Ein Betrieb – eine Gewerkschaft!
Ein Betrieb – eine Gewerkschaft!
Wie wird dieses Ziel von den Arbeiterorganisationen erreicht? Jedenfalls nicht durch das Tarifeinheitsgesetz der Bundesregierung oder durch die »Kooperationsvereinbarung« einiger DGB-Gewerkschaften mit ihrem Dachverband
Von Stephan Krull
Wozu noch Gewerkschaften?« fragte sich der Sozialphilosoph Oskar Negt vor zehn Jahren in seinem gleichnamigen Büchlein. Dieses Problem gewinnt in den letzten Monaten zusätzliches Gewicht: Die beiden Beschäftigtenorganisationen bei der Bahn AG, die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), führen harte Auseinandersetzungen. Gewerkschaften streiten sich um Zustimmung oder Ablehnung des »Tarifeinheitsgesetzes«. Und nicht zuletzt gibt es einen deutlichen Riss im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) wegen der »Kooperationsvereinbarung« zwischen IG Metall, EVG, IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) und IG Bauen, Agrar und Umwelt (BAU), das die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) außen vor lässt. Zwar haben ver.di und GEW gemeinsam für die Angestellten der Länder verhandelt, der Abschluss erfolgte jedoch ohne Einbeziehung der angestellten Lehrerinnen und Lehrer und gegen das Votum der GEW. So sieht es gerade aus: Mehr Streit zwischen den Gewerkschaften untereinander als zwischen ihnen und den Unternehmen.
Andererseits sind so viele Streiks zu verzeichnen wie selten zuvor: Lokführer, Kindererzieherinnen, Postangestellte, Piloten, Fahrer von Bus und Bahn, Mitarbeiter von Amazon und vielen anderen Betrieben gingen in den Ausstand. Mit über 350.000 Streiktagen konnten bis Mai 2015 bereits doppelt so viele Tage gezählt werden wie im gesamten Vorjahr. Insbesondere die Arbeitsniederlegung der GDL-Mitglieder bis zum gestrigen Donnerstag und deren Beharren auf das Grundrecht, den Abschluss von Tarifverträgen zu erkämpfen, ließ die Gegenseite und ihre Mitläufer laut nach gesetzlichen Einschränkungen des Streikrechts und nach Zwangsschlichtung rufen.
Die Bundesregierung fährt deshalb mit dem »Tarifeinheitsgesetz« schweres Geschütz gegen die Arbeiterorganisationen auf. Die große Koalition will es heute im Bundestag durchsetzen. DGB, IG Metall und IG BCE sprechen sich dafür aus, die Opposition von Linkspartei und Grünen sowie ver.di und die Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften sind entschieden dagegen. Das geplante Gesetz spaltet die Gewerkschaften in der zentralen Frage des Streikrechtes. Sehr schnell wird es dann vor dem Bundesverfassungsgericht landen und dort wahrscheinlich für grundgesetzwidrig erklärt werden: Das Streikrecht ist ein Kernelement demokratischer Gesellschaften.
»Hütet die Einheitsgewerkschaft«
Von der Gründergeneration der Gewerkschafter in den Westzonen nach 1945, von Hans Böckler, Otto Brenner, Willi Bleicher, Leonhard »Loni« Mahlein und einigen anderen wissen wir um ihr Bemühen um die Einheitsgewerkschaft als Konsequenz aus der Nazidiktatur, als Konsequenz aus der Unfähigkeit der in Richtungs- und Berufsgewerkschaften gespaltenen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik, den Faschismus aufzuhalten. Es ging also um die Einheit, um den gemeinsamen Kampf von sozialdemokratischen, kommunistischen und christlichen Arbeiterinnen und Arbeitern in einer gemeinsamen und parteiunabhängigen Gewerkschaft für ihre sozialen, kulturellen und politischen Rechte. Das Ziel »Ein Betrieb – eine Gewerkschaft« wurde zur Maxime der Organisationspolitik. Dabei war tarifpolitisch vorausgesetzt, dass im jeweiligen Betrieb ein Tarifvertrag für alle Beschäftigten gilt.
