Bundeswehreinsatz im Innern, Heimatschutz der „Reserve“ und nun auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Von Ulrich Sander (VVN-BdA-Bundessprecher)
Referat auf dem Kasseler Friedensratschlag 2012. 1. Dezember 2012, Arbeitsgruppe 9
Die drei großen Kriege von Preußen und Deutschland in den letzten 150 Jahren wurden bekanntlich mit Wehrpflichtigen geführt. Millionen von ihnen verbluteten auf den Schlachtfeldern. Die Novemberrevolution 1918 beseitigte den Militärzwang. Hitler führte ihn vertragswidrig wieder ein – mit all den bekannten furchtbaren Folgen. Im Zentrum der Arbeiter-, Friedens- und Antifa-Bewegung stand daher bei Gründung der Bundeswehr der Widerstand gegen die Wehrpflicht. Es erscheint ratsam zu sein, die gegenwärtige Situation der Militarisierung zu durchleuchten.[1]
Die Bundesregierung verfügte in den letzten Jahren nun eine Truppenreduzierung, eine Wehretatverringerung[2] und ein Aussetzen der Wehrpflicht für die nächsten Jahre. Steht die Friedensbewegung vor einem späten Sieg? Nein, wir werden nur Zeugen eines verlogenen Manövers. Man redet von freiwilligen Wehrpflichtigen (wer nicht musste, ging auch bisher nicht, sondern verweigerte), von Berufs- und Zeitsoldaten. Kaum einer spricht von Reservisten – und die sind es, die es den Militärs so leicht machen, den „Reformen“ und „Kürzungen“ zuzustimmen. Die Truppe wird nicht kleiner und nicht billiger, denn es gibt zusätzlich zum stehenden Heer 80.000 Dienstplätze für sie. Um diese Dienstplätze zu besetzen kann in kürzester Zeit auf nahezu 625.000[3] einsatzbereite und ausgebildete Reservisten zurückgegriffen werden – denn alle ehem. Bundeswehrsoldaten bleiben wehrpflichtig bis zum 60. Lebensjahr! Es gibt bereits 5000 Reserveoffiziere in der ZMZ (Zivil-Militärische Zusammenarbeit). So sie im Öffentlichen Dienst tätig sind, können sie innerhalb von Stunden beordert werden – zum Einsatz im Inneren wie Äußeren, auch gegen Streikende, wie die Regierung einräumte.[4] Arbeitgeber werden zum „verständnisvollen Umgang“ mit dem Problem ermuntert – sprich, den Reservisten bei Arbeitsplatzgarantie frei zu geben, damit sie im In- und Ausland schnell eingesetzt werden können, unabhängig vom Alter, ihre Fähigkeiten nutzend. Eine unbekannte Zahl von Reservisten sind auch bereits im Kampf „gefallen”.
Der Bundeswehrverband und die Reservistenverbände sind immer mit von der Partie: Sie werben fürs Militär und für Kriege.
Mit dem Reservistenverband und dem Bundeswehrverband gewinnen derzeit zwei besonders militaristische Großorganisationen an Einfluss. Diese Verbände sind durchsetzt mit rechtsextremistischen Kadern.
NPD-Mitglieder und auch andere Nazikader sind dabei. Das war schon seit Gründung dieser Vereinigungen so, denn sie haben auch die Reservisten aufgenommen, die schon in der Wehrmacht dienten. Viele von diesen waren schon im Krieg an schweren Kriegsverbrechen beteiligt. Der Bildungsverein des Bundeswehrverbandes ist nach Karl Theodor Molinari benannt worden, einen Bundeswehr- und Wehrmachtsgeneral, der in Frankreich wegen seiner Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt wurde.
Heute rufen die Neonaziverbände ihre „jungen Kameraden“ auf, sich in der Bundeswehr an Waffen ausbilden zu lassen – „für den Kampf für Deutschland“. Diese Leute sind dann dabei, wenn die Zivilmilitärische Zusammenarbeit die Städte und Gemeinden durchdringt. Die Reservisten stehen zum Einsatz im Innern bereit – auch zum Einsatz gegen das eigene Volk.
