Die Libanonisierung des Iraks
F.A.Z., 21.06.2010, Nr. 140 / Seite 8
Die Libanonisierung des Iraks
Eine einheitliche nationale Identität ist im Zweistromland noch nicht entstanden / Von Rainer Hermann
BAGDAD, im Juni
Die politische Klasse des Iraks stellt sich ein Zeugnis der Unreife aus. Eine neue Regierung zeichnet sich auch drei Monate nach der Wahl zum zweiten frei gewählten Parlament nicht ab. Stattdessen vertrösten die Beteiligten die Welt bereits auf den Fastenmonat Ramadan, der im August beginnt. Alles steht so lange still. Anders als in westlichen Demokratien funktioniert der Staat im Irak nur dann, wenn eine Regierung entscheidet. Ohne Regierung werden keine Aufträge für den Wiederaufbau vergeben, ohne Regierung werden keine Schulabgänger und Hochschulabsolventen eingestellt, die jetzt Arbeit suchen.
Opposition hat in der jungen irakischen Demokratie keinen hohen Wert. Allein das Regieren zählt, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Möglichkeiten der Bereicherung. Fast nichts geschieht im irakischen Staat ohne Korruption – ob beim Antrag eines einfachen Passes oder bei der Vergabe eines großen Auftrags. Dennoch ist keineswegs gewiss, dass eine Leistung dann auch erfolgt. Minister und Abgeordnete lassen sich bestechen, und wichtige Beamte stehen auf der Gehaltsliste von Unternehmen, die an einem reibungslosen Geschäft interessiert sind.
Das Glas hat sich zwar in den letzten Jahren zur Hälfte gefüllt. Von der Hochstimmung eines blühenden Landes mit den wiederhergestellten Gärten der Semiramis ist aber nichts mehr zu spüren. Trotz Fortschritten bei der Sicherheit ist das Glas nicht halb voll, sondern halb leer. Die Vereinigten Staaten haben massiv Gelder in das Land gepumpt, und jeden Tag exportiert der Irak zwei Millionen Barrel Rohöl.
Mit den Mitteln, die dem Land zur Verfügung stehen, hätte mehr erreicht werden können als das, was heute zu sehen ist. Ein normales Land wird der Irak auf absehbare Zeit nicht werden. Viel wäre erreicht, wäre der Irak ein Land wie der Libanon – mit abwechselnden Phasen der Prosperität und einem Abrutschen in Gewalt. Wie der Libanon hat der Irak einen Bürgerkrieg hinter sich, wie der Libanon ist der Irak die Heimat unübersichtlich vieler konfessioneller und ethnischer Gruppen. Die zwei Staaten ähneln sich auch, weil sie den großen Akteuren Arenen für Stellvertreterkriege bieten.
Ein Grund für die enttäuschende Entwicklung ist, dass eine gemeinsame nationale Identität nicht vorhanden ist und auch nicht entsteht. Ein gemeinsames Handeln ist damit nicht möglich. Die Ministerien kooperieren nicht einmal bei Wiederaufbauprojekten, die für die Zukunft des Landes existentiell sind. Eine Behörde behindert die andere, Ministerien existieren nebeneinanderher. Jeder ist auf seinen Gewinn bedacht und auf den seiner religiösen oder ethnischen Gruppe. Die meisten Politiker denken weiter nicht national, sondern konfessionell und ethnisch. Jeder glaubt, dass er keine Chance mehr habe, wenn er einmal von den Schalthebeln der Macht verdrängt sei.
Die Politik ist schiitisch oder sunnitisch, arabisch oder kurdisch, aber nicht irakisch. Das widerspricht der Lebenswirklichkeit der Iraker. In einer nicht veröffentlichten Studie hat die irakische Regierung ermittelt, dass fast 40 Prozent der Iraker überkonfessionelle Ehen führen. Mit großer Wahrscheinlichkeit denken die Bürger weniger konfessionell als die Politiker. Ansätze für eine stärker nationale Ausrichtung sind aber auch in der Politik zu erkennen. So ist Iyad Allawi, der am 7. März mit seiner Partei “Iraqiyya” mehr Stimmen als jede andere Liste erhalten hatte, ein säkularer Schiit. Für ihn haben überwiegend Sunniten gestimmt.
