Das Sterberegister der Festung Europa: 23.000 Menschen starben oder verschwanden auf der Flucht
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neues-deutschland.de / 01.04.2014 / Seite 1
MigrantsFiles: Das Sterberegister der Festung Europa
23.000 Menschen starben oder verschwanden auf der Flucht
Von Fabian Köhler
Tausende Flüchtlinge sterben jährlich an Europas Grenzen. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Journalisten haben nun alle bekannten Fälle in einer Datenbank zusammengetragen: mit einem erschreckenden Ergebnis.
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Einer von 23000: Die Leiche eines afrikanischen Flüchtlings liegt am Strand der spanischen Insel Fuerteventura.
Foto: AFP PHOTO Samuel ARANDA.
Der Eintrag lautet einfach »ein Baby«. Ein Klick verrät, dass es ein Jahr alt war und irgendwo aus dem subsaharischen Afrika stammte. Eine Grafik zeigt, mit acht Angehörigen befand es sich auf dem Weg von Libyen nach Italien – als es am 27. März 2011 vor der Küste Lampedusas starb.
Das namenlose Baby ist eines von mehr als 23000 Flüchtlingen, die seit dem Jahr 2000 auf dem Weg nach Europa ums Leben kamen oder spurlos verschwanden. Diese Fälle dokumentiert nun eine Gruppe europäischer Journalisten auf der Website »The Migrants Files« und übertrifft damit die bisherigen Schätzungen von bis bis zu 19000 Toten seit Anfang der 90er deutlich.
Die Gruppe hat dazu Informationen aus verschiedenen Datenbanken zusammengetragen, wie jene der »United Intercultural Action«, eine Organisation, die Informationen von rund 550 europäischen Menschenrechtsorganisationen zusammenfasst. Eine weitere Quelle: Das italienische Projekt »Fortress Europe«, das ebenfalls seit Jahren Todes- und Vermisstenfälle auflistet. Zudem wurden öffentlich zugängliche Zeitungsberichte über Flüchtlingsunglücke ausgewertet.
Auf der Website lassen sich nun nicht nur sämtliche bekannten Fälle durchsuchen. Sie zeigt auch, wo, wann und bei welchen Unglücken Flüchtlinge verschwanden oder ums Leben kamen. Auf einer Karte stehen rote Kreise für die Anzahl der Toten. Tausende sind es demnach zwischen Libyen und Italien oder Marokko und Spanien. Auffällig aber auch: Es gibt kaum eine Region in Europa, in der Flüchtlinge in den letzten 14 Jahren nicht ums Leben kamen. Rund 100 starben beim Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren. Ebenso viele verloren ihr Leben auf der nahe der Türkei gelegenen griechischen Insel Lesbos. Und auch Deutschland ist voller roter Punkte: Sechs Flüchtlinge starben in Berlin, drei in Nürnberg, zwei in Chemnitz…
Die Macher der Studie weißen allerdings daraufhin, dass es trotz sorgfältiger Prüfung in einigen Fällen zu Dopplungen von Fällen kommen könnte. So würden Personen als vermisst gemeldet, die später zusätzlich als Tote registriert werden. Dennoch dürften die tatsächlichen Zahlen auch noch weit über 23000 liegen. Denn die meisten Toten und Vermissten, darauf weißen Flüchtlingsorganisationen hin, tauchen in keiner Statistik und keinem Pressebericht auf.
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