Der Krieg beginnt hier – und hier muss er gestoppt werden
Die Auseinandersetzung der Friedensbewegung mit der Kriegspolitik und –praxis in unserem Land verlagert sich immer mehr vom Diskurs um ferne Kriegsschauplätze hin zu regionalen und örtlichen Tatorten der Kriegsvorbereitung und möglichen Kriegsführung. Denn der Krieg beginnt hier – und hier muss er gestoppt werden, heißt es bei solchen Bewegungen.
So bei den Aktionen gegen
– das Kommando der Nato-Luft- und Weltraumkampfzentrale in Kalkar,
– gegen das GÜZ-Gefechtsübungszentrum in Sachsen-Anhalt mit der Phantasie-Stadt „Schnöggersburg“ zum realen Einüben des Häuserkampfes in aller Welt und gegen den Feind im Innern, sowie
– gegen Rüstungsbetriebe wie Rheinmetall in Düsseldorf und an anderen Rüstungszentren wie in Bremen und Kassel.
– die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Bonn, einer eng mit der Bundeswehr kooperierenden „Entwicklungshilfe“-Organisation.[5]
Diese Situation finden wir vor:
– Geheimdienste und Polizeien arbeiten verfassungswidrig zusammen,
– aus dem Bundesgrenzschutz ist eine paramilitärische Bundespolizei geworden,
– statt des Katastrophenschutzes gibt es einen militärischen Heimatschutz, dessen Kommandos in allen Regierungsebenen stationiert sind und sämtliche Hilfsorganisationen unter ihren Befehl zwingen.
– Staat, Wirtschaft und Gesellschaft – vor allem die Bildungseinrichtungen – werden militarisiert und auf Krieg vorbereitet.
“Zum 1. April 2013 ist die Einsatzbereitschaft sicherzustellen”[6] So lautet die Losung für die Schaffung der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte. Solche RSUKr werden künftig den ZMZ-Kommandos in den Städten und Landkreisen zugeordnet. Der Auftrag lautet: “Heimatschutz”. Reservistenkommandos sollen der Erhöhung der militärischen Durchhaltefähigkeit dienen und Sicherungs- und Unterstützungsleistung erbringen. Im „Grundbetrieb“ bedeutet dies: Nachwuchswerbung, Großveranstaltungen (z.B. NATO-Gipfel) sichern, ebenso die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (z.B. Sicherheitskonferenz in München) abschirmen.
Die Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte werden dem jeweiligen Landeskommando der Bundeswehr unterstellt. Die Größe beträgt mindestens 100 Mann im Grundbetrieb als Kompaniestärke,
Wer kann mitmachen? Alle (auch Un-)Gediente können sich ab Sommer 2012 freiwillig melden. Vor allem aber die Reservisten bis zu 60 Jahren (bisher 45 Jahre). Grundlage für diese Struktur ist die Konzeption der Reserve (KdR) vom 1.Februar 2012.[7] Das ist in dürren Worten der nächste Schritt im Neuaufbau des “Heimatschutzes”.
Das Motto der Reservisten lautet: Wir.Dienen.Deutschland.
Die Bundeswehr übernimmt wieder das Kommando in weiten Teilen des Landes. Und dabei waren doch fast alle alten Heimatschutzverbände bereits Mitte des letzten Jahrzehnts gerade aufgelöst worden. [8] An ihre Stelle sind die 438 oder Bezirks- und Kreisverbindungskommandos in den Städten und Landkreisen getreten – der Begriff Verteidigung taucht nicht mehr auf, dafür heißt es jetzt »Heimatschutz«. Ein Oberst vermittelt nun den Regierungspräsidenten, Landräten und Oberbürgermeistern den sogenannten militärischen Service. »Das ist die militärische Kompetenz, auf die sie sich bei Katastrophen und besonders schweren Unglücksfällen stützen können«, wird in Bundeswehr-Publikationen bestätigt. Die Urkunden für die ZMZ Inneres wurden in der Regel Oberstleutnants der Reserve überreicht, möglichst solchen, die im öffentlichen Dienst tätig und somit innerhalb einer Stunde abkömmlich sind. Praktischerweise beziehen sie Büros in Rathäusern und Landratsämtern. Die einzelnen Verbindungskommandos bestehen aus jeweils zwölf Soldaten, die in der Region leben und die zivilen Verwaltungen in militärischen Fragen beratend unterstützen, wie es heißt. In Bremen wurde jetzt erstmals ab Juni 2012 ein Modell erprobt, mit dem das ZMZ-Landeskommando RSU (Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte aus Reserveangehörigen) in erheblicher Zahl heranziehen kann. So soll es in allen Bundesländern gemacht werden. Dafür haben sich bundesweit bis Juli 2012 über 3.200 Männer und Frauen gemeldet. Sie sind Grundstock für Heimatschutzverbände.
