Bundesamt für Verfassungsschutz entsorgt Beweise
http://www.jungewelt.de/2012/10-18/053.php
18.10.2012 / Titel / Seite 1
Amt entsorgt Beweise
Im Bundesamt für Verfassungsschutz sind nach Enttarnung der neofaschistischen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) weit mehr Akten vernichtet worden, als bislang eingeräumt wurde. Neben der bereits bekannten Vernichtung von Akten zu 26 geheimdienstlichen Abhörmaßnahmen seien weitere 284 Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus geschreddert worden, heißt es in dem Bericht des vom Bundesinnenministerium eingesetzten Sonderermittlers Hans-Georg Engelke, der am Mittwoch teilweise bekannt wurde.
Der NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestags zeigte sich überrascht über Engelkes Befund. »Das ist für uns alle eine komplett neue Information«, sagte die SPD-Obfrau im Untersuchungsausschuß, Eva Högl, der Nachrichtenagentur AFP. »Wir wissen nicht, wer das angeordnet hat und was die Grundlage war.« Der Ausschuß will den Sonderermittler am heutigen Donnerstag als Zeugen vernehmen.
Engelke kommt in seinem Bericht zu dem Schluß, »daß es eine gezielte ›Löschaktion‹ zur Vernichtung möglicher Belege für Querverbindungen zum NSU-Komplex nicht gegeben hat«. Die zuständigen Beamten hätten die Aktenvernichtungen lediglich in dem Glauben angeordnet, damit den vorgeschriebenen Löschfristen nachzukommen. Das stellte Högl in Frage. »Der Bericht überzeugt mich in der Sache überhaupt nicht.« Der Verdacht, daß mit der Aktenvernichtung entweder ein Zusammenhang zwischen Verfassungsschutz und NSU oder ein Versagen des Verfassungsschutzes im Umgang mit V-Leuten vertuscht werden solle, sei nicht ausgeräumt. Engelkes Bericht zufolge fanden die Aktenvernichtungen zwischen dem Auffliegen des NSU-Trios am 4. November 2011 und dem am 4. Juli 2012 verhängten Vernichtungsstopp für Akten mit Bezug zum Rechtsextremismus statt.
Zudem wurden am Mittwoch weitere Details über die Verwicklung baden-württembergischer Sicherheitsbehörden mit dem rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) bekannt. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes habe den Leiter des KKK in Schwäbisch Hall darüber informiert, daß dessen Telefongespräche abgehört wurden, berichteten die Stuttgarter Nachrichten.
Innenminister Reinhold Gall (SPD) wollte am Mittwoch den geheim tagenden Innenausschuß des Landtags darüber informieren. Im Sommer war im Zuge der Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn 2007 bekanntgeworden, daß zwei baden-württembergische Polizeibeamte vor zehn Jahren Mitglieder einer KKK-Sektion mit Sitz in Schwäbisch Hall waren. Offenbar waren sie nicht die einzigen: Am Dienstag hatte die Frankfurter Rundschau berichtet, ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, selbst Mitbegründer der rassistischen Gruppierung, habe die Mitgliedschaft dreier weiterer Polizisten erwähnt. Darunter sei auch eine Polizistin des Rauschgiftdezernats in Stuttgart gewesen. Der Zeitung zufolge informierte das Bundesamt für Verfassungsschutz das baden-württembergische Innenministerium erst Monate später und verheimlichte die wahre Quelle. Den Polizisten habe man daraufhin nichts nachweisen können. Sie blieben unbehelligt.
Die Neonazigruppe NSU soll für die Ermordung von neun Migranten und einer Polizistin verantwortlich sein. Außerdem werden der Terrorgruppe zwei Sprengstoffanschläge mit insgesamt 23 Verletzten sowie eine Serie von Banküberfällen zur Last gelegt.
jW-Bericht
2)
http://www.jungewelt.de/2012/10-18/037.php
18.10.2012 / Inland / Seite 5
Bayerns V-Mann
Landesamt für Verfassungsschutz hatte wohl doch eigenen Informanten im Umfeld der Neonazi-Terrorzelle
Von Claudia Wangerin, München
Entgegen früherer Aussagen hatte Bayerns Verfassungsschutz wohl doch einen V-Mann im Umfeld der rechten Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU), die in dem Freistaat fünf von zehn ihrer Morde begangen haben soll. Der frühere Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz, Gerhard Forster, soll nun wegen Widersprüchen in seiner ersten Aussage erneut im Untersuchungsausschuß des Landtags vernommen werden. Dies beschloß das Gremium am Dienstag in München einstimmig auf Antrag der Opposition. Es habe darüber keine kontroverse Debatte gegeben, sagte der Ausschußvorsitzende Franz Schindler (SPD), nachdem die Öffentlichkeit vorübergehend ausgeschlossen worden war. Forster war eine Woche zuvor bereits öffentlich und nichtöffentlich vernommen worden.
