Die Versteinerung der Herzen
Die Versteinerung der Herzen
Die sich in immer mehr Lebensbereiche ausbreitende Logik des Kapitalismus schafft einen psychopathischen Sozialcharakter. Über den Ursprung und die Ausbreitung sozialer Kälte
Von Götz Eisenberg, junge Welt, 12. November 2016![]() Ein krasser Fall von unterlassener Hilfeleistung: Mehrere Bankkunden ignorierten einen am Nachmittag des 3. Oktober im Vorraum einer Essener Bank zusammengebrochenen 82jährigen Mann
Foto: Polizei Essen/dpa
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Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition-Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band »Zwischen Amok und Alzheimer« erschien 2015 im Verlag Brandes und Apsel.
In der Süddeutschen Zeitung vom 29./30. Oktober 2016 stieß ich auf eine Meldung, die mich seit der Lektüre nicht mehr losgelassen hat. Am Nachmittag des 3. Oktober 2016, also am Tag der Deutschen Einheit, brach ein 82jähriger Mann im Foyer einer Essener Bank zusammen. Statt sich um ihn zu kümmern, stiegen in den folgenden 20 Minuten mehrere Kunden über den am Boden liegenden Mann hinweg oder machten einen großen Bogen um ihn. »Teilweise gingen sie nah an dem Sterbenden vorbei oder stiegen hinüber, um ihre eigenen Finanzgeschäfte durchzuführen«, heißt es von seiten der Ermittler. Anschließend hätten die Kunden den Vorraum wieder verlassen.Auf den Videoaufnahmen ist laut Polizei zu sehen, wie etwa fünf Minuten nach dem Zusammenbruch die erste Person den Vorraum betritt und den Mann ignoriert. Dieser habe mitten in dem Raum gelegen und sei gut gekleidet gewesen, sagte der Polizeisprecher. Erst der fünfte Kunde habe den Rettungsdienst alarmiert. Der Mann ist wenige Tage nach dem Zusammenbruch verstorben. Erst sein Tod war der Anlass, über den Vorfall breiter zu berichten.
Die Polizei hat inzwischen von dem Kreditinstitut eine Liste derjenigen bekommen, mit deren Karten im betreffenden Zeitraum Geldgeschäfte getätigt wurden. Die Ermittler gehen davon aus, dass alle auf dem Überwachungsvideo zu sehenden Personen – drei Männer und eine Frau – mit ihren eigenen Karten am Geldautomaten waren. Sie wurden diese Woche zu einer Vernehmung geladen. »Gegen sie läuft ein Strafverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung«, erklärte die Polizei.
Soweit die Spur, die ein gelebtes Leben in einer knappen Zeitungsmeldung hinterlässt. Über den nun gestorbenen Mann erfahren und wissen wir nichts, außer dass er »gut gekleidet« gewesen ist. Wie sollen wir den Hinweis des Polizeisprechers darauf verstehen? Er wollte damit ja wohl sagen: Hätte der Mann heruntergekommen oder gar verwahrlost gewirkt, hätte man das Verhalten der Bankkunden verstehen können. »Das ist halt ein Penner, der seinen Rausch ausschläft«, hätten die vier untätigen Bankkunden dann denken können und wären entschuldigt gewesen.
Am Tag, nachdem ich auf die Meldung gestoßen war, betrat ich den Vorraum einer Bank und versuchte, mir die Szenerie vorzustellen. Ein Leben erlischt zwischen Bankautomaten. Der alte Mann stirbt an der Gleichgültigkeit der anderen, die gleichsam lebende Geldautomaten sind. Ein heutiger Tod, in dem sich allegorisch der Zustand unserer Gesellschaft ausdrückt. Der Stand des moralischen Bewusstseins zeigt sich im Verhältnis zum anderen, zu den Mitmenschen. Im Foyer der Essener Bank traten eine zwischenmenschliche Gleichgültigkeit und Mitleidlosigkeit in Erscheinung, die auf einen rapiden Schwund an Moral schließen lassen. Wenn wir den Gründen dieses Schwundes nachgehen wollen, wird über eine Gesellschaft zu reden sein, die sich der Geldvermehrung verschrieben hat und Werte nur noch an der Börse kennt. Das Geld besitzt keine Moral, ihm ist, salopp gesagt, alles egal. Die Leute, die den alten Mann liegen ließen, werden sich als »anständige«, vollkommen »normale« Bürger erweisen. Ihre Mitleidlosigkeit ist die Mitleidlosigkeit aller – die Mitleidlosigkeit einer Gesellschaft, deren einziger kategorischer Imperativ die private Nutzenmaximierung und Bereicherung ist. Alles andere ist bloß Gerede und Vernebelung.