Die Bestrebungen für eine solche Arbeiterorganisation wurde in den Westzonen mit einer Auflage der dort bestimmenden Alliierten unterbunden: Es mussten Branchengewerkschaften gebildet werden. Sie waren, sozialdemokratisch dominiert, statutarisch Einheitsgewerkschaften im jeweiligen Bereich. Im Oktober 1949 wurde in der BRD der DGB als von vornherein schwache »Vereinigung von Gewerkschaften«, also ohne Mitgliedschaften von Beschäftigten gegründet. (Dementsprechend zeigt sich heute allein schon durch die Mitgliedszahlen eine Konzentration der Macht auf seiten der Einzelgewerkschaften: Der IG Metall mit 2,4 Millionen, ver.di mit gut zwei Millionen und der IG BCE mit fast 700.000 Angehörigen steht der DGB mit acht Mitgliedsgewerkschaften gegenüber. Der Dachverband hat kein Mandat für die Betriebs- und Tarifpolitik, ebenso wenig für die Branchenpolitik. Die entscheidenden tariflichen und politischen Vereinbarungen werden von den Einzelgewerkschaften getroffen. Nicht einmal die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bleibt ein exklusives Feld des DGB.)
Der Glaubwürdigkeitsverlust der Gewerkschaftsführungen in der Mitgliedschaft führte am Ende der Wiederaufbauphase der BRD in den späten 1960er Jahren zu einer Krise in den Gewerkschaften. Sie manifestierte sich in zahlreichen »wilden«, also ohne die Arbeiterorganisationen geführten Streiks. Sie waren eine deutliche Kritik an der sozialpartnerschaftlichen Politik der Gewerkschaften, die sich oft nur noch als »Ordnungsmacht« in den sozialen Auseinandersetzungen verstanden. Betriebliche Abwesenheitszeiten (Absentismus) von bis zu 30 Prozent unter der Bedingung annähernder Vollbeschäftigung waren Ausdruck des Anspruchs der Arbeiterinnen und Arbeiter auf betriebliche Mitbestimmung und gesellschaftliche Beteiligung. Aus den Erfahrungen der eigenen Kraft selbstbewusster Belegschaften heraus wurden Ansprüche nach Neuorientierung und nach einer Demokratisierung der Arbeiterorganisationen gestellt. (In Rüstungsbetrieben wurde über Mitbestimmung bei dem, was produziert wird, nachgedacht.)
Es drohte der generelle Bedeutungsverlust der Institution Gewerkschaft. Daraus zogen deren Vorstände Schlussfolgerungen, die zu einer Konsolidierung und Stärkung von Gewerkschaften führten. Man reagierte mit Gegenmachtprojekten wie dem langen Kampf um die Arbeitszeitverkürzung (35-Stunden-Woche) oder der sinnvollen Realisierung des von den Gewerkschaften erzwungenen Regierungsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens«. Der betriebliche und der gesamtgesellschaftliche Anspruch der abhängig Beschäftigten wurden zusammengedacht, die Dialektik von betrieblicher Interessenvertretung und gesellschaftspolitischer Gestaltung wurde neu entwickelt. Das IG Metall-Programm »Arbeit und Technik – Der Mensch muss bleiben« war Leitfaden für viele nachhaltige betriebliche Aktionen. Internationale Tagungen wurden durchgeführt und gesellschaftspolitische Programme im Bündnis z. B. mit Umweltverbänden erarbeitet. – Aus all diesen Erfahrungen kann auch unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts für den Kampf um eine tatsächliche Einheitsgewerkschaft gelernt werden.
Die neoliberale Wende
Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts setzte – in Deutschland markiert durch eine ganze Reihe von Koalitionsregierung der Union mit der FDP – global die neoliberale Offensive ein. In deren Folge löste sich die Sowjetunion auf und wurde die DDR liquidiert. Die Schwächung der Gewerkschaften – »des Stärksten, was die Schwachen haben«, so der frühere IG-Metall-Chef Franz Steinkühler (1986–1993) – war und ist ein vorrangiges Ziel neoliberaler Politik. In Großbritannien wurde dies 1984/85 mit Polizeigewalt und Deindustrialisierung von Margaret Thatcher und den Konservativen mit verheerenden Folgen für die arbeitende Bevölkerung, für die Sozialstruktur und die Infrastruktur erreicht. Auf dem europäischen Kontinent mit anderen sozialstaatlichen und kulturellen Traditionen war das in gleicher Art und Weise nicht möglich. Erste Versuche wie die Einführung von »Karenztagen« bei Krankschreibungen, keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für die ersten drei Tage einer Arbeitsunfähigkeit, scheiterten am kollektiven Widerstand. Der nächste Angriff – die Verhinderung wirksamer Schwerpunktstreiks durch die Änderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz (heute Paragraph 160 SGB III), die Verweigerung von Arbeitslosengeld für von »kalter Aussperrung« Betroffene – war aber erfolgreich. Trotz gegenteiliger Zusagen wurde diese einschneidende Änderung des Arbeitsrechts durch nachfolgende SPD-Regierungen nicht rückgängig gemacht.
