweit, dieses urdeutsche Gebiet dem deutschen Volke auf alle Zeit zu verfremden durch Abtrennung von der Bundesrepublik und Gründung eines Judenstaates? Secundo: müßte darüber nicht der Bundestag souverän beschließen, eventuell nach einem Plebiszit? Tertio: würde es das deutsche Volk hingenommen haben, wenn die Alliierten diese Abtrennung vorgenommen hätten, bevor es eine Bundesrepublik gab? Quarto: welches wäre die moralische Berechtigung und somit die historische Rechtfertigung für eine solche Untat gewesen, hätte sich nicht das deutsche Volk so abgründig gegen die Juden verschuldet? Quinto: würden Sie es auch „gar nicht so schockierend finden“, wenn etwa Deutschland während der Besetzung einen Teil Norwegens abgetrennt hätte, um dort einen Judenstaat zu gründen; wo doch die Noren den Juden nichts schuldig sind? Oder würden Sie das als schreiendes Unrecht empfinden?
Aber gerade das ist es, was England in der Balfour-Erklärung getan hat, und zwar unter erschwerenden Umständen. Als die Engländer im Ersten Weltkrieg die Hilfe der Araber gegen deren Oberhoheit, den Sultan in Konstantinopel, brauchten, da versprachen sie dem Scherif von Mekka, dem späteren König Hussein I In ’Ah, die Befreiung der Araber vom türkischen Joch, die Selbständigkeit der arabischen Länder (inklusive Palästina) unter einem Fürst aus dem Hause der Haschemiten, dessen Haupt eben Hussein war. Das war im Sommer 1915. Wie die Araber ihren Teil der Abmachung eingehalten haben, können Sie bei T. E. Lawrence nachlesen. Aber als es in Versailles zur Einlösung des Versprechens kommen sollte, da war nicht nur das Gebiet zwischen dem Iran und Ägypten, der sogenannte Fruchtbare Halbmond, in Einflußsphären zwischen Frankreich und England aufgeteilt (Sykes-Picot-Vereinbarung), da gab es auch plötzlich eine Balfour-Erklärung, die zwar dem Wortlaut nach nicht beabsichtigte, einen nicht-arabischen Staat zu etablieren, aber doch, ohne die bodenständige Bevölkerung auch nur zu befragen, im Herzland der Araber einen Fremdkörper gründete. Das ist, obzwar Sie die Formulierung abstreiten, nach meiner Meinung schreiendes Unrecht, auch wenn ich der Nutznießer davon bin. Zwar liegt das alles schon ein halbes Jahrhundert zurück, aber: sincerum est nisi vas, quodcumque infundis acescit.
Auch ich bin nicht der Träumer, der erwartet, daß alles Unrecht ungeschehen gemacht werden kann. Auch Deutschlands Unrecht ist nicht ungeschehen gemacht worden, aber das Dritte Reich wäre niemals zur Anerkennung seiner Verbrechen imstande gewesen; es hätte sich selbst negiert. Es war daher in jeder Beziehung vollkommen logisch, daß Deutschland als Staat erlosch, denn nur eine völlig neuerstandene, von der verurteilten losgelöste Gesellschaftsordnung kann wiedergutmachen; sich selbst kann ein Staat niemals verurteilen, ins Unrecht setzen. Auch ich bin nicht der Träumer, der erwartet, daß alle Einwanderer seit 1948 oder von noch früher kurzerhand nach Übersee geschickt werden können, um wieder Platz für die arabischen displaced persons zu machen. Ich bin aber auch nicht der Träumer, der ein Umdenken der Israeli in ihrem Staat erwarten darf, ein Umdenken, wonach Häuser und Flure in und um Jaffa, Asdod, Askalon, Akko, Haifa, Jerusalem, Lydda, Ramle, Bersebah sowie halb Galilea und 90 Prozent des Negeb den rechtmäßigen Eigentümern zurückerstattet werden sollten (um einen Ausdruck aus dem deutschen Wiedergutmachungsrecht zu benutzen). Auch bin ich nicht der Träumer, der erwartet, daß die Israeli in ihrem Staat jemals anerkennen werden, daß dieser Staat auf arabischem Boden steht; daß sie jemals verstehen werden, daß dem Araber der biblische „Anspruch“ schon deswegen gar nichts ist, weil er die Bibel überhaupt nicht hat; daß es, nach jüdischem Recht, nach jüdischer Tradition, überhaupt keinen Anspruch auf das Land der Väter gibt, solange nicht der jüdische Messias die Exulanten dorthin zurückführt. Wer das hier behauptet, „der beißt auf Granit“.