Rabiate Vergleichgültigung
In den vom Neoliberalismus beherrschten zurückliegenden Jahrzehnten haben wir uns offenbar an den Anblick von auf der Straße, auf Parkbänken und in Hauseingängen liegenden Menschen gewöhnt. Man steigt beim Champagnerkauf über Bettler hinweg. Die Jahre im arktischen Klima des entfesselten Marktes haben die Menschen selbst eisig werden lassen und abgestumpft. Der Anblick eines am Boden liegenden Menschen löst kein Mitgefühl mehr aus, und schon gar keinen Impuls, tätig zu werden und zu helfen. Mitleid und Hilfeleistung gelten als Eigenschaften von »Gutmenschen« und als »Sozialklimbim«. Heute morgen hörte ich einen jungen Mann in sein Telefon hineinsprechen: »Wieso sagst du das? Die Leute denken ja, ich wäre ein Loser.« Schon unter Kindern ist der Begriff ein gängiges Schimpfwort.
Das Geschehen in der Essener Bank ist ja beileibe kein Einzelfall. Ende des Jahres 2015 brach ein Mann in einem Aufzug der Wiener U-Bahn zusammen. Stundenlang lag er am Boden der Kabine, in die ständig Leute ein- und wieder ausstiegen. Erst das Reinigungspersonal verständigte am nächsten Morgen den Rettungsdienst, der nur noch den Tod des Mannes feststellen konnte. Die Obduktion ergab, dass der Mann an einer Alkoholvergiftung gestorben war und dass er durchaus hätte gerettet werden können, wenn man früher Hilfe geholt und ihn künstlich beatmet hätte. Fünf Stunden lang lag der Mann am Boden der Kabine, ohne dass irgend jemand auf die Idee kam, etwas zu unternehmen.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, der schon etwas länger zurückliegt und sich in München ereignete. Kinder betraten im Winter den zugefrorenen Olympiasee und brachen ein. Am Ufer standen etliche Erwachsene und wohnten dem Unglück bei. Niemand kam auf die Idee, zu helfen oder wenigstens Hilfe zu rufen. Der Rettungswagen und die Feuerwehr trafen erst nach über 20 Minuten ein und konnten mindestens eines der Kinder nur noch tot bergen. Dabei ist dieser See an seiner tiefsten Stelle gerade mal 1,4 Meter tief. Für keinen Erwachsenen hätte ernstlich Gefahr bestanden, wenn er sich entschlossen hätte, den Kindern zu Hilfe zu kommen.
Wie ist ein solches Verhalten zu erklären? Niemand will Verantwortung übernehmen, jeder verlässt sich darauf, dass irgendein anderer schon etwas unternehmen wird. Niemand will etwas falsch machen. Selber in die Bresche zu springen und Hilfe zu leisten, ist aus unserem Verhaltensrepertoire offenbar verschwunden. »Haben wir für solche Situationen nicht ausgebildete Kräfte?« sagen die Leute. Experten, ursprünglich auf den Plan gerufen, um gesellschaftliche Mängel zu kompensieren, tragen, wenn sie sich als Berufszweig einmal etabliert haben, dazu bei, das »soziale Immunsystem« durch Enteignung von Kompetenzen weiter zu schwächen. Irgendwann sagen sich die Leute: »Bevor ich beim Helfen irgend etwas falsch mache, überlasse ich es lieber den Fachleuten und halte mich raus.« All das mag zur Klärung der Frage, wie es zu der Handlungsweise der Essener Bankkunden und der Zuschauer am Olympiasee hat kommen können, beitragen. Wir kennen das Phänomen des Zuschauer- oder Non-helping-bystander-Effekts auch von den U- und S-Bahn-Attacken der letzten Jahre. Dieses Verhalten hat indessen tiefer liegende gesellschaftliche Ursachen.