Die wichtigsten Veränderungen in der neoliberalen Wende betrafen jedoch die Produktionssysteme, begünstigt durch das angedeutete Rollback in der Sozialpolitik, durch Deregulierung – sogenannte Liberalisierung und umfangreiche Privatisierungen staatlicher, teils hoheitlicher Aufgaben – von öffentlichen Unternehmen und im Bereich der Daseinsvorsorge (Bahn, Post, Telekommunikation, Bildung, Gesundheit etc.) sowie fast aller volkseigenen und genossenschaftlichen Betriebe in der ehemaligen DDR. Die meisten dieser Entwicklungen konnten und können durch Gegenwehr der Beschäftigten allein nicht verhindert werden – es hätte gewerkschaftlicher Strategien über Betriebs- und Branchengrenzen hinweg bedurft. Diese wurden auch nicht entwickelt – bereits ein Ergebnis gewerkschaftlicher Schwäche und Konzeptionslosigkeit.
Wichtiges Element des neuen Produktionssystems ist die permanente Aufspaltung größerer Unternehmen und Konzerne in viele kleinere Betriebe als selbständige Einheiten. Die Belegschaften werden verkleinert und die Gewerkschaften geschwächt. Ein besonders prägnantes Beispiel lieferte der Vorstand der Stahlwerke Salzgitter AG.
Er filetierte das Unternehmen vor dem Hintergrund der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Montanindustrie in 100 Einzelunternehmen mit jeweils eigenen Betriebs- und Aufsichtsräten. Aber gerade mit diesen Posten in Gremien sind die »Arbeitnehmervertreter« geködert worden, der Zerschlagung einer gewerkschaftlichen Hochburg zuzustimmen. Ein weiteres Element ist die Auslagerung bisheriger Kernaufgaben der Produktion in einem Unternehmen in eigene oder fremde Zulieferbetriebe. Des weiteren wird eine strikte Trennung von »Wertschöpfung« und von »Dienstleistung« für diese »Wertschöpfung« vorgenommen. Ziel ist es dabei wiederum, die Beschäftigten in verschiedene Funktionsgruppen zu spalten. Jeder einzelne Arbeitsschritt wird unter dem Aspekt der Konkurrenz unter der Belegschaft von der Unternehmensleitung analysiert, um die Beschäftigten auseinanderzudividieren.
Im Ergebnis dieser neoliberalen Wende wurden die Löhne und Einkommen aus unselbständiger Arbeit in den zurückliegenden 20 Jahren drastisch reduziert – von einem Anteil von 75 Prozent am Volkseinkommen auf 65 Prozent. Die Bedingungen für die Beschäftigten haben sich rapide verschlechtert. Die Arbeit wurde intensiviert und die Arbeitszeit extensiviert. Prekäre Beschäftigung hat die bisherige Normalarbeit (Vollzeit bei gutem Lohn) schon fast verdrängt. Und – das wichtigste: Die Gewerkschaften wurden tarifpolitisch und organisatorisch entscheidend geschwächt. Ganz schuldlos sind sie an dieser Entwicklung nicht. Die Orientierung auf betriebliche statt zumindest branchenbezogene Tarifpolitik und die Zugeständnisse an die »Wettbewerbsfähigkeit« des Kapitals, die Übernahme von dessen Standortlogik, die Anerkennung des Unternehmensziels nach Maximalprofit haben zu dieser Schwächung beigetragen. In ihrer Funktion als Gegenmacht sind die Arbeiterorganisationen fast vollständig neutralisiert. Gelegentlich ist von interessierter Seite vom Bedeutungsverlust der Gewerkschaften die Rede, wo doch eigentlich das Gegenteil der Fall ist: Nie waren starke, einheitlich handelnde Gewerkschaften so wichtig wie heute. Dazu gehört jedoch, den Zusammenhang von Gesellschafts- und Betriebspolitik zu verstehen und zu nutzen. Dazu gehört, die Wechselbeziehung besonderer und allgemeiner Interessen in der betrieblichen Gewerkschaftsarbeit zu beachten. Dazu gehört, Differenzen in den Belegschaften anzuerkennen und zugleich eine alle einschließende Solidarität zu entwickeln. Bei aller Differenziertheit sollten die gemeinsamen Interessen erkannt und als solche vermittelt werden. Auch der gewaltig anwachsende Reichtum Einzelner in diesem Land bei gleichzeitig grassierender Armut ist viel zu selten Gegenstand gewerkschaftlicher Kritik oder Ausgangspunkt von Forderungen. Große Aufgaben also für gewerkschaftliche und linke politische Arbeit, deren Ziel die Einheitsgewerkschaft sein müsste.