Es wird wieder die Durchhaltefähigkeit gebraucht. Was heißt das? Die Heimatfront soll alles dafür liefern und tun, ob mit Mensch oder mit Material, dass Krieg und Besatzung nicht beendet werden müssen. „Wir.Dienen.Deutschland“ lautet das Motto[9].
Heute brauchen die Regierenden jeden aktiven Soldaten. Und immer mehr Reservisten dazu.
Auch deswegen ist zeitweise die Wehrpflicht ausgesetzt, weil allein 20.000 Ausbilder in der
Vergangenheit nur damit beschäftigt waren, die Wehrpflichtigen auf Krieg abzurichten. Jetzt werden diese Ausbilder im Einsatz gebraucht. Gebraucht werden auch die Ausbilder in Reserve. Diese Reserve hat keine Ruh. Sie haben bereits in “Friedenszeiten” die Unterordnung ziviler Einrichtungen unter das Militär praktisch zu organisieren. Den Sanitäter beim Roten Kreuz genauso wie den Rettungsschwimmer der DLRG, die Feuerwehr und den Funker oder Fahrer des Technischen Hilfswerks. Nicht zu vergessen dabei die verschiedensten Formationen von Polizei und Geheimdiensten. Ja, alle Behörden haben für die Bundeswehr bereitzustehen.[10]
Den Verbindungskommandos, die seit 2006 flächendeckend eingeführt wurden, werden jetzt auch in Bayern und anderen Bundesländern Freiwilligen-Kommandos in Kompaniestärke zur Seite gestellt. Allein in Bayern ergab ein erster schneller Aufruf des Reservistenverbandes an seine Mitglieder im Frühjahr 2012 über 1500 Meldungen von Freiwilligen – damit könnten alle Posten der derzeit geplanten bayerischen “Heimatschutzkompanien” doppelt besetzt werden.[11] Und dass es sich dabei nicht nur um “Freizeitgestaltung” handelt, sondern die Bundeswehr mit den neuen Einheiten auch auf die Betriebe zielt, zeigt der “Dialog Landeskommando Bayern & Arbeitgeber”, den das Landeskommando Bayern des „Heimatschutzes“ initiiert hat. Schließlich sollen die Reservisten einerseits mehrere Wochen von ihrem Chef für den Dienst freigestellt werden und andererseits offen im Betrieb für ihre Truppe auftreten und werben können.
Statt Kurzarbeit nun Einsatz in der Reserve
In vielen Regionen kann die Bundeswehr dabei bereits auf sogenannte Regionale Initiativen von Reservisten (RegIniRes) zurückgreifen, die in ihrer Struktur den neuen “Heimatschutzkompanien” gleichen und teilweise bereits vor mehreren Jahren von freiwilligen Reservisten mit Unterstützung der Bundeswehr gebildet wurden.
„Heimatschutz ist etwas anderes als Katastrophenschutz“[12], hat Kriegsminister de Maizière beim Parlamentarischen Abend des Reservistenverbandes in Berlin klargestellt. Und die Reservistenzeitung „loyal”[13] führt aus, worin der Auftrag der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte (RSUKr) besteht: „Statt sich wie bisher in Feuerbekämpfung, ABC-Schutz oder Flugabwehr zu üben, steht für die RSU-Kräfte wieder der klassisch-militärische Auftrag im Mittelpunkt. Sie sollen künftig Aufgaben zur Sicherung militärischer Anlagen übernehmen können.“ Oder wie bereits oft geübt gegen Demonstrationen und Streiks eingesetzt werden. So wie beim G8 Gipfel 2008 in Heiligendamm mit den gerade neuaufgestellten ZMZ-Einheiten in Mecklenburg-Vorpommern beim Einsatz gegen Demonstranten.