Unfähig zur Einfühlung
Die zwischenmenschliche Kälte und Gleichgültigkeit, die uns an diesen Beispielen so erschreckt, entstammt der »ökonomischen Zellenform« der bürgerlichen Gesellschaft, der »Ware«. Das Grundmodell dieser Indifferenz bildet die Tauschabstraktion. Um ganz verschieden beschaffene Dinge gegeneinander tauschen zu können, muss von ihrer konkreten stofflichen Gestalt abgesehen werden. Nur als Verkörperung unterschiedsloser, abstrakter Arbeit werden die Gegenstände kompatibel. Tauschen kann man nur unter der Bedingung, dass man von den spezifischen Eigenschaften der zu tauschenden Gegenstände absieht und sie auf eine abstrakte, ihnen gemeinsame Form bringt. Diese Form nennt Marx die Äquivalent- oder Wertform. Das ist das Prinzip, das das Leben der gesamten bürgerlichen Gesellschaft beherrscht. Die Abstraktion vom Gebrauchswert und die Reduktion auf den Tauschwert verwandelt auch die Tauschenden selbst in einander gleich geltende und gegeneinander gleichgültige Waren- und Geldsubjekte. Die Menschen werden zynisch-pragmatische Tauschmaschinen, deren Verkehr untereinander von störenden Gefühlsbeimengungen gereinigt wird. Sie sind »abgehärtet« im physischen und im psychologischen Sinn. Ihre Kälte ist eines ihrer prägnantesten Merkmale – kalt fremdem Leiden, aber auch sich selbst gegenüber. Aus der Härte gegen sich selbst leiten sie die Berechtigung ab, hart gegen andere sein zu dürfen.
Das ist die Grundform dessen, was Adorno als »bürgerliche Kälte« begriffen hat. Als mit der Warenform aufs engste verknüpft und aus ihr resultierend, ist sie der bürgerlichen Gesellschaft wesentlich und nicht irgendeine späte Zutat, die sich ohne grundlegende Änderungen, etwa Appelle, sich mehr zu lieben und einander Wärme zu spenden, überwinden ließe. Auch die Intoleranz gegenüber dem Verschiedenen, die Wut auf die Differenz, wurzelt letztlich in der Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert. Alles, was den Tauschprozess stört, wird abgeschnitten und eliminiert. Solange ganze Bereiche der Gesellschaft von der Logik des Tausches ausgenommen waren, konnten sich reservatartig andere Weisen des zwischenmenschlichen Verkehrs erhalten – an Bedürfnissen und am Gebrauchswert orientierte Beziehungen. Mit der Universalisierung der Warenform, die sich in der Gegenwart vollzieht, fressen sich Indifferenz und Kälte durch alle Schichten des Gesellschaftsbaus und dringen bis in die letzten Poren des Alltagslebens und die intimen Binnenwelten vor. Unter unseren Augen entsteht ein durch und durch kapitalistischer Menschentyp, der zur Einfühlung in andere unfähig und dessen Innenwelt eine einzige Gletscherlandschaft ist. Was heute noch als »Psychopathie« diagnostiziert und pathologisiert wird, droht, wenn sich die Verhältnisse nicht grundlegend ändern, in einer nicht allzu fernen Zukunft zur Normalität und zum hegemonialen Sozialcharakter zu werden.
»Das kalte Herz«
Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Tage eine Neuverfilmung des Wilhelm-Hauff-Märchens »Das kalte Herz« in die Kinos kommt. Es ist eine merkwürdige, aber hoch aktuelle Geschichte, die der große romantische Erzähler Hauff 1827 verfasst und in seinem »Märchenalmanach« veröffentlicht hat. Im Zentrum steht der arme Kohlenbrenner Peter Munk. Seine Heimat ist der Schwarzwald. Er lebt unter Menschen, die mit Holzfällen, dem Flößen von Baumstämmen, der Köhlerei, mit der Uhrenfabrikation oder der Glasbläserei ihr oft karges, aber aufrechtes Leben bestreiten. Sie stellen handfeste Gebrauchsdinge her, die zwar in Geld umsetzbar sind, nicht jedoch um des Geldes willen produziert werden. Die Menschen lebten natürlich nicht in einem »Goldenen Zeitalter«, sondern, wie der italienische Filmemacher und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini schrieb, in einem »bitteren Zeitalter des Brotes«, das aber seine eigene Kultur und Würde besaß. Peters Armut und Not und der verschwenderisch-dumme Umgang mit den drei Wünschen, die das Glasmännlein ihm gewährt, treiben ihn dem Holländer-Michel, einem skrupellosen Geschäftsmann, in die Arme. Dieser eignet sich als Gegenleistung für seine Hilfe Peters lebendig-schlagendes Herz an und verpasst ihm statt dessen ein Herz aus Stein. Fortan verfügt Peter über die richtige Innenausstattung für das Geschäftemachen, ist geizig und habgierig. Aber er vermag weder zu lachen noch zu weinen, ist unfähig zur Liebe und Anteilnahme am Schicksal anderer. Er fühlt nichts mehr und geht für den geschäftlichen Erfolg über Leichen. Den Ausgang der Geschichte kann jeder selbst nachlesen.
