Dunkelkammern des Ich: Über individuelle Ängste und ihre Bewirtschaftung
Dunkelkammern des Ich
Neurosen sind allgegenwärtig. Sie zu bannen, bedarf es eines vernünftigen Umgangs mit sich selbst. Über individuelle Ängste und ihre Bewirtschaftung (Teil 1)
Von Götz Eisenberg, Junge Welt, 22. Juli 2017
»Angst macht, was unbegreiflich ist«, heißt es in Anton Tschechows Erzählung »Angst«. Und er lässt den Freund des Erzählers fortfahren: »Angst macht mir hauptsächlich das Alltagsleben, vor dem sich niemand von uns verstecken kann.« Wenn das Alltagsleben, das normalerweise der Inbegriff von Routine und Wiederholungen ist, die die Funktion haben, uns vor Überraschungen zu schützen und die damit verbundene Angst zu mindern, selbst zur Quelle solcher Empfindungen wird, ist das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass eine Gesellschaft in die Krise und das Leben aus dem Lot geraten ist.
Das Wort Angst leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort »angest« ab, das »eng« bedeutet. Wer Angst hat, dem zieht sich die Welt zusammen, dem verengt sich der Horizont. Wer von Ängsten umstellt ist, fühlt sich in die Enge getrieben, dem schnürt es die Brust zusammen, dessen Herzschlag beschleunigt sich, dem bricht der Schweiß aus. Die Muskeln spannen sich an bis zur Verkrampfung. Nacken und Rücken schmerzen. Wer Angst hat, schläft schlecht, wacht in der Frühe mit Beklemmungen und einem Rumoren im Gedärm auf.
Schwindel der Freiheit
Die Angst kommt bevorzugt mit dem Dunkelwerden. In der Nacht, in der alle Katzen grau sind. Tagsüber wird sie vom Alltag gedämpft, zurückgedrängt, überlagert, manchmal sogar vergessen. Um der Angst zu entgehen, die beim Denken an den Tod aufsteigt, akzeptieren die Menschen ihr Unglück und nehmen Zuflucht zum faustischen Prinzip unablässiger, blindwütiger Aktivität. Arbeit bindet die Angst. Wie sehr das der Fall ist, merkt man daran, dass der Verlust der Arbeit manchmal mit dem Ausbruch schwerer Persönlichkeitsstörungen einhergeht, in deren Zentrum fast immer Angst steht. Da das Raum-Zeit-Gefüge in unserer Gesellschaft mit Erwerbsarbeit verknüpft ist, verlieren Menschen, die ihre Arbeit verlieren, viel mehr als nur diese. Sie büßen ihre soziale Rolle und ihre Orientierungsfähigkeit ein und sind all den psychischen Konflikten und Spannungen schutzlos ausgeliefert, die zuvor in Arbeitsprozesse eingebunden und dadurch gedeckelt waren. Der seelische Innenraum, in den sie nun verbannt sind, ist zu eng für das Austragen solcher Konflikte. Zwänge sind ein unbewusster Versuch, die Angst zu bannen, ihr eine vorübergehende Form zu geben. Diffuse Angst wird in Furcht vor etwas Konkretem verwandelt.
Von Søren Kierkegaard stammt der Hinweis darauf, dass wir Angst und Furcht zu unterscheiden haben. Der Begriff Angst, schreibt er 1844 in seinem gleichnamigen Buch ist »gänzlich verschieden von der Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen«. Die Angst hingegen sei »die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit«. Und er fährt fort: »Je weniger Geist, desto weniger Angst.« Blaise Pascal bezeichnete in früher Vorwegnahme der Kierkegaardschen Thesen die Angst als einen Schwindel, der den Menschen angesichts seiner Freiheit erfasst.
Halten wir fest: Die Furcht ist auf etwas Konkretes gerichtet, die Angst frei flottierend und unbestimmt. Furcht und Angst verhalten sich zueinander wie Wut und Hass. Wir sind wütend auf jemanden oder etwas, während der Hass ohne Adressaten bleibt.
Des Nachts steigt die Angst die Kellertreppe hinauf und packt uns bei der Kehle. »Kannst du die Tür einen Spalt offen lassen«, fragten wir als Kinder, wenn wir zu Bett gebracht wurden. Etwas Licht aus der Welt der Erwachsenen und damit der Sicherheit sollte in unser Schlafzimmer hineinfallen. Wer sich ängstigt, schaltet das Licht ein. Das bannt vorübergehend die Gespenster und verhindert eine Überflutung.
