Die Palästinenser innerhalb der grünen Linie in Aufruhr
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Die Palästinenser innerhalb der grünen Linie in Aufruhr
Geschrieben von Petra Wild
Veröffentlicht: 09. Juli 2014 Zugriffe: 178
Seitdem der 16jährige Muhammad Abu Khdeir in Jerusalem von Siedlern entführt, gefoltert und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, befinden sich alle Teile des historischen Palästinas in Aufruhr.
Die Dynamik der Auseinandersetzung zwischen zionistischen Siedlerstaat und einheimischer palästinensischer Bevölkerung weist drei neue Entwicklungen auf:
1. Die breite Beteiligung der Palästinenser innerhalb der grünen Linie an den Protesten;
2. die verbesserten militärischen Kapazitäten des bewaffneten Widerstands im Gaza-Streifen, der auf die israelische Eskalation mit dem anhaltendem Beschuss israelischer Orte bei gradueller Ausweitung des Radius antwortet und eine Waffenruhe von der Aufhebung der Belagerung des Gaza-Streifens abhängig macht;
3. die zunehmenden Angriffe von Palästinensern in der Westbank auf den Repressionsapparat der Autonomiebehörde und die immer lauter werdenden Forderungen, die „Sicherheitszusammenarbeit mit Israel einzustellen. Obgleich jede einzelnen dieser Entwicklungen von großer Bedeutung ist, soll hier nur auf den ersten Punkt eingegangen werden, da alles andere den Rahmen eines Artikels sprengen würde.
Die Proteste gegen die Ermordung von Muhammad Abu Khdeir fanden vom 1.Tag an parallel in den 1967 besetzten Gebieten und auf dem Territorium des Kernstaats Israel statt. In zahlreichen Städten innerhalb der grünen Linie gab es Kundgebungen und Demonstrationen, darunter in Sakhnin, Haifa, Majd al-Krum, Tamra, Jisr al-Zarqa, al-Lid/Lod, Nazareth und Um al-Fahem. Besonders intensiv war die Mobilisierung im Muthalath-Gebiet im unteren Galiläa, das nahe an der Westbank liegt und zu dem die Städte Nazareth und Um al-Fahem gehören. In vielen kleineren Ortschaften gingen am 4. und 5. Juli die Jugendlichen und jungen Männer – die Schebab – auf die Straße, blockierten Straßenkreuzungen, holten die israelische Flagge vom Mast und verbrannten sie, um sie durch die palästinensische zu ersetzten. An einigen Orten kam es zu Auseinandersetzungen mit der israelischen Polizei Zu den Ortschaften, die allein im Muthalth-Gebiet demonstrierten, gehörten: al-Tira, al-Taibeh, Qalansuwa, Um al-Fahem, ‚Ara, Arara, Baqa al-gharbiyeh, Kafr Qassem und Jit. Am Sonntag, den 7.Juli breiteten sich die Demonstrationen auf Bir Sab’a/Beersheva im Naqab/Negev im Süden des Landes aus und am folgenden Tag auf Akka ganz im Norden des Landes.
Das ist ein neuer Höhepunkt in der Entwicklung des Kampfes der Palästinenser innerhalb der Grünen Linie. Sie demonstrieren nicht nur aus Solidarität mit den Palästinensern in den 1967 besetzten Gebieten, sondern begreifen deren Kampf zunehmend als ihren eigenen.
Ihre Position als palästinensische Minderheit innerhalb des zionistischen Staates hat sie in vielerlei Hinsicht von allen Teilen der palästinensischen Gesamtbevölkerung (Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten, Palästinenser innerhalb der Grünen Linie und etwa 6 Millionen Palästinenser in der Diaspora) in die komplizierteste Lage gebracht. Formal haben sie die israelische Staatsbürgerschaft, ohne jedoch in den Genuss voller Staatsbürgerrechte und einem gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen zu kommen, denn diese sind den Angehörigen der „jüdischen Nation“ vorbehalten, als deren exklusiver Staat Israel sich versteht. Gleichzeitig sind sie Teil der palästinensischen Gesamtbevölkerung, wurden aber von der PLO, deren Führung bereits seit 1974 einen Mini-Staat in der Westbank und dem Gaza-Streifen anstrebte, nie recht in den Kampf einbezogen. Deren Nachfolgerin, die Palästinensische Autonomiebehörde sieht sich einzig als Repräsentantin jenes Drittels der palästinensischen Gesamtbevölkerung, das in den 1967 besetzten Gebieten lebt.
Die Palästinenser innerhalb der Grünen Linie sind seit der Gründung des Staates Israel heftigen Angriffen auf ihre Identität und ihre Lebensgrundlagen ausgesetzt. Zwischen 1948 und 1966 standen sie unter Militärherrschaft: Ihre Dörfer wurden abgeriegelt, so dass sie voneinander, von der jüdische-israelischen Bevölkerung und der weiteren arabischen Welt abgetrennt wurden. Ihr Land wurde größtenteils beschlagnahmt, sie werden geographisch und ökonomisch stranguliert und auf allen Ebenen vom israelischen Staat und der jüdisch-israelischen Gesellschaft ausgeschlossen.