Das Märchen erzählt von einer großen gesellschaftlichen Umbruchsituation, von einer tiefgehenden Krise der menschlichen Lebensverhältnisse. Das Geld und die Warenproduktion breiten sich aus und dringen in die Poren der Gesellschaft ein. Die Menschen leiden unter der zunehmenden Entfremdung, die sich wie Rauhreif auf Menschen und Dinge legt. Die Geldwirtschaft erzeugt Unzufriedenheit und schafft das Bedürfnis, schnell reich zu werden. Die Kategorie des »Genug« wird durch eine neue Grenzenlosigkeit ersetzt. Der Tauschwert ist seinem Wesen nach grenzenlos, wie schon Aristoteles erkannt hat. Der Kapitalismus, der sich aus ihm entwickelt, ist ein System, das in ständiger Bewegung sein muss, ständige Überschreitung und das Niederreißen aller Begrenzungen gehören zu seinem Wesen. In seinem »Werwolfshunger« (Marx) nach ständig neuen Quellen des Profits läuft das Kapital Gefahr, über sein Ziel hinauszuschießen. Die kapitalistische Gesellschaft zerstörte zunächst keineswegs das gesamte Erbe aus der vorbürgerlich-ständischen Zeit, sondern nutzte dieses Erbe für ihre eigenen Zwecke und zehrte von ihm. Aber Marx sollte mit seinen Prophezeiungen recht behalten: Der Kapitalismus ist die Kraft der »permanenten Revolution«. »Logischerweise musste er auch jene Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit zerstören, die für seine eigene Entwicklung notwendig und vielleicht sogar entscheidend gewesen waren. Früher oder später musste er mindestens einen der Äste absägen, auf denen er selbst saß. Eben das geschah seit Mitte des Jahrhunderts«, schreibt Eric J. Hobsbawm in seinem Buch über das 20. Jahrhundert, das er »Das Zeitalter der Extreme« nannte.
Inseln der Zwischenmenschlichkeit
Kapitalistische Gesellschaften sind »ungleichzeitig«. Quasifeudale, agrarisch-handwerkliche, zünftige Elemente blieben von der reellen Subsumption unter das Kapital lange Zeit ausgespart. Dabei ist manche Rückständigkeit für das Kapital funktional und lebenswichtig: Familie, Kindererziehung, Lernen, Heilen, Gastfreundschaft und andere Felder können nicht dem Diktat der kapitalistischen Verwertung unterworfen werden, ohne im Kern Schaden davonzutragen und ihre Funktion – auch für das Kapital selbst – einzubüßen. Von Waren und wie eine Ware kann menschliche Identität und letztlich auch menschliche Arbeitskraft nicht gefertigt werden.
In der Gegenwart müssen wir uns fragen, ob der Tauschwert nicht im Begriff ist, den Gebrauchswert ganz aufzufressen? Wenn dem so wäre, gäbe es keine Geschichte und keine Dialektik mehr, denn diese leben von der Spannung und dem Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert. In der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kleinkind hat sich zum Beispiel lange eine an Bedürfnissen orientierte Produktionsweise erhalten, ohne die aus Neugeborenen keine Menschen mit menschlichen Eigenschaften geworden wären. Können wir das angesichts neuartiger Formen »digitaler Kindesaussetzung« noch umstandslos annehmen? Gegenwärtig werden im Namen von Mobilität und Flexibilität die Bedingungen der Sozialisation der Neugeborenen und Heranwachsenden radikal verändert und zerstört. Die Kinder sind von Apparaten und Bildmaschinen umgeben, eine Gerätesozialisation löst die Erziehung durch lebendige und leiblich anwesende Bezugspersonen ab. Die Kinder stürzen aus dem Mutterleib direkt in die Gesellschaft des losgelassenen Marktes, ohne dass ein familiärer Airbag den Aufprall abfedert. Was nach außen noch wie eine Familie aussieht, ist im Innern oft bereits eine einzige Szenerie von Indifferenz und Kälte, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten. Was für psychische Strukturen bilden sich unter diesen Bedingungen aus, woran soll sich das Selbstwertgefühl der Kinder entwickeln?
Noch sind wir nicht vollends ins »Nirwana des Geldes« (Robert Kurz) eingetreten, noch leben wir in einer Übergangszeit. Einige der beschriebenen Prozesse sind unabgeschlossen, vieles ist noch in der Schwebe. Aber schon die häufige Verwendung des Temporaladverbs »noch« verweist auf den prekären Zustand der inselartigen Überbleibsel anderer Lebensformen und Existenzweisen. All das Ungleichzeitige droht von der Furie des Verschwindens erfasst und nach dem Muster der »gefühllosen, baren Zahlung« (Marx) organisiert zu werden. Noch sind die Herzen vieler Menschen nicht komplett versteinert, noch existieren Mitgefühl und Solidarität, wie zum Beispiel das Engagement für die Geflüchteten und in anderen gesellschaftlichen Feldern zeigt.