Auch zur weiteren Militarisierung der Wirtschaft setzt das Kriegsministerium auf die Reservisten. Durch Vereinbarungen mit Konzernen sollen Soldaten, für die die Bundeswehr keine konkrete Verwendung mehr hat, in Betrieben unterkommen. Die Personalabteilungen jubeln bereits über solch „führungserfahrenes Personal“. Dafür stellt wiederum der Betrieb die Reservisten in der Belegschaft jederzeit für Wehrübungen frei, um die „Einsatz- und Durchhaltefähigkeit“ der Bundeswehr zu erhöhen. Sie entlasten Berufssoldaten „in Dingen, die Reservisten oft besser können, als aktive Soldaten“ (Kriegsminister De Maizière). Unter dem Motto „Tu was für Dein Land“ läuft diese Kooperation von Kapital und Militär.
Der Konzern Cassidian (EADS) und die Luftwaffe haben eine entsprechende Rahmenvereinbarung beschlossen, die gleichzeitig ein erster Schritt für ein „Gesamtkonzept zur Kooperation zwischen Bundeswehr und Industrie“ sein soll. Die Reservisten sollen im Betrieb „Mittler für die Bundeswehr in der Gesellschaft“ (De Maizière) sein, also im Klartext fleißig militaristische Propaganda betreiben.
Die Einstellung von ausgedienten Soldaten übernehmen auch andere Konzerne wie z.B. die Deutsche Bahn. Sie werden gebraucht, schließlich kennt die deutsche Wirtschaft, wie der Vizepräsident einer ihrer Verbände klagt, „keine geordnete Führerausbildung“[14]
Um das für Krieg und Frieden qualifizierte Personal auch in Krisenzeiten nicht zur Bummelei zu verdonnern, sollen „gediente“ Kollegen in Kurzarbeit künftig zur Bundeswehr. „Wenn mal die Konjunktur nicht so gut läuft, könnten Unternehmen ihre Mitarbeiter zwei, drei Monate für Wehrübungen freistellen“, heißt es beim Reservistenverband.[15]
Die Deutsche Bahn im Bunker
Auszüge aus dem „Spiegel“, erschienen im Herbst 2012[16]: „Hamburg – Das Bundesverkehrsministerium sorgt sich um die Sicherheit der Bahn bei terroristischen Anschlägen und Naturkatastrophen. Um den Zugverkehr in solchen Fällen aufrechterhalten zu können, soll die Deutsche Bahn 40 unterirdische Krisenleitstellen bauen. Dafür müssen 37 Schutzräume, die Relikte des Kalten Krieges sind, mit moderner Kommunikations- und Sicherheitstechnik aufgerüstet werden. In Dresden, Leipzig und Berlin soll die Bahn neue Bunker bauen. Die Krisenleitstellen sollen so massiv sein, dass sie auch noch arbeitsfähig sind, wenn der darüberliegende Bahnhof zerstört ist. 100.000 Euro veranschlagt das Ministerium für die Aufrüstung jedes bestehenden Bunkers, die Kosten für die Neubauten sind in einer Ministeriumsvorlage für den Haushaltsausschuss des Bundestages noch nicht beziffert. Im Mai hatte der Rechnungsprüfungsausschuss die Mittel für Krisenleitstellen der Bahn gesperrt. Das Verkehrsministerium dringt nun auf eine Freigabe wegen der “gestiegenen Gefährdung von Bahnanlagen” durch linke Autonome, islamistische Terroristen und den Klimawandel.“
Von der Schulbank auf die Schlachtbank – Jugendoffiziere rekrutieren für den Krieg
Die Bundeswehr setzt alle Hebel in Bewegung, um die öffentliche Meinung in Richtung Kriegsbefürwortung zu drehen. Gerade die Jugend ist dabei im Visier der Militaristen. Auf eine kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ im Bundestag legte die Bundesregierung Zahlen zu den Schuleinsätzen der Jugendoffiziere im vierten Quartal 2011 vor [17]; Demnach führte die Bundeswehr allein in diesen drei Monaten 58 „Sicherheitspolitische Seminarfahrten“ durch. Davon waren 32 für Lehrer, Referendare und Multiplikatoren gedacht, vier richteten sich ausschließlich an Studierende, der Rest an Schüler. 20 „Dezentrale Sicherheitspolitische Seminare“ und 52 Simulationen des kriegsverherrlichenden Rollenspiels „Politik und Internationale Sicherheit“ (POL&IS) ergänzten das Angebot. Zudem fanden (in Begleitung von Jugendoffizieren) 31 Truppenbesuche durch Schüler statt, wobei der Schwerpunkt auf den Klassenstufen 9 und 10 lag. Für Lehramtsstudenten und Referendare hat die Bundeswehr wiederum eigene „Fortbildungen“ im Programm und mittlerweile werden auch schon Gelöbnisse auf dem Schulhof abgehalten (so geschehen etwa am 01. März 2011 in Bischofswiesen), was der Militarisierung der Jugend die Krone aufsetzt.
