Die Schredder laufen heiß
13.07.2012 / Titel / Seite 1Inhalt
Die Schredder laufen heiß
Von Sebastian Carlens
Ist der GAU, der »größte anzunehmende Unfall«, noch steigerungsfähig? Neue Superlative könnten dringend benötigt werden, denn als »GAU für den Geheimdienst« wurde bereits die Vernichtung von Akten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine Woche nach Auffliegen der neonazistischen Zwickauer Terrorzelle bezeichnet. Die ARD-Sendung »Monitor«, die am Donnerstag abend ausgestrahlt werden sollte, hat nun neue schwere Vorwürfe erhoben: Noch einige Tage nach der ersten Einstampfaktion soll eine weitere Akte zur »Operation Rennsteig« geschreddert worden sein. Der Ordner sei »durch Zufall« von einem Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes gefunden worden, dessen Vorgesetzter habe daraufhin »nach kurzem Durchblättern die sofortige Vernichtung angeordnet«, berichtete »Monitor«. Das Disziplinarverfahren gegen den Referatsleiter, der bereits den ersten Löschauftrag erteilt hatte, sei um den Vorwurf einer zweiten rechtswidrigen Aktenvernichtung ausgedehnt worden. Die Mitarbeiter des Referats 2b beim BfV seien über die anstehende Löschaktion per E-Mail informiert worden, auch der dem Referatsleiter vorgesetzte Gruppenleiter, so »Monitor«.
Ein weiterer Aktenskandal, diesmal laut dem SPD-Landtagsabgeordneten Karl Nolle gar ein »Super-GAU« für den sächsischen Innenminister, führte am Mittwoch zur Entlassung von Sachsens Landesamtschef Reinhard Boos (jW berichtete). Beim Landesverfassungsschutz waren Geheimakten aufgetaucht, die Regierung und Landtag überraschten: Das Konvolut war der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) in Dresden für ihre – mittlerweile abgeschlossene – Untersuchung zur Zwickauer Terrorzelle nicht zur Verfügung gestellt worden. Es sei skandalös, daß die Existenz der Dokumente erst jetzt bekanntgeworden sei, sagte der Vorsitzende der PKK, Günther Schneider (CDU), am Donnerstag nach einer Sondersitzung des Gremiums. Boos soll am heutigen Freitag bei einer weiteren Sondersitzung Auskunft über den Vorgang geben.
Über Boos’ Gründe, sein Amt niederzulegen, wird nach wie vor spekuliert. PKK-Mitglied Kerstin Köditz (Die Linke) bezweifelte die Notwendigkeit des Rücktritts: »Die gefundene Akte war maximal ein Anlaß, aber kein Rücktrittsgrund«, sagte sie. Nach Informationen von Spiegel online enthält sie Abhörprotokolle des Chemnitzers Jan W., eines ehemaligen Anführers der neofaschistischen »Blood and Honour«-Bewegung in Sachsen und Unterstützers des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU). In einem aktuellen Untersuchungsbericht für den thüringischen Landtag steht nach Angaben des Stern: »Ein Hinweis auf Waffen läßt sich möglicherweise einer Telekommunikationsüberwachungs-Maßnahme bei Jan W. im August 1998 entnehmen.« Am 25. August 1998 schrieb W. eine SMS mit dem Inhalt: »Hallo, was ist mit den Bums«. Empfänger der Kurznachricht: ein Handy, das auf das Innenministerium »eines anderen Bundeslandes« registriert war und sich im sächsischen Chemnitz befand. Dorthin hatte sich die Zwickauer Terrorzelle abgesetzt, die 1998 nach ihrem Gang in den Untergrund versuchte, an Waffen zu gelangen.
Mit BfV-Chef Heinz Fromm, Boos und dem Thüringer Amtschef Thomas Sippel, der vergangene Woche entlassen worden war, sind bereits drei Geheimdienstchefs über den NSU-Komplex gestürzt. Weitere personelle Konsequenzen schloß Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) am Donnerstag nicht aus. Das wäre dann vermutlich ein »Giga-GAU«. Doch auch die deutsche Sprache stößt irgendwann an ihre Grenzen.