Brief von L. Wagenaar an Helmut Spehl 28. Sept. 1967
Jerusalem, den 28. September 1967
Sehr geehrter Herr Spehl,
Für Ihre Zuschrift bin ich Ihnen besonders dankbar. Was da an den Umstanden zu ungewöhnlich sein soll, als daß Sie auf eine Entgegnung rechnen könnten, ist mir nicht ganz verständlich. Sie glauben doch hoffentlich nicht, ich hatte mir in Auschwitz nazistische Wahnvorstellungen zugelegt, etwa die kollektive Entehrung, besser: Ehrlosmachung eines Volkes unter Stigmatisierung eines jeden einzelnen Volkszugehörigen! Wo kämen wir da hin? Mit solchem Verhalten würden wir doch gerade den Nazis Recht geben.
Aus Ihrem Brief mitsamt Anlage erhellen drei Attribute des Schreibers: ein großes Herz, ein waches Gewissen und ein scharfer Blick. Im großen und ganzen kann ich Ihre Analyse nur schätzen. Allerdings sind unsere Ausgangspunkte nicht identisch. Der Leserbrief im SPIEGEL war ein Ausschnitt aus einem viel ausführlicheren Brief, der wohl Platzmangels wegen nicht ganz abgedruckt werden konnte. Die Schriftleitung hielt (so glaube ich annehmen zu dürfen) den Auschwitz-Hinweis für genügend pikant, um da einzuhaken, aber was diesem Schlußpassus voranging, war, nach meiner Meinung, viel wichtiger. Manchmal aber fehlt es auch bei wirklich freien Schriftleitungen an Zivilcourage. Ich merke das so off, denn ich schreibe öfters an Zeitungen in der freien Welt. Die Herren stehen aber anscheinend unter einem Terror, und jeder hat heute Angst, als Antisemit verschrien zu werden (als ob ein Anti-Zionist auch Antisemit wäre!). Jedenfalls erlaube ich mir, Ihnen in der Anlage eine Durchschrift meines (kompletten) Leserbriefes an den SPIEGEL zugehen zu lassen. Mein Standpunkt wird Ihnen dadurch deutlicher werden, und ich fürchte, daß Ihren arabischen Studenten der Inhalt besser gefallen wird als Ihnen.
Sie schreiben an Herrn…: Die tödliche Feindschaft zwischen den Israeli und den Arabern hat eine lange und leider zwingende Vorgeschichte. Ich teile diese Meinung nicht. Es ist das Christentum und es ist die christliche Welt, die das jüdische Volk seit fast zweitausend Jahren verfolgt, gehaßt, enteignet und entehrt hat. Warum, das ist Ihnen so klar wie mir: weil wir Juden den Menschensohn nicht als Heiland angenommen haben, sind wir nicht „in der Gnade“, fallen wir außerhalb der christlichen Nächstenliebe-Verpflichtung, sind wir wertloses Untermenschentum, dazu ein Mahnmal, daß doch nicht die ganze Menschheit die These angenommen hat, wonach das Christentum „das neue und wahre Israel“ ist. Damit stehen wir noch unter den Ketzern, Heiden und Türken. Wir sind das Ungeziefer der Welt, Ursache jeder Krankheit, jeden Schmutzes, nur da, um entweder „bekehrt“ zu werden oder — zertreten. (Hitler, da er kein Christ war, hat folgerichtig die Juden aus ganz anderen Gründen, aus noch nie dagewesenen, verfolgt: aus Gründen der „Rasse“, als ob das Judentum eine Rasse wäre. Aber die aus theologischen, um nicht zu sagen religiösen Gründen vorangegangene Kollektivächtung hatte den Boden vorbereitet wenn nicht gar reif gemacht für Losungen wie „die Juden sind unser Unglück“ und Lösungen wie die Ungeziefervergasung der Endlösung.) D i e s e Feindschaft hat eine lange und leider zwingende Vorgeschichte. Die Animosität zwischen den Israeli und den Arabern aber datiert erst von 1917, von der Balfour-Deklaration. Die Araber haben nämlich die Juden niemals verfolgt, und wir Juden haben uns diese Feindschaft mit offenen Augen eingebrockt, einfach vom Zaun gebrochen. Denn wenn die Juden zu einer Heimstätte streben, weil es ihnen unter den christlichen Völkern (wie sie sich nennen) so ergangen ist, wie es ihnen eben ergangen ist, so bräuchten doch die Araber dafür ihr Stammland nicht herzugeben! Sollten doch wir Juden versuchen, im Herzen New Yorks (wo viel mehr Juden leben als in ganz Israel) einen Judenstaat zu errichten. Oder, wenn Deutschland letztlich schuldig ist, so sollte die Bundesrepublik Hessen ausräumen und hergeben. Das wäre moralisch verantwortet. Shocking, nicht wahr!? Aber was ist da weniger shocking, wenn dasselbe in Palästina geschieht? Die Differenz ist wohl, daß auch die Araber (Türken!) verdammt und verdammenswert sind, die Deutschen aber „im Heil“.