Ja, dieser jüdische Messias! Dieser orientalische Begriff, womit man am liebsten schon aufgeräumt hätte; dieser Begriff, der dem Westmenschen so verhaßt, aber auch lächerlich ist; dieser Begriff, woran die verstockten Juden noch immer festzuhalten behaupten, wenn es ihnen paßt, und den sie über Bord werfen, wenn sie von aufgeklärten Modernen aufs Korn genommen werden; dieser Begriff, der doch die Grenzlinie zwischen Judentum und Christentum bildet; dieser Begriff verewigt doch das jüdische Exil. Könnte man doch nur um dieses archaische Überbleibsel antiker Zeiten herumkommen, so könnten die Juden sich entweder einfach, ganz einfach, ihren Wirtsvölkern komplett und spurlos assimilieren; oder aber sich „eine echte Alternative zum Zustand des ewigen Exils“ mit Napalm, Tanks, Mirages und miracles, Schlichen und Kniffen, amerikanischem Geld und aufgepeitschtem Hora-Patriotismus erstehen. Zu Jiddisch, lieber Freund, gibt es ein Wort: „der goy is zum goles nit gewojnt“ und Sie sind lange und intensiv genug in Israel gewesen, um dieses Wort auch ohne Übersetzung zu verstehen. Wir Juden aber haben uns zwar in der Diaspora niemals wohl gefühlt, wissen aber bis in unsere tiefsten nationalen Lebensfasern, daß es nur eine Alternative gibt: entweder, wie oben, komplette Assimilation (und schlagen Sie die Nürnberger Gesetzgebung daraufhin nach, wie lange diese Selbstentjudung braucht); oder die apokalyptische, die messianische Lösung „am Ende der Tage“. Nun mag die Metaphysik nicht gerade Ihre stärkste Seite sein, sie ist auch nicht meine; aber Wissenschaft und Glaube sind eben zwei grundverschiedene und sich gegenseitig abgrenzende Dinge. Und das mag uns beiden doch gleich klar sein: wer durch seinen Glauben lebt und diesen Glauben durchs Schwert ersetzt, verübt Harakiri.
Der Staat Israel ist daher keineswegs der Anfangspunkt einer Endlösung der Judenfrage, Anfang des Endes der langjährigen Zerstreuung. Auch auf dieser Denkebene kann ich mich eines häßlichen Verdachts nicht erwehren: daß hier einer Hoffnung der christlichen Welt Vorschub geleistet wird, das jüdische Volk zu entmessianisieren durch die außerapokalyptische Befriedigung jüdisch-nationaler Träume; mit anderen Worten: das jüdische Volk zu einem Volk wie alle anderen Nationen zu machen, damit endlich die Apartheid des „auserwählten“ Volkes zum Stillschweigen gebracht wird. Wir jüdische Juden aber: uns ist das Exil zwar nicht geheuer, aber immer noch vorzuziehen vor der Entjudung. Das mag dem Außenstehenden als jüdischer Selbsthaß erscheinen, er mag es auch psychologisch zu erklären versuchen, wie man die Freiheitsscheu eines langjährigen Gefangenen begründet. Für uns ist es aber weit einfacher: die Zerstreuung ist eine Qual, ein Unglück, eine Katastrophe; aber als Volk, als Ganzes, leben wir und werden wir leben, solange wir uns nicht mit unjüdischen Operationen entleiben-entgeisten. Die Hilfe aber ist in Gottes Hand.