Wer Angst hat, lebt nicht in der Gegenwart und ist nicht wirklich lebendig. Das Leben verliert seine mögliche Leichtigkeit. Der sich Ängstigende lebt im Bann mitgeschleppter Traumata und ungelöster Konflikte. Wer Angst hat, kann nicht denken und kreativ sein. Angst und Kreativität verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. Deswegen sollte man Wissen nicht in Prüfungen abfragen. Prüfungen infantilisieren den Prüfling und liefern ihn archaischen Ängsten aus. In einem Roman von Stan Nadolny heißt es: »Angst verhindert fast alles: Geistesgegenwart, Beschwingtheit, konzentriertes Denkvermögen, sie lässt den Menschen schlecht aussehen und alles zuverlässig versemmeln.«
Angst blockiert unsere Fähigkeiten. Eine Gesellschaft, die den Menschen dazu verhelfen möchte, ihre Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen, sollte darauf bedacht sein, ihnen ein möglichst angstfreies Dasein zu ermöglichen. Dem stehen allerdings starke Herrschaftsinteressen entgegen: Wer ohne Angst ist, ist praktisch nicht zu demütigen und deswegen kaum beherrschbar. Schon Machiavelli hat gelehrt: Wer seinem Volk Angst macht, braucht es nicht zu fürchten.
Urmisstrauen
Der Mensch ist ein Lebewesen, das seinen Tod denken kann. Dieses Wissen ist eine der Hauptquellen der Angst. Es gibt Ängste, die zum Menschsein gehören. Angst vor Sterben und Tod, vor Krankheit, vor Trennung und dem Verlust eines geliebten Menschen. Eine kindliche Urangst ist die vorm Verlassenwerden durch die Mutter, auf deren liebende Zuwendung und körperlich-emotionale Versorgung wir anfangs angewiesen sind. Wer seine Mutter verliert, bevor die Ablösung von ihr vollzogen und gelungen ist, dessen Lebensgrundgefühl wird Angst sein. In den inneren Dunkelkammern überdauern archaische Kinderängste, gegen die kein Kraut gewachsen scheint. Verliert ein Kind seine Mutter erhält sein Verhältnis zur Welt einen Riss. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich gehöre zu den Menschen, denen das widerfahren ist. Die ersten Jahrzehnte meines Lebens wurde ich von Träumen vom endlosen Fallen heimgesucht. Das ist der Angsttraum par excellence. Symbolisch wiederholt sich in ihm die Erfahrung des Fallengelassen-Werdens. Irgendwann verloren sie sich und wichen anderen Träumen. Die Angst blieb. Manchmal genügen Kleinigkeiten, um den Bodensatz der Angst aufzuwirbeln, und es dauert dann eine Weile, bis er sich wieder gesetzt hat.
Wo unter günstigen Bedingungen ein Urvertrauen entstehen kann, wie der Psychoanalytiker Erik Erikson es ausgedrückt hat, bildet sich infolge einer vorzeitigen und deshalb traumatisierenden Trennung ein Urmisstrauen aus, das häufig ein Leben lang wirksam bleibt. Wer nicht in den vor den bewussten Erfahrungen liegenden Perioden des Lebens, einer Phase extremer Abhängigkeit, Urvertrauen erlebt hat, wird sich dieses Geborgenheitsgefühl später nur mit unsäglicher Mühe durch Freiheit des Denkens erwerben und nur schwer die Gelassenheit des Vertrauens finden können. Wer durch kontinuierliche Zuwendung und elterliche Liebe Urvertrauen und ein gutes Selbstgefühl entwickeln konnte, bewahrt bis in Missgeschicke hinein eine Art religiösen Optimismus, der auf der ruhigen Gewissheit seines eigenen Wertes fußt. Es wird schon irgendwie weitergehen. Auch im Elend bleibt er noch ein Privilegierter, der über ausreichend Ressourcen verfügt, um mit Zusammenbrüchen und Krisen fertigzuwerden. »Hat man sein ›Warum‹ des Lebens, verträgt man sich fast mit jedem ›Wie‹«, heißt es bei Nietzsche.