»Ökonomie des Glücks«
Wir müssen uns fragen: Welche menschlichen Haltungen gedeihen in einem gegebenen sozialen Klima, welche verkümmern? Die Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir für die eigentlich menschlichen halten, bedürfen der äußeren Stützung. Auch und gerade aus diesem Grund brauchen wir, solange wir unter kapitalistischen Bedingungen leben, einen voll entfalteten und handlungsfähigen Sozialstaat. Wie die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention Regeln und Grenzen für den Krieg zwischen Nationen zu formulieren und durchzusetzen versuchten, so versucht der Sozialstaat den innergesellschaftlichen »Krieg aller gegen alle« einzuhegen. Er setzt ihm Begrenzungen und formuliert Regeln, die die schlimmsten Auswirkungen des Kapital- und Marktprinzips mildern und für die Betroffenen abfedern sollen. Er fördert in den Phasen, wo er nicht nur propagiert, sondern praktiziert und gelebt wird, Tugenden wie Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein, gegenseitige Hilfe und Solidarität. Umgekehrt begünstigt seine Schleifung die in der Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft verankerten Tendenzen zu Aggression, Feindseligkeit und zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied, ob man in einer Gesellschaft aufwächst und lebt, in der Schwachen und weniger Leistungsfähigen solidarisch beigesprungen und unter die Arme gegriffen wird, oder in einer, in der sie der Verelendung preisgegeben und als sogenannte Loser zu Objekten von Hohn und Spott werden. Der Andere, der Mitmensch, wird unter solchen Bedingungen zum feindlichen Konkurrenten, zum Überzähligen, schließlich zum Gegen- oder Nicht-Mensch, dem jede Einfühlung verweigert und Unterstützung aufgekündigt wird. Man gewöhnt sich daran, dass das Glück der einen mit dem Leid der anderen zusammen existiert: Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft.
Noch sind wir nicht soweit, aber wir müssen uns anstrengen, wenn wir eine Umkehr erzwingen wollen. Es geht darum, die gebrauchswertorientierten Prozesse, die das Kapital niemals wirklich unter sich hat begraben können, zu stärken. Wir müssen uns auf das beziehen, was das Kapitalprinzip den Menschen antut, und verhindern, dass die noch verbliebenen menschlichen Regungen den Kältetod sterben. In Krisenzeiten wachsen Gleichgültigkeit und Kälte umso nachdrücklicher, je verdunkelter die Perspektiven der Krisenlösung sind. Wo sich aber der »Kältestrom« (Ernst Bloch) verbreitert, sind in der Regel auch die Brandfackeln nicht weit. Das Fremde und Fremdartige bietet sich leicht für Brandherde an, um die herum trügerisch-falsche Gemeinschaftsgesinnungen entstehen und kalte Hände sich wärmen lassen. Wir können das seit nunmehr zwei Jahren jeden Montag in Dresden beobachten.
Dagegen müssen wir einen anderen, einen wirklichen »Wärmestrom« setzen. Kälte- und Wärmeströme entspringen dem Zentrum der Gesellschaft; was an den Rändern passiert, ist davon abgeleitet. Deswegen benötigen wir eine solidarische Ökonomie, eine »Ökonomie des Glücks« (Pierre Bourdieu), deren Ziel nicht der Profit, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist. Auf ihrer Basis könnte eine Gesellschaft entstehen, die ihre soziale Integration und den zwischenmenschlichen Verkehr auf Formen solidarischer Kooperation und gelebter Mitmenschlichkeit gründet, statt auf einer letztlich a-sozialen Vergesellschaftung durch Markt und Geld. Wir sind noch keine vollständigen Menschen, wir sind von der Klassengesellschaft niedergedrückte und verstümmelte Noch-nicht-Menschen. Im besten Fall sind wir Wesen, die sich mühen, zu menschlichen Beziehungen zu gelangen. Wenn eine zur Vernunft gekommene Menschheit eines Tages Warenproduktion und Geld abgeschafft und eine Ökonomie eingeführt haben wird, die sich an sinnlichen Bedürfnissen und ökologischen Verträglichkeitskriterien orientiert, könnte es sein, dass Menschen wahrhaft menschliche Züge annehmen und sich füreinander interessieren. Niemand müsste dann einen einsamen Tod zwischen Geldautomaten sterben.