Der zionistische Staat fußt auf schreiendem Unrecht. Das ist der Grund, warum ich für ihn keinen Pfifferling geben kann. Das ist aber auch der Grund, warum er letzten Endes untergehen wird, genau wie die Kreuzfahrerreiche von anno dazumal. Das hat nichts damit zu tun, ob Juden eine Zuflucht brauchen, wo sie unverfolgt leben können. Das hat auch nichts zu tun mit der religiösen Grundlage für die Niederlassung im Heiligen Lande. Ich bin nicht Cato, aber ich behaupte, daß dieser Staat untergehen muß, aufgehen in einem größeren Syrien, d. h. in einem arabischen Staat, worin Juden und Christen als Minderheiten und mit Gruppen-Autonomie (auf religiösem Gebiet) in vollkommenster Freiheit leben könnten. Solange das nicht durchgeführt wird, bleibt die arabische Feindschaft gegen die jüdischen Landräuber, deren Staat nicht anerkennensfähig, ein Fremdkörper, ein ewiges Fanal sein wird, mit dem niemals Frieden geschlossen werden kann. Sobald das durchgeführt ist, vergeht die Feindschaft wie Rauch. Sie wissen genau, wie lange die Feindschaft, die echte, nicht die aufgepeitschte, gegen die Deutschen angehalten hat.
Das alles mag sehr extrem klingen, aber hier stehe ich, ich kann nicht anders; auch nicht, wenn mein Volk im Unrecht ist. Sie suchen die Verständigung beider Brudervölker auf der Basis des Vergleiches, des Ausgleichs. Diese Haltung ist nur erlaubt, solange die Beweisaufnahme unabgeschlossen ist. Ich aber stehe bereits nach der Beweisaufnahme, ich bilde mir ein, daß ich weiß, wer gerecht und wer ungerecht ist. So kann ich es dann nicht mehr erlauben, daß im Vergleichsweg der gerechten Partei Unrecht getan wird, weil sie nicht zu ihrem ganzen Recht kommt. Wir Juden sollten eingestehen, im Unrecht zu sein. Wir Juden sollten damit zunächst einmal die moralische Vorbedingung schaffen, mit den Arabern ein Gespräch einzufädeln. Wir Juden sollten uns dazu durchringen, zu erkennen, daß es nirgends in der jüdischen Geschichte oder in unserer Heiligen Lehre geschrieben steht, daß wir durchaus einen eigenen Staat haben müssen mit all dem eitlen Klimbim eines Nationalstaates; daß wir Juden bereits ein Volk waren, als wir noch überhaupt kein Land hatten (vor der Landnahme Kanaans durch Josua), und daß wir in fast zweitausendjähriger Zerstreuung ein Volk geblieben sind. Und wir Juden sollten uns überlegen, was wir eigentlich wollen. Ob wir friedlich im Heiligen Lande wohnen wollen oder ob wir Paraden, Wahlen, Staatsveranstaltungen und dergleichen wollen. Denn letzten Endes will doch niemand behaupten, daß die nationale Eigenart des jüdischen Volkes von solchen Narreteien preußischer Provenienz abhängt! Besser sollten wir uns besinnen auf den Sinn unserer Unabhängigkeit als Volk in den letzten 19 Jahrhunderten vor den letzten 19 Jahren. Wir müßten uns darauf besinnen, ob wir Staatchen spielen wollen oder im Heiligen Lande in Frieden leben. Beide Konzepte schließen sich gegenseitig aus, tertia non datur.
Sie schreiben an Herrn… : Ich habe… mit jeder Faser meines Herzens gespürt, was unser Volk diesen Menschen angetan hat, und wenn ich zurückdenke, kommen mir Tränen des Zorns. Ich verstehe Sie, nicht weil ich zum Objekt „diesen Menschen“ gehöre, sondern weil ich dem Subjekt „unser Volk“ (auf meiner Ebene natürlich) zugehöre. Vom Dach meines Hauses konnte ich, bis Juni dieses Jahres, jenseits des Niemandslandes zwischen beiden Teilen Jerusalems Reihe auf Reihe Flüchtlingszelte sehen. Da kommen einem die Tränen des Zorns wahrlich leicht! Und wenn dann der Winter kam, mit Jerusalemer Kälte und anhaltendem Regen, da konnten meine Frau und ich aufs Dach steigen und wie leicht kamen dann die Tränen des Mitleides, der Scham, des Schuldgefühles! Da haben wir die Phrase zu verstehen begonnen: das Leid im Namen des — Volkes verübt. Denn ich mag wissen, daß ich den Staat nicht will. Aber das Unrecht wird im Namen meines Volkes verübt. Ob das nun Kibiye, Samo’a, Deir Yassin, Kafr Qassem oder wie auch immer heißt. Es kommt ja nicht auf das Quantitative an, sondern auf die Qualität des Bösen, des Unrechts.
Sie sehen die Infiltranten als Eindringlinge. Ich sehe sie als rechtmäßige Eigentümer ihrer angestammten Flure. Darin liegt unsere Sichtverschiedenheit. Wenn jemand sich in meiner Wohnung breit macht, nachdem er als Gast Zugang erlangt hat, und mich dann hinauswirft, kann man es mir noch verübeln, wenn ich meine eigenen Fensterscheiben einschlage, um den Usurpanten zu vexieren? Womit ich Ihrer Behauptung von arabischer Schuld entgegentreten möchte. Und Haß empfindet der Israeli nicht gegenüber den Arabern!? So, so! Wann schon hat ein Dieb den Bestohlenen gehaßt? Und warum sollte er? Tut mir leid für Sie, daß ich das Problem nur mit alttestamentarischer Mentalität sehen kann, unerweicht von christlicher Liebe.
Mit vorzüglicher Hochachtung
L. Wagenaar