Mit all diesen Ängsten werden wir als Menschen – auch in der denkbar freiesten Gesellschaft – leben müssen. Dagegen entwickeln wir Abwehrstrukturen, die angstbindende Kraft besitzen und verhindern, dass unser Gefühl uns lähmt. Jede Gesellschaft stellt »Container« zum Auffangen der Angst zur Verfügung: religiöse Tröstungen, mythische Erzählungen (neuerdings Narrative genannt), Institutionen und Rituale. Damit lässt sich die Absurdität, dass das Leben auf den Tod hinausläuft, aushalten, wenn die Startbedingungen gut genug gewesen und wir ohne besondere Traumatisierungen davongekommen sind.
Sigmund Freud unterschied zwischen Realangst und neurotischer Angst. Realängste sind rationale Reaktionen auf die Wahrnehmung äußerer Gefahren. Man kann sie als verständliche Äußerungen des Selbsterhaltungstriebs ansehen. Wir reagieren auf sie in der Regel mit einem Fluchtreflex. Oder, wenn die Gegebenheiten es zulassen, mit einem Angriff auf die Gefahrenquelle. Funktioniert beides nicht, werden wir unter enormen Stress gesetzt, der Menschen zerreißen kann und auf den Körper durchschlägt.
Erziehungsverbrechen
Neurotische Ängste sind solche, die nicht sein müssten, aber in ein Leben kommen, wenn es durch schmerzhafte Eingriffe an der Entfaltung gehindert und verbogen wird; wenn sich dem Kind gegenüber jene Paranoia entfaltet, die man Erziehung nannte und manchmal noch nennt. Der Schriftsteller Thomas Bernhard hat von »Erziehungsverbrechen« gesprochen und die an ihm begangenen in seiner fünfbändigen Autobiographie eingehend beschrieben. Angst ist das Kernstück der seelischen Erkrankungen, die wir Neurosen nennen. Bei den Zwangsneurosen, der Angstneurose und bei vielen Depressionen steht sie im Mittelpunkt, aber auch vielen psychosomatischen Erkrankungen liegt letztlich Angst zugrunde, wobei sie gewöhnlich verschoben und auf einzelne Organe gerichtet wird. Noch der sich ritzende und die Haut aufschneidende Borderliner versucht, eine namenlose Angst in einen körperlichen Schmerz zu überführen, der lokalisierbar und leichter zu ertragen ist.
Die in unserer Kultur lange praktizierte frühkindliche Trennung von Mutter und Kind unterbricht das kontinuierliche Sein des Kindes. An den Bruchstellen lagern sich frühe Ängste an. Angst entsteht, wenn das kontinuierliche Sein unterbrochen wird, das Halten nicht gut genug ist, Schocks den noch fragilen Reizschutz durchbrechen. Allmählich bildet sich aus dem anfänglichen Zustand der Desintegration bzw. der Nicht-Integration eine psychische Struktur heraus, die das Kind in den Stand setzt, es mit allen möglichen ängstigenden Situationen aufnehmen zu können – besser oder schlechter, je nachdem, welche Bedingungen ein Kind antrifft.
Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg hat über den Empfang, den wir unseren Neugeborenen bereiten, geschrieben: »Man stelle sich vor: Da liegt ein Geschöpf, das neun Monate seines Lebens, eine ungemessene Zeit, in umfassender Symbiose mit einem mütterlichen Körper zugebracht hat, amputiert, durch Strickzeug gefesselt, mit verpackten Händen in einer berührungslosen, dabei stechend hellen Leere, wird in Abständen, die durch zu endlose Verlassenheiten getrennt sind, um einen Rhythmus zu ergeben, aufgenommen, behandelt, ja, auch endlich an eine Brust gelegt, ›gestillt‹ – aber dieses Glück dauert nicht, der Kontinent von Mutterwärme geht unter und macht wieder diesem uferlosen Alleinsein Platz, das man sich durch kein Suchen und Tasten wohnlicher machen, wo man seinen Atem nur zum Schreien brauchen und auch von nebenan nur Schreien hören kann, wo es nur ein natürliches Gefühl gibt: dass man alles, das Ganze, die Hauptsache entbehrt.« Diese Art des Empfangs von Neugeborenen implantiert Angst in die kindlichen Seelen und Körper und ist häufig richtungsweisend.