Nach Informationen der Thüringer Allgemeinen und des Bayerischen Rundfunks führte seine Behörde über mehrere Jahre einen fränkischen Neonazi als Informanten. Er soll Mitte der 1990er Jahre direkten Kontakt zu den späteren mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gepflegt haben, berichtete die Thüringer Allgemeine am Mittwoch unter Berufung auf einst führendes Mitglied des rechtsextremen »Thüringer Heimatschutzes«. Nach einem Bericht des Bayerischen Rundfunks soll der fränkische V-Mann Aufbauhilfe für die rechte Szene in Thüringen geleistet haben. Als Quelle dafür nannte der Sender den früheren Thüringer V-Mann Tino Brandt, der seinerzeit in Coburg wohnte.
In München wird voraussichtlich der Prozeß gegen Beate Zschäpe stattfinden, die seit dem mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt oft als einzige Überlebende des NSU bezeichnet wird. Dessen Umfeld ist in Bayern kaum erforscht – obwohl ein Profiler der Polizei im Jahr 2006 sogar den Haupttäter der Mordserie an überwiegend türkischstämmigen Männern im Großraum Nürnberg vermutete.
Im Untersuchungsausschuß des Landtags waren am Dienstag Zeugen von Polizei und Verfassungsschutz über den ersten aktenkundigen Aufenthalt von Uwe Mundlos in Bayern befragt worden. Vieles deutet auf intensive Kontakte des Thüringers nach Straubing hin. Entsprechende Telefonnummern fanden Ermittler nach seinem Untertauchen 1998 in einem Rucksack, den Mundlos offenbar für den Fall seiner Flucht gepackt hatte. Die Inhaber der Telefonanschlüsse wurden daraufhin jedoch nicht von der Polizei aufgesucht. Der damals zuständige Straubinger Kriminalhauptkommissar Manfred Kammermeier sagte im Untersuchungsausschuß, er habe aus Thüringen keine Anfrage über Personen auf der »Rucksackliste« erhalten, als Mundlos wegen Sprengstoffdelikten gesucht wurde. Vier Jahre zuvor war er mit bayerischen Neonazis bei Bier und verbotenem Liedgut wie »Blut muß fließen« in einer Kiesgrube bei Straubing aufgefallen. Als bayerische Polizisten die Party im Sommer 1994 beendeten und unter anderem Mundlos festnahmen, leitete Karlheinz Sager im Landesamt für Verfassungsschutz die Sachgebietsgruppe »Auswertung Rechtsextremismus«.
Von Ende der 1970er Jahre bis 1990 war der ehemalige Polizist im Bereich Linksextremismus tätig gewesen. Nach Auflösung der DDR sollte er sich um die auflebende Neonaziszene kümmern. Als Zeuge im bayerischen Untersuchungsausschuß machte Sager nicht den Eindruck, als habe er sich allzu sehr für seine neue Aufgabe interessiert. Der heute 75jährige wirkte geistig klar, als er Stationen seiner Laufbahn schilderte und gab an, er habe unter anderem vor Polizeibeamten Vorträge über Rechtsextremismus gehalten – einschlägige Organisationsnamen wie »Blood & Honour« oder »Combat 18« sagten ihm jedoch nichts, als die Grünen-Abgeordnete Susanna Tausendfreund ihn danach fragte. Auch an den Neonazi Tino Brandt und dessen Versuch, Mittte der 1990er Jahre einen fränkischen Ableger des »Thüringer Heimatschutzes« zu gründen, der inzwischen als Brutstätte des NSU gilt, wollte sich Sager nicht erinnern. Gerhard Forster dagegen wußte nach eigener Aussage als damaliger Chef des bayerischen Verfassungsschutzes von der V-Mann-Tätigkeit Brandts für die Thüringer Kollegen.