Zusammenarbeit und Konkurrenz
Welche Schlüsse ziehen aber Regierung und Gewerkschaften aus dieser Entwicklung? Die große Koalition erhöht den Druck auf die Gewerkschaften. Das deutlichste Beispiel dafür ist aktuell die Hetze gegen die GDL und ihren Vorsitzenden Claus Weselsky, also gegen den Streik der Lokführer. An dieser Hetze beteiligten sich bisher auch Gewerkschafter aus den Reihen von DGB, IG Metall, EVG und ver.di.
Mit der Behauptung, die Sparten- oder Berufsgewerkschaften störten den (Betriebs-)Frieden im Land, um bloß egoistische Ziele durchzusetzen, soll heute im Bundestag per Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht ausgehebelt werden. Zurückzuführen ist dieses Gesetz auf einen dringenden Wunsch der Unternehmensverbände. Es gibt das Gerücht, dass der »Deal« darin bestand, die Kapitalseite werde dem Mindestlohn zustimmen, wenn die Gewerkschaften das Tarifeinheitsgesetz befürworteten. Zumindest der DGB, die IG Metall und zunächst auch ver.di hatten ihre Zustimmung signalisiert. Bei der Dienstleistungsgewerkschaft führte eine breite Debatte in der Mitgliedschaft dazu, dass der Vorstand seine Zustimmung zu diesem Gesetzesvorhaben zurückgezogen hat.
Gewerkschaftlich orientierte Arbeitsrechtsexperten gehen davon aus, dass das Gesetz wegen der Einschränkung von Tarifautonomie und Streikrecht nicht nur verfassungswidrig ist, sondern auch den vorgeblichen Zweck nicht erfüllen wird. Die Ermittlung von gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnissen im Unternehmen ist im Streitfall schwer durchführbar, der Betriebsbezug ist durch Aufspaltungen und Outsourcing manipulierbar. Das gewerkschaftliche Ziel »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« wird seitens der »Arbeitgeber« durch Zergliederung größerer Produktionseinheiten systematisch unterlaufen; das soll durch das Gesetz auch nicht verhindert werden.
Wenngleich Sparten- und Berufsgewerkschaften weder mehr geworden sind noch besonders intensiv streiken, werden sie doch als Einschränkung von Streikrecht und Tarifautonomie missbraucht. Natürlich bieten einheitliche gewerkschaftliche Organisationen, wie oben beschrieben, die besseren Möglichkeiten der Durchsetzung sozialer und politischer Rechte. Wenn aber die Differenziertheit der Belegschaften, die Dialektik von besonderen und allgemeinen Interessen, nicht ausreichend berücksichtigt werden, wenn, wie bei der Bahn, die zuständige DGB-Gewerkschaft den Privatisierungs- und Aufspaltungsplänen nicht widerspricht, sollte man sich über die Gründung bzw. die zunehmende Aktivität solcher Gewerkschaften nicht wundern. Die gewünschte Ruhe bei Kooperationen von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung wie dem »Bündnis für Industrie«, der »Nationalen Plattform Elektromobilität« oder eben auch der »Bahnreform« stören Spartengewerkschaften. Sie sind in diese Zusammenarbeit nicht einbezogen und lehnen diese aus unterschiedlichen Gründen ab.
Fragen zur »Kooperationsvereinbarung«
Gewerkschaften sind gegründet worden, um dem von Unternehmen genutzten Herrschaftsinstrument Konkurrenz unter den Beschäftigten etwas entgegenzusetzen. Nun finden sie sich – vom neoliberalen Umbau von Produktion und Gesellschaft durch Kapital und Politik getrieben – in gegenseitiger Konkurrenz um den Anspruch, Beschäftigte zu vertreten, wieder. Die Führungen der Arbeiterorganisationen müssen in diesem Prozess einen die Interessen der Mitglieder wahrenden Umgang finden. Um aus der Krise zu kommen, bemühen sich die Gewerkschaften um eine Stärkung ihrer Organisationsmacht und die Konsolidierung der betrieblichen Arbeit auch in neuen Branchen. Für diesen Zweck haben sich die ehemals 18 Mitgliedsgewerkschaften des DGB in einem längeren Prozess zu acht größeren zusammengeschlossen. Fusionen und Kooperationen können also Schritte auf dem Weg zu einer, besagte Konkurrenz minimierenden, tatsächlichen Einheitsgewerkschaft sein.