Nach allem Obigen werden Sie verstehen, daß in meiner Sicht auch der Staat Israel ein Exil ist. Und wenn ich auch in vielen Dingen allein dastehe (und da sage ich gerne, da ich pharisäischer Jude bin, das Lukaswort: Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andre Leute), so ist doch klar, daß hier kaum jemand behauptet, hier sei die Verbannung, der Galut [hebr. Zerstreuung], zu Ende. Die Betenden bitten noch immer, auch hier, tagein tagaus, um die Rückkehr der göttlichen Majestät nach Zion, um den göttlichen Aufbau Zions, denn d a s, und nur das weiß der Jude als das Ende des Exils. Zwar gibt es ein paar wenige, die das Wort Klagemauer nicht mehr hören wollen, die am Gedenktag des Tempelbrandes nicht mehr fasten möchten, usw., aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung macht das nicht mit; entweder ist sie vollkommen liberal und observiert überhaupt nichts mehr von den alten Religionsvorschriften, oder die diasporamäßigen Gebete werden weitergesagt, und zwar nicht aus Gewohnheit und Denkträgheit, sondern aus dem Bewußtsein heraus, daß auch im „eigenen“ Lande noch immer Exilzustand herrscht. Wenn dem so ist, was macht es dann aus, wenn in Groß-Syrien eine jüdische Gemeinschaft, noch dazu mit weitgehender Autonomie, lebt und blüht? Denn nirgends hat es blühendere Judengemeinden gegeben als in den islamischen Ländern! Der babylonische Talmud wurde außerhalb des Byzantinischen Reiches geschaffen, der Palästinensische Talmud bei Überhandnahme des Christentums vorzeitig abgeschlossen, die Midrasch-Literatur, die Hebräische Poesie und die Religionsphilosophie fast ausschließlich in islamischen Ländern kreiert; was in Europa gemacht wurde, war dagegen Epigonenwerk. Die großen Codices des Alfassi, des Maimonides und des Karo, alle sind sie in islamischer Diaspora entstanden, der Ursprung der Responsen-Literatur liegt in Babylonien, auch die Kabbala hat ihre Wurzeln im Orient und wurde im islamischen Spanien formuliert. Nicht nur in unserem Ursprung in frühester Vorzeit sind wir Orientalen; wir sind es auch heute noch, sofern wir uns als Juden an unsere jüdischen Bräuche halten.
Ein Orientalisierungsprozeß ist kein Unglück. Sind denn die westlichen Technokraten, diese überklugen Erben der hirngeborenen Jungfrau, besser oder glücklicher mit ihrer Überentwicklung, mit ihrem immer tieferen Eindringen in Geheimnisse der Natur unter immerwährender Entfernung von dieser Natur? Da liegt vor mir ein Brief, worin ein moderner und trotzdem von moralischen Imperativen angetriebener Naturforscher schreibt: „Ich möchte hinausschreien: seid ihr denn alle wahnsinnig, wißt ihr nicht, daß es um Menschen geht, Menschen, die nur dieses eine, einzige Leben haben. Laßt sie doch um Himmels willen diese 60 Jahre in Ruhe mit eurem Wahnsinn!“ Und weil er eben ein Moralmensch ist, weiß er auch, daß sein Ruf in der heutigen Zeit, in die heutige Welt hinein, zu simpel ist, gehört, verstanden und angenommen zu werden. Der Jude und der Muslim aber würden das nie gesagt haben, daß die Menschen nur dieses einzige Leben haben. Sie richten, und das ist für den Westmenschen der heutigen Zivilisation eine Phantasmagorie, ihren Blick auf ein viel ferneres Ziel, als in einem 60-Jahre-Rahmen zu fassen wäre. Sie leben nicht für diese Welt und deren hauchdünne Zivilisation, die dem Ausgang der Antike verblüffend ähnlich sieht. Für den Juden, der hier inmitten der Araber nicht ausgerechnet ein Stück Europa-Exil begründen will und der bereit ist, sich darauf zu besinnen, daß er als Exulant nur Quasi-Okzidentale ist, der hier leben und in kultureller Eigenständigkeit aufblühen will, müßte es ein Leichtes sein, sich zu