In der weiteren Entwicklung eines Kindes gibt es Angst vor Strafe, vor Liebesverlust, vor Schlägen, Angst vor dem Vater, dem Lehrer, bis in meine Generation hinein auch noch vor dem Pfarrer und davor, etwas »Sündiges« zu tun, Gewissensängste, Schuldgefühle, wenn man in lustvoller Absicht Hand an sich legt. Gottes Blick reicht bis unter die Bettdecke; Ängste werden durch schmerzhafte Eingriffe und Verbote in die Körper installiert, die in der Folge bestimmte Lüste abwehren und von sich aus auf gewisse Stimuli mit Abwehr und Angst reagieren. Der Schweiß bricht aus statt Lust und Liebe.
Von der Unterwerfung unter das elterliche Regiment profitieren später andere gesellschaftliche Instanzen, die in der Bewirtschaftung der Angst ein dauerhaftes Potential für Macht, Kontrolle und Profit entdecken. Schon Luther wusste das: »Denn aus der Eltern Obrigkeit fließt und breitet sich aus alle andere. (…) Alle, die man Herrn heißet, an der Eltern Statt sind und von ihnen Kraft und Macht zu regieren nehmen müssen.«
Von Sigmund Freud und Wilhelm Reich haben wir gelernt: Am Grunde unserer Neurosen liegen häufig abgewehrte sexuelle Triebwünsche. Die nicht abgeführte Erregung wird in Angst verkehrt und diese in Symptomen gebunden – in Charakterzügen und Zwangshandlungen. Verdrängung bedeutet Produktion von Unbewusstheit und damit Einschränkung des Bewusstseins. Das Sexualtabu wird in Sozialisationsprozessen als Denkhemmung verinnerlicht, die über den engeren sexuellen Bereich hinausgreift. Unterdrückung macht dumm und verschleiert die Wahrnehmung.
Kinder wurden und werden teilweise bis heute, salopp gesagt, »zur Sau gemacht« und also in Angst versetzt. Angsterzeugung und Verpönung von Triebregungen galt und gilt als probates Mittel der Erziehung und als Quelle von Gehorsam und Unterwerfung unter den elterlichen Willen. Es gibt heute allerdings auch Angst, die aus Nicht-Erziehung stammt, aus mangelndem Halt und mangelnder Begrenzung. Psychische Strukturen, die die Angst mindern und uns inneren Halt geben, entwickeln sich im Kontakt mit leibhaftig anwesenden Menschen, an denen man sich reiben und abarbeiten kann und muss, die uns liebevoll zugewandt sind und unserem Leben eine Richtung geben. Wer seinen Kindern keine angemessenen und zumutbaren Versagungen auferlegt und ihnen die leibhaftige Auseinandersetzung verweigert, darf sich nicht wundern, wenn sie in frühkindlichen narzisstischen Größenphantasien verharren und auf ihrer verzweifelten Suche nach angstmindernden Begrenzungen auch zur Gewalt greifen. Was müssen Kinder mitunter für verzweifelte Anstrengungen unternehmen, um ihre Eltern und die Gesellschaft der Erwachsenen zu einer klaren Stellungnahme zu bewegen. Auch oder gerade im Rahmen einer sogenannten Mittelschichtsverwahrlosung überantwortet man Kinder einer trostlosen Beliebig- und Beziehungslosigkeit, wodurch man ihnen sowohl das Kindsein als auch das Erwachsenwerden verweigert.