Überraschend feiern viele Sunniten auch den radikalen Schiitenführer Muqtada al Sadr als einen “Helden der Unabhängigkeit des Iraks”. Sadr ist nicht allein beim schiitischen Proletariat populär, sondern auch bei irankritischen Sunniten. Denn kein anderer Politiker bietet den Amerikanern in dem Maße die Stirn wie er. Die Sunniten stört dabei nicht, dass sich Sadr ins iranische Exil zurückgezogen hat. Schließlich wollten ihn die Amerikaner und auch Ministerpräsident Maliki töten lassen. Iran, so heißt es, sei clever genug gewesen, ihm Asyl anzubieten und die Möglichkeit, sich in der heiligen Stadt Qom theologisch zu qualifizieren. Nun legt er in schneller Folge die Prüfungen ab, um in den Irak zurückzukehren. Dort will er den betagten Großajatollahs von Nadschaf, die ihn stets wie ein ungezogenes Kind behandeln, als Ajatollah entgegentreten.
Sadr verfügt im Parlament über einen Block von vierzig Abgeordneten. Neue Akzente deuten sich auch im Block der beiden großen kurdischen Parteien KDP und PUK an, die 43 Abgeordnete stellen und, wie Sadr, als Königsmacher gelten. Die neue kurdische Reformbewegung Goran ist mit acht Mandaten ins irakische Parlament eingezogen, und zwar auf Kosten der PUK. Nur mit Hilfe der KDP, an deren Spitze der Präsident von Irakisch-Kurdistan, Barzani, steht, wurde die Erosion der PUK aufgehalten, der Partei des irakischen Staatspräsidenten Talabani. Eine Debatte zur Neuverteilung der Macht unter den Kurden hat eingesetzt.
Neben dieser Neuverteilung wird die Stärke der kurdischen Politik in Bagdad auch davon abhängen, ob sich Goran weiter als innerkurdische Opposition verhält oder bei den großen kurdischen Themen mit der KDP und PUK einen Schulterschluss anstrebt. Dazu zählen die angestrebte Kontrolle über die Ölvorkommen in Irakisch-Kurdistan sowie die Kontrolle über die Provinz Kirkuk und andere Landstriche, die zwischen den Arabern und Kurden umstritten sind. Nur vorübergehend sind diese Konflikte auf Eis gelegt. Unabhängig davon, wie die Lösungen ausfallen – sie werden Nährboden für neue Gewalt sein.
Nutzen wird sie den drei bekanntesten arabisch-sunnitischen Widerstandgruppen. Eine untersteht dem Kommando von Izzat Ibrahim al Duri, dem früheren Stellvertreter von Saddam Hussein. Die einen halten ihn für tot, andere wollen ihn im Irak, im Jemen oder in Saudi-Arabien gesehen haben. Ein zweiter Widerstandsführer ist Yunus al Ahmad, der mutmaßlich von Syrien aus im Untergrund die Baath-Partei steuert und von dort Anschläge plant. In Jordanien wird schließlich Harith al Dhari vermutet, der in der frühen Phase des Widerstands an der Spitze der “Vereinigung der sunnitischen Religionsgelehrten” gestanden hatte.
Trotz der wiederholten Anschläge scheint der Wirkungsgrad von Al Qaida im Irak abzunehmen. In den vergangenen zwölf Monaten ist die Stärke der Bomben, die sie eingesetzt haben, stets kleiner geworden. Zu ganz großen Anschlägen sind die meist nichtirakischen Dschihadisten offenbar nicht mehr in der Lage. Unklar bleibt, ob ihnen das Geld ausgeht oder ob ihr logistischer Spielraum eingeschränkt ist. Viele kleinere Anschläge tragen nicht die Handschrift von Al Qaida und sind rein kriminell.
Die amerikanische Armee hatte erklärt, 32 der 48 Führer von Al Qaida im Irak seien getötet. Al Qaida regeneriert sich aber, verfügt mit “Abu Sulaiman” über einen neuen militärischen Führer. Die Dschihadisten sind jedoch geschwächt, und ihnen gehen die Ziele aus. Wenn im August weitere amerikanische Soldaten abziehen, gibt es für Al Qaida einen Feind weniger. Bei den sunnitischen Arabern im Irak hat Al Qaida – im Gegensatz zu den eigenen Widerstandsbewegungen – ohnehin keine Sympathien mehr. Der Irak ist für Al Qaida immer weniger ein Schauplatz. Ihre Krieger ziehen weiter, nach Pakistan und Afghanistan. Für den Irak ist das eine gute Nachricht und ein weiterer Stein auf dem Weg zu etwas mehr Normalität.