Die Kosten für Nachwuchswerbung der Bundeswehr stiegen in den letzten Jahren von 9,2 Millionen Euro (1998) auf 16 Millionen Euro (2011). Allein die Auflage der bundeswehreigenen kostenlosen Zeitschrift „infopost“ betrug letztes Jahr 664.700 Stück. Für dieses Jahr sind 29 Millionen veranschlagt. Das ist nahezu doppelt so viel wie im letzten Jahr. Die Kosten für Personalwerbung in Presse, Rundfunk und Internet werden mit über 13 Millionen Euro angegeben[18]. Die öffentliche Präsenz des Militärischen wird also noch zunehmen.
Es geht hier allerdings nicht nur ums Werben fürs Töten und Sterben, sondern auch um den Einsatz beim Töten und Sterben. Bei der Auflösung der Kreiswehrersatzämter bzw. ihrer Umwandlung in „Karrierezentren“ der Bundeswehr – Mörderkarrieren sind gemeint – wurde bekannt: Die Kreiswehrersatzämter haben seit 1956 20 Millionen junge Männer gemustert und rund zehn Millionen wurden einberufen. Sie müssen – wenn sie noch leben und jünger als 60 Jahre sind – der Reserve zur Verfügung stehen. Die Meldeämter helfen, sie zu finden. Es gab kürzlich große Aufregung, als bekannt wurde, dass die Meldeämter der Wirtschaft die Adressen der Bürgerinnen und Bürger verkaufen. Dass sie samt und sonders der Bundeswehr zur Verfügung stehen, wurde nicht beachtet. So dienen sie dazu, die Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren bereits werbewirksam fürs Militär anzusprechen. Und alle anderen Jahrgänge werden mit Hilfe der Meldeämter erreicht – auf dass sie Dienst tun.
Nach dem BVerG-Urteil: Militarisierung schreitet voran
Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, unter bestimmten Bedingungen bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Innern der Bundesrepublik für rechtmäßig zu erklären, schreitet die Militarisierung des Lebens der Bundesrepublik weiter voran.[19] So oder ähnlich äußerte sich die Friedensbewegung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der am 17. August 2012 veröffentlicht wurde.
Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten die Auslandseinsätze der Bundeswehr stetig ausgeweitet wurden und das Bundesverfassungsgericht ohne Änderung des Grundgesetzes dieses immer abgesegnet hat, fand eine weitere schleichende Uminterpretation des Verfassungstextes durch das oberste deutsche Gericht statt. Das Bundesverfassungsgericht schaffte so erneut Fakten. Selbst wenn heute noch Bedingungen für Inlandseinsätze der Bundeswehr formuliert werden, bleibt zu befürchten, dass diese Bedingungen in Zukunft ähnlich aufgeweicht werden, wie seinerzeit die Bedingungen für die Auslandskriegseinsätze. Der DFG-VK-Bundessprecher Monty Schädel wies darauf hin, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zum Einsatz der Bundeswehr keinerlei Änderungen im Text des Grundgesetzes gegeben hat. Allein mit neuen Interpretationen des Textes durch das Bundesverfassungsgericht wurden Out-of-Area-Einsätze und Teilnahme an Kriegen weltweit möglich. „Jetzt soll es offensichtlich um den gezielten Militäreinsatz im Innern gehen. Offensichtlich haben die Regierenden die vielbeschworenen freiheitlich demokratische Grundordnung bereits aufgegeben, wenn sie mit Inlandseinsätzen des Militärs zur Lösung von Konflikten spekulieren.“
Karlsruher Putsch gegen die Verfassung, überschrieb die VVN-BdA ihre Erklärung.[20] Sie setze weitere Akzente:
Das Bundesverfassungsgericht hat in ihrer Entscheidung[21] den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren für verfassungsgemäß erklärt. Es überschritt damit seine Kompetenzen, denn eine Verfassungsänderung – und dies ist de facto eine – erfordert nach Artikel 79 GG ein den Text des Grundgesetzes ausdrücklich änderndes Gesetz, das der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. Und es bricht die Verfassung, in der es in Artikel 87a ausdrücklich heißt: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit es dies Grundgesetz ausdrücklich zulässt.“
Was lässt es zu? Den Einsatz zur Bekämpfung „militärisch bewaffneter Aufständischer“ im Falle der „drohenden Gefahr für den Bestand“ oder „Grundordnung“ der BRD.(Artikel 87a). Ferner die Unterstützung der Polizeikräfte durch die Streitkräfte bei „Naturkatastrophe“ und „besonders schwerem Unglücksfall“ (Artikel 35) Was lässt es überhaupt nicht zu? Die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges (Artikel 26). Und auch den Abschuss von Zivilflugzeugen, die angeblich in Terroristenhand sind, sieht das Grundgesetz nicht vor. Doch den nennt Das BVerG nun einfach einen katastrophischen Notfall, und es dürfe mit Genehmigung des Bundeskabinetts geschossen werden.[22]
Das BVerG darf die Verfassung interpretieren, aber nicht neu schreiben. Insofern ist Widerstand gegen den Spruch des BVerG erforderlich.
Bundeswehr von heute ist in der Verfassung nicht vorgesehen
Heribert Prantl schrieb bereits vor drei Jahren über die jetzige Praxis der Bundeswehr[23]: „Nichts von dem, was die Bundeswehr heute macht, ist dort (im Grundgesetz) zu finden. Dort ist sie immer noch Verteidigungsarmee. Schleichend und ohne Verfassungsänderung ist die Bundeswehr in eine Kriseninterventionsarmee verwandelt worden.“ Das Grundgesetz aber müsse Leitfaden sein für jeden Staatsbürger – auch für den in Uniform. Unser Respekt hat dem Grundgesetz zu gelten, nicht aber diesem Urteil des Karlsruher Gerichts.
Es regt sich Protest. Allerdings nur schwacher. Wenn ich an die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze vor 45 Jahren denke, so erscheint mir das fast völlige Schweigen der Gewerkschaften höchst beunruhigend. Nur einer der 16 Verfassungsrichter, der Richter Reinhard Gaier, hat laut Entscheidungsverkündung vom 17. August ein Minderheitenvotum abgegeben, das sich sehen lassen kann. Er verurteilte, dass das strikte Verbot, zu Terrorismusflugzeugen erklärte Zivilflugzeuge abzuschießen, aufgeweicht wurde. Zum von der Bundeswehr bedrohten Demonstrationsrecht schreibt Gaier: „Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.“ Unter Berücksichtigung der geschichtlichen Erfahrungen hat bei Beschlussfassung über die Notstandsgesetze 1968 niemand gewagt, soweit zu gehen, wie jetzt das BVerG, stellte Gaier fest.
Es scheint angesagt, dass die APO wieder soweit geht – mindestens wie 1968.
Es geht um Demokratie und Antifa plus Antimilitarismus
Während die Friedensbewegung sehr schmächtig geworden ist, kann man sagen, dass die Antifaschistischen Aktionen und Bewegungen sich zu einer starken Kraft entwickelt haben. Allerdings sparen diese zumeist den Antikriegsaspekt aus. Die Friedensbewegung muss immer auch Demokratiebewegung sein, wie die antifaschistische Demokratiebewegung auch immer für das „Nie wieder Krieg“ eintreten muss. Dafür gilt es, weiter gemeinsam zu handeln – alle Antifaschistinnen und Antifaschisten zusammen und auch alle Friedensfreundinnen und -freunde. Es muß heißen „Bunt statt braun”, aber auch „Bunt statt olivgrün”. Es geht um das gewaltlose Handeln – und das bedeutet vor allem: Schluss mit jeder gewalttätigen Innen- oder Außenpolitik. Keine Bundeswehreinsätze im Innern.