Ihre palästinensische Identität wird nicht anerkannt. In klassischer kolonialer Weise werden sie in unterschiedliche Kategorien aufgeteilt: Beduinen, Araber, Drusen, und neuerdings gibt es auch die eigene Kategorie der Christen. In den ersten Jahrzehnten wurden Versuche der Palästinenser, Widerstand zu organisieren durch brutale Repression schon im Keim erstickt. Die ersten großen Demonstrationen der einheimischen Bevölkerung innerhalb der Grünen Linie fanden am 30. März 1976 statt und richteten sich gegen den fortgesetzten israelischen Landraub. Bei diesen Demonstrationen wurden in den galiläischen Dörfern Sakhnin, ‚Arrabeh und Deir Hanna sechs Palästinenser getötet. Seitdem ist der 30.März als „Tag des Bodens“ ein fester Bestandteil des palästinensischen Kalenders der Gedenk- und Kampftage. Die zunehmende Mobilisierung der Palästinenser innerhalb der Grünen Linie führte zur Gründung von anti-zionistischen Organisationen wie Abna al-Balad (Kinder des Landes). Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung organisierte sich jedoch weiterhin in zionistischen Parteien wie der „Kommunistischen Partei Israels“ und wählte bis in die 1990er Jahre hinein in den Parlamentswahlen vor allem jüdisch-israelische zionistische Main Stream-Parteien. Die beiden palästinensischen Aufstände von 1987 – 1993 und 2000 – 2003 in den 1967 Gebieten veränderten jedoch die politische Dynamik und verstärkten die Tendenz zur „Palästinensisierung,“ wie israelische Experten es nennen. Die palästinensische Minderheit im Kernland des zionistischen Siedlerstaats bekannte sich immer klarer zu ihrer palästinensischen Identität und organisierte sich zunehmend unter diesem Vorzeichen. Wie weit diese Entwicklung zu Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 schon gediehen war, zeigte sich daran, dass die Palästinenser innerhalb der Grünen Linie sich in den ersten Tagen an dem Aufstand beteiligten. Aber schon nach wenigen Tagen wurde diese Erhebung der Palästinenser in Israel mit brachialer Gewalt niedergeschlagen. 13 Palästinenser wurden getötet, Hunderte verletzt. Obwohl sie nur einige Tage gedauert hatte, war es die größte und längste Erhebung der einheimischen Bevölkerung innerhalb der Grünen Linie seit 1948. Die brutale Gewalt, die damals eingesetzt wurde, hat wesentlich dazu beigetragen die ohnehin schon tiefe Kluft zwischen der einheimischen Bevölkerung und dem Siedlerstaat Israel noch einmal zu vertiefen. Hinzu kommt, dass der israelische Apparat mit zunehmender Repression auf die Forderung der Palästinenser nach einem „Staat für alle seine Bürger“ reagiert. Die palästinensischen politischen Parteien, die sich nach den Oslo-Abkommen innerhalb der Grünen Linie gebildet haben, und die arabischen NGOs fordern seit Ende der 1990er in zunehmendem Maße die Umwandlung Israels von einer Ethnokratie, die sich religiös-ethnisch definiert in eine Demokratie mit gleichen Rechten für alle Bürger.
2007 legten die politischen Vertreter der einheimischen Bevölkerung drei Dokumente über die „Zukunftvision“ der palästinensischen Minderheit in Israel vor, in der sie ihr Selbstverständnis als nationale Minderheit und ihre politischen Forderungen an den Staat Israel formulierten: Anerkennung als nationale Minderheit und kulturelle Autonomie sowie den Umbau des ethnokratischen Staates Israel in einem demokratischen Staat. Die arabische Bürgerrechtsorganisation „Adalah“ entwarf sogar eine Verfassung für den neuen demokratischen Staat. Das jüdisch-israelische Establishment reagierte darauf mit Empörung, der Inlandsgeheimdienst Shin Bet bezeichnete die Forderung nach Demokratie als „strategische Bedrohung“ und kündigte an, mit aller Härte gegen jeden vorzugehen, der den jüdischen Charakter des Staates Israel ändern wolle, auch wenn er das mit demokratischen Mitteln tue. Seither verschlechtern sich die Beziehungen zwischen den Palästinensern innerhalb der Grünen Linie und dem Staat Israel fortlaufend. Die forcierte „Judaisierungspolitik“ im Naqab/Negev und den alten palästinensischen Städten wie Jaffa und Akka, die Verabschiedung immer weiterer rassistischer Gesetz, die den ohnehin schon engen Spielraum der einheimischen Bevölkerung stets weiter einschränken sowie der zunehmende Rassismus der jüdisch-Israelischen Bevölkerung, der sich unter anderem in physischen Angriffen und Kampagnen zur Verhinderung der Vermietung an Araber oder ihre Anstellung äußert, erhöhen die Spannungen kontinuierlich.
Die Antwort der Palästinenser auf die israelische Politik ist das immer klarere Bekenntnis zur palästinensischen Identität und die immer größer werdende Mobilisierung auf der Straße unter diesem Vorzeichen. 2008/09 hielten die Palästinenser in Israel aus Protest gegen den Gaza-Krieg mit etwa 150.000 Teilnehmern die größten Demonstrationen seit 1948 ab.
Die starke Beteiligung der Palästinenser innerhalb der Grünen Linie an der jetzigen palästinensischen Erhebung – von der noch nicht gesagt werden kann, ob es die dritte Intifada ist – zeigt , wie sehr sich die Dynamik beschleunigt hat. Mittlerweile gibt es keine Trennung mehr zwischen den Kämpfen der Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten und den Palästinensern innerhalb der Grünen Linie. Wenn die dritte Intifada kommt, werden die Palästinenser innerhalb der Grünen Linie eines ihrer Zentren bilden.