re-orientalisieren, jedenfalls leichter als ein Umdenkungsprozeß zur Anerkennung der bodenlosen Schuld den Arabern gegenüber. Ob wir Juden nun wirklich so viel intelligenter als die Araber sind, oder ob wir es uns nur einbilden und es uns die Welt nachplappert, weil wir die schwereren Waffen haben und die Feinmechanik und Elektronik ameropäischer Waffen besser beherrschen; es kann sein, ist aber doch abhängig vom Urteil über die Prävalenz von Zivilisation über Kultur. Letzten Endes: was hier geschieht, nämlich die Entjudung des Judentums, mag sehr klug aussehen, aber ist es das auch? Der Nivellierungsprozeß innerhalb Israels zeigt, daß die orientalischen Juden, schon jetzt weit die Mehrheit, sich zwar den in christlichen Ländern und an christlicher Kultur gebildeten Schichten anpassen, aber die Oberschicht der Intelligenzjuden wandert aus, hauptsächlich im Zuge des amerikanischen brain-drain. Die Zentrifugalkraft der arabischen Intelligenz ist ungemein viel kleiner, so daß in absehbarer Zeit ein Ausgleich in Aussicht kommen dürfte. Dazu kommen die demographischen Unterschiede, wodurch sich auch im Lande die Orientjuden sehr viel schneller vermehren als die Pillenbrüder und -schwestern. Und eher wird die Nachkommenschaft der Europa-Geborenen orientalisch, als die Kinder „rückständiger“ Juden okzidentalisch eingestellt sein. Den pull des Ostens kennen wir noch aus der Zeit der Kreuzzüge. Kleines aber markantes Beispiel: die Kolchosen, die man hier liebevoll Kibbuzim nennt, üben ihre Anziehungskraft nur auf Juden ost-europäischer Herkunft aus; worin natürlich aus historischen Gründen auch viele junge Juden aus Amerika einzubeziehen sind (wenn auch immer nur für kurze Zeit bis zur endgültigen Enttäuschung).
Über „Schalom“-Sagen und etwas anderes meinen, das können Sie schon in der Bibel nachlesen: Jeremias IX: 7, aber auch Isaia XLVIII: 22 und LVII: 21; übrigens soll man die Worte amtlicher Rabbiner in Israel niemals ernst nehmen, sind sie doch nur Staatsbeamte und keine wirklichen Führer. Letzthin faselt auch der Premierminister über Groß-Israel. In der Knesseth [Israelisches Parlament; MdK: Mitglied der Knesseth – H.S.] schimpft ein Mitglied seinen Parteigenossen aus: „Sie sind schlechter als ein Araber“, was natürlich wörtlich protokolliert wird; Diskussion: ob das eine Beleidigung ist (für den Beschimpften!). Leserbrief in Zeitung: wenn ein Nichtjude Anti-Zionist ist, so ist er Antisemit. Überall Bürgerkomitees unter der Losung „Keine Handbreit Boden abgeben!“. Ja, Sie glauben an die Freisetzung gewaltiger menschlicher Energien durch bloßes Bekennen von eigener Schuld. Das Bild ist aus Ihrem Labor, die Phantasie aus meiner Ideologie, und ich fürchte, daß noch viel Wasser durch und viele Flüchtlinge über den Jordan gehen werden, bis unser Streit geschlichtet sein wird, wer von uns der größere Phantast ist. Meines Wissens bin ich, zumindest in dieser Hinsicht, der einzige und auch wohl einzigartige Nonkonformist, und Einflußnahme auf die Politik ist ausgeschlossen. Diese armen Juden, sie haben nichts mehr von ihrem Judentum als den Zionismus, und wenn man ihnen diesen als unjüdisch nachweist, so sind sie hilflos, verloren in einem fremden Land (denn nur der Zionismus bindet sie hier!); sie bevorzugen es dann, die Augen und Ohren zu verschließen und sich an den Strohhalm ihres Pseudo-Judentums zu klammern. Wer ihnen aber die Augen und Ohren gewaltsam aufreißt — ist Antisemit, auch als Jude. So müssen wohl auch die Männer vom 20. Juli empfunden haben: mitten in ihrem Volke, quer gegen ihr Volk, aus Liebe für ihr Volk.
L. Wagenaar
PS: Das mit Radio Kairo, ist das authentisch? Woher dieser Text?