Digitale Verelendung
Viele Kinder wachsen gegenwärtig in einer Umgebung von Bildschirmen auf, weniger in der Obhut von leiblich anwesenden Menschen. Auf dem Postamt stieß ich unlängst auf eine Gruppe Frauen mit ihren Kindern. Während die Frauen dabei waren, ein Formular auszufüllen, saß ein vielleicht einjähriges Kind in einem Kinderwagen, der etwas abseits der Gruppe abgestellt war. Ich traute meinen Augen nicht: Das Kind wischte tatsächlich auf einem Smartphone herum, aus dem leise Musik drang. Der Umgang des Kleinkindes mit dem Gerät wirkte ziemlich professionell. Staunend starrte ich das Kind an. Mitleid mit ihm erfasste mich, und ich fragte mich, was aus Kindern werden soll, die unter solchen Bedingungen aufwachsen. An was soll sich ihr Selbstgefühl erwärmen? Wer hilft ihnen, ihre Angst einzuhegen und ihren Trieben Dauer und Form zu geben? In einer an ihrem Reichtum erstickenden Gesellschaft beobachten wir neuartige Formen der Kindsaussetzung, der digitalen Vereinsamung und Verelendung. Diese erzeugen Ängste, über die wir noch nichts wissen, ja, die wir teilweise noch nicht einmal zur Kenntnis genommen haben. Die virtuelle Welt bringt eine spezifische Ortlosigkeit hervor. Heimat ist im Netz unmöglich, und so werden die Menschen den Bedingungen des zeitgenössischen Kapitalismus unterworfen, die ebenfalls auf Flüchtigkeit, Bindungslosigkeit und Flexibilität basieren. Es kann sein, dass heutige Kinder weniger geschlagen und gezüchtigt werden, dafür haben sie unter neuartigen Entbehrungen zu leiden.
Mit der propagierten und praktizierten Bindungslosigkeit legt diese Gesellschaft die Axt an die Wurzeln der Subjektwerdung des Menschen. Seine »psychische Geburt« kann nur in verlässlichen Näheverhältnissen und unter Bedingungen räumlicher und zeitlicher Kontinuität gelingen. Eine Gesellschaft, die es zulässt, dass auf die Kindheit der Kälteschatten ökonomischer Fungibilität fällt, darf sich nicht wundern, wenn ihrem unwirtlichen Schoß vermehrt psychisch frigide und moralisch verwilderte Individuen entspringen.
Man beseitigt individuelle Angst nicht, indem man ihre Symptome kuriert oder Medikamente verschreibt. Letzteres ist zu einem einträglichen Geschäft geworden. Es gibt Situationen akuter Panikzustände, in denen man Medikamente verabreichen muss, damit ein Mensch überhaupt erst wieder einen Zustand erreicht, in dem man mit ihm therapeutisch arbeiten kann. Dann aber kommt es darauf an, den Angstgründen auf die Spur zu kommen, die Szenen zu rekonstruieren, in denen Angst massiv erzeugt und erlebt wurde. Je weiter die Angsterzeugung zeitlich zurückreicht, desto schwerer ist es, ihr therapeutisch beizukommen. Vieles verliert sich im vorsprachlichen Nebel einer frühkindlichen Amnesie und ist eher einer körpertherapeutischen Bearbeitung zugänglich als auf Sprachlichkeit fixierten therapeutischen Verfahren. Selbst wenn es gelingt, die Gründe herauszufinden, ist damit die Angst nicht aus der Welt. Es ist eine schöne, aber leider naive Vorstellung, dass man das bislang Unbewusste wie Rumpelstilzchen bloß beim Namen nennen müsse, und schon verschwinden die Symptome.
Münchhausen und Sartre
Die Bilanz meiner ein Leben lang dauernden Selbsterforschung lautet: Man muss sich mit der Angst ins Benehmen setzen und versuchen, sie zu überlisten und einen Modus vivendi mit ihr und den von ihr gespeisten Symptomen zu finden. Ganz los wird man sie nicht. Sie haben ihre Ursache und Funktion im seelischen Gesamthaushalt, die berücksichtigt werden müssen. Geholfen hat mir Arthur Koestler, in dessen Autobiographie ich auf folgende Passage stieß: »Eine gütliche Verständigung mit den eigenen Neurosen herbeizuführen klingt wie ein Widerspruch in sich selbst; dennoch lässt es sich meiner Meinung nach erreichen, vorausgesetzt, dass man seine Komplexe anerkennt, sie mit höflicher Achtung behandelt und sie weder leugnet noch bekämpft. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass der Mensch die Kraft besitzt, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Der Baron im Sumpf, abgekürzt ›Basu‹, Besieger von ›Ura‹, (Abkürzung von Urangst) war zugleich zum Glaubensartikel und Symbol geworden.« Koestlers Autobiographie ist auch eine Hommage an den Baron Münchhausen, dem er sein Leben verdankt. Auch Jean-Paul Sartre ist ein Anhänger des Barons. Seine Fassung der Münchhausen-Maxime lautet: Wir müssen und können etwas aus dem machen, was man mit uns gemacht hat! Ein Leben ist eine zu diesem oder jenem verwendete Kindheit; niemand sollte sich mit dem Verweis auf seine schwierige Kindheit herausreden und die Verantwortung für sich und seine Handlungen von sich weisen. Menschen sind keine Billardkugeln, die durch ein Queue bewegt werden – noch als determinierte Wesen sind sie selbsttätig, noch als heteronome im Kantschen Sinne »spontan« und zu eigenen Entscheidungen fähig. Es liegt, wie Sartre sagt, an uns, uns Wege zu bahnen und die Vampire in die Flucht zu schlagen.