Aber bei mangelndem Widerstand kann der neoliberale Umbau auch zu einer stärkeren Abgrenzung voneinander führen. Die Suche nach wirksamen, effektiven und stärkenden Formen von gewerkschaftlicher Organisation und Praxis ist nicht beendet, sondern bekommt gerade eine neue Dynamik. Im April dieses Jahres haben die IG Metall, die IG BCE, die IG BAU sowie die EVG eine Kooperation verkündet. Die globale Konkurrenz, so die Ankündigung, erfordere »andere Arbeitsweisen und Kooperationen der Gewerkschaften in Deutschland, Europa und weltweit«. »Durch eine Abstimmung zwischen den vier Gewerkschaften wollen wir mögliche Konkurrenz und Divergenz zwischen uns bereits im Vorfeld verhindern«, erklärte dazu der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel. Grundsätzlich gelte das Prinzip »ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag«. Eine weiterer Begründung sind die beschriebenen Veränderungen in den Produktionssystemen und die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen in der Wertschöpfungskette, in den Lieferbeziehungen und in der sozialen Zusammensetzung der Belegschaften. So begrüßenswert und notwendig die solidarische Erarbeitung gewerkschaftlicher Strategien ist, ergibt sich aus dieser Kooperation doch auch eine Reihe von Fragen:
Ist diese Kooperation von DGB und den vier genannten Gewerkschaften der Beginn einer organisatorischen Verschmelzung hin zu einer tatsächlichen Einheitsgewerkschaft? Wenn ja, warum sind industrienahe Dienstleistungen und Logistik als Arbeits- und damit Zuständigkeitsbereiche in diese Kooperation einbezogen, nicht aber ver.di als großer gewerkschaftlicher Akteur in diesen Bereichen? Was wird aus dem DGB, wenn wenige Multibranchengewerkschaften über ein Vielfaches an Ressourcen verfügen im Vergleich zur »Vereinigung von Gewerkschaften«?
Wo beginnen und wo enden die Wertschöpfungsketten? In der globalen Arbeitsteilung sind Rohstoffgewinnung und Billiglohnproduktion nicht von der Produktion und Konsumtion hochwertiger Güter zu trennen. Ist also auch an eine gemeinsame Tarifpolitik entlang dieser Wertschöpfungsketten mit dem Ziel »Eine Wertschöpfungskette – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag« gedacht? Die IG Metall hat gerade ein »Bündnis für Industrie« aufgelegt, sie ist an der »Nationalen Plattform Elektromobilität« beteiligt und hebt ein »Netzwerk zur Förderung der Automobilbranche« aus der Taufe. Das lässt befürchten, dass es mehr um konzern- und branchenbezogene Wertschöpfungsketten als um gesamtgesellschaftliche Strategien geht.
Kapital und Politik sind darum bemüht, Solidarität zu verhindern und zu zerstören. Das ist nicht überraschend. Gewerkschafts- und Tarifeinheit sind in der Geschichte der Arbeiterbewegung keine Selbstverständlichkeit. Sie wurden unter großen Opfern erkämpft und bleiben eine ständige Aufgabe. Die Einheit des Handelns der abhängig Beschäftigten und ihrer gewerkschaftlichen Organisationen muss – wie jeder andere soziale oder politische Fortschritt – immer aufs neue erkämpft und verteidigt werden. Mit der Globalisierung der Ökonomie, mit der internationalen Arbeitsteilung ist diese Aufgabe nationaler Gewerkschaften größer geworden als je zuvor. In gleichem Maße wachsen aber auch die Möglichkeiten, denn die Verbindungen der arbeitenden Menschen durch die von den Unternehmen geschaffenen Wertschöpfungsketten wachsen gleichermaßen.
Stephan Krull ist Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen und war von 1990 bis 2006 Mitglied des Betriebsrates im Volkswagenwerk Wolfsburg. Am 27.11.2013 schrieb er auf diesen Seiten über die Gründung der »NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude« 80 Jahre zuvor.