[1] Quelle für diesen Beitrag: Ulrich Sander in Neues Deutschland vom 28./29. und 30. August 2012 und Infobrief des Jugendausschusses „Notstand der Republik“ Nr. 12/Juni 2012
[2] MdB Inge Höger (Die Linke) führte am 22.11.12 im Bundestag aus: „Im Rahmen von Haushaltskürzungen wurde bereits 2010 erklärt, dass auch die Bundeswehr sparen solle, nämlich 8,3 Milliarden Euro.“ Jedoch „Auch in diesem Haushalt finden wir nichts, was auch nur annähernd mit Sparen zu tun hat. Stattdessen wurde der Militäretat erneut um 1,6 Milliarden Euro erhöht. Betrachtet man einen längeren Zeitraum, ist die Steigerung noch sehr viel deutlicher. Für 2012 sind Militärausgaben in Höhe von 33,3 Milliarden Euro eingeplant; im Jahr 2000 waren es noch 10 Milliarden Euro weniger. Das entspricht einer Steigerung von über 40 Prozent in zwölf Jahren. Nach den etwas ehrlicheren NATO-Zahlen plant die Bundesregierung im nächsten Jahr Militärausgaben in Höhe von 37 Milliarden Euro.“
[3] Es sind genau 623.418 Reservisten, wenn man dem Schreiben des Bundesministeriums der Verteidigung vom 27. März 2012 – 1780029-V28 – an MdB Ulla Jelpke glauben darf.
[4] Siehe Antwort der Bundesregierung vom 28. August 2009 an die Linksfraktion im Bundestag.
[5] Zur Eröffnung der Afghanistan-Konferenz der Regierungen im Jahre 2011 wurde das Gebäude der GIZ besetzt und an der Außenfassade wurde ein Großtransparent „Krieg beginnt hier“ angebracht. Die Teilnehmer an der Aktion wurden gerichtlich belangt.
[6] Lt. Pressemitteilung Verband der Reservisten der Deutschen
Bundeswehr e.V. (VdRBw), vom 29.02.2012
[7] http://www.bundeswehr.de
[8] Bis hierher Fakten aus: “Weisung Nr. 2 zur Aufstellung von
Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräften”,
www.reservistenverband.de.
[9] Schreibweise ist original Bundeswehr
[10] So etwas wird Amtshilfe nach Artikel 35 des Grundgesetzes genannt.
[11] Merkur-online, 20.3.12.
[12] Erklärung Reservistenverband, 8.5.12
[13] loyal Mai 2012
[14]https://www.reservistenverband.de/php/evewa2.php?d=1333766769&menu=0240&newsid=12808
[15] http://www.reservistenverband.de/php/evewa2.php?newsid=10852&menu=0240999915
[16] Spiegel vom 30.10.2010
[17] BT-Drucksache 17/7323
[18] BT-Drucksache 17/9501
[19] Pressemitteilung vom 17. August 2012 der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen/DFG-VK
[20] Aus Ulrich Sander „Karlsruhe bricht die Verfassung“ in antifa September/Oktober 2012
[21] BVerG-Entscheidung Nr. 63/2012 vom 3. Juli 2012
[22] Die Pläne für den Abschuss von Zivilflugzeugen, die unter »Terrorverdacht« stehen, schritten schon vor dem BVerG-Urteil voran. Die »Neue Rhein/Ruhrzeitung« aus der WAZ-Gruppe berichtete von der Herbstübung 2011 im Luftstreitkräfte-Hauptquartier Kalkar-Uedem: »Wir haben sie abgeschossen«, sagte der General über die Vernichtung eines angeblich von Terroristen gekaperten Zivilflugzeugs. Dass dies illegal ist, interessierte offenbar nicht.
[23] Süddeutsche Zeitung 12. Mai 2009