Seit ich miterlebt habe, wie ein Freund beim Versuch, seine Ängste im Rahmen eines kontraphobischen Projekts frontal anzugehen, ums Leben gekommen ist, behandele ich meine Angst mit Respekt. Ich habe gelernt, nichts Unmögliches von mir zu verlangen und mich nicht zu überfordern. Die auf »Heilung« und »seelische Gesundheit« abzielenden Therapien vertragen sich schlecht mit der ursprünglichen psychoanalytischen Idee, die den einzelnen zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Widersprüchlichkeit animieren wollte. Nach Freud kann man nur das überschüssige »hysterische Elend« therapeutisch mildern oder im besten Fall zum Verschwinden bringen, nicht aber das »allgemeine Unglück des Kulturmenschen«, das selbst dem austherapierten Patienten bleibt. Etwas salopp gesagt: Der Normale ist ein Verrückter, dessen Neurose eine gute Wendung genommen hat.
Der verinnerlichte Staat
Anders steht es mit den gesellschaftlich erzeugten Ängsten, von denen im zweiten Teil die Rede sein soll. Diese werden auf die neurotischen Ängste aufgepfropft und stellen sie in ihren Dienst. Aus dieser undurchsichtigen Verfilzung beziehen sie ihre Wirksamkeit. Das Luther-Zitat deutete das bereits an: Von der Vorunterwerfung unter die elterliche Autorität profitieren alle späteren Instanzen, denen wir unterworfen sind. Der Sozialpsychologe Erich Fromm hat das so beschrieben: Das Verhältnis von Über-Ich und Staat ist dialektisch. Das Über-Ich ist verinnerlichter Staat, und der Staat externalisiertes, also nach außen projiziertes Über-Ich. Das bedeutet: Wer gegen staatlich-gesellschaftliche Ge- und Verbote verstößt, bekommt es zugleich mit seinem Gewissen zu tun. Für den Fall, dass das Gewissen versagt und Regeln verletzt werden, liegen Polizei und Strafjustiz in Reserve. »Die Strafjustiz ist gleichsam der Stock an der Wand, der auch dem braven Kinde zeigt, dass der Vater ein Vater und das Kind ein Kind ist«, schreibt Fromm.
Diese Verzahnung innerer und äußerer Kontrollinstanzen sorgte bislang für die Stabilität der bürgerlichen Ordnung und ihrer Institutionen. Wie es um diese Stabilität bestellt ist, wenn die Über-Ich-Bildung nicht mehr in zuverlässiger Weise geschieht und die Verzahnung nicht mehr funktioniert, wäre ein anderes und hochaktuelles Thema. Wenn das Über-Ich, wie Freud sagte, als innere Polizei fungiert, stünde die wirkliche, die äußere Polizei auf verlorenem Posten, wenn sie sich nicht mehr auf ihre verinnerlichten Kräfte verlassen und stützen könnte. Oder anders formuliert: Wenn die innere Polizei des Gewissens nicht mehr zuverlässig arbeitet, muss die äußere Polizei vermehrt in Erscheinung treten. Fromm beharrte allerdings auf der Notwendigkeit eines Stützpunkts im Inneren der Individuen, weil man nicht hinter jeden Bürger einen Polizisten stellen könne. Heute übernehmen mehr und mehr Überwachungstechnologien die Kontrolle der Bürger und registrieren deren Regelverstöße. Wer den Laden ohne zu zahlen verlässt, wird von der elektronischen Diebstahlsicherung zurückgepfiffen oder vom Detektiv gestellt, der den Diebstahl per Kamera beobachtet hat.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg-Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band »Zwischen Amok und Alzheimer« ist 2015 im Verlag Brandes & Apsel erschienen.