Erwerbslose im Hartz-IV-Wahnsinn. Bedroht, behindert, in Zwangsmaßnahmen getrieben – und mitunter sogar verlost
Ungehorsam unter Strafe
Jahresrückblick 2013. Heute: Erwerbslose im Hartz-IV-Wahnsinn. Bedroht, behindert, in Zwangsmaßnahmen getrieben – und mitunter sogar verlost
Von Susan Bonath (Junge Welt), 18. Dezember 2013
Der Niedriglohnsektor boomt, der Kampf um Arbeitsplätze tobt – und die Angst wächst. Das Monstrum heißt im Volksmund Hartz IV. Es lauert nur eine Kündigung und zwölf Monate entfernt.
Wer die »Grundsicherung für Arbeitssuchende« beziehen will und in die Mühlen der gigantischen Erwerbslosenverwaltung gerät, darf sich nicht nur über Springers mediale Hetze »freuen«. Bevor er den ersten Cent überhaupt sieht, muß er alles versilbern, was Jobcenter als »Vermögen« einstufen: Die zu große Eigentumswohnung, den Kleinwagen, das Tafelsilber von der Oma. Es warten die Hartz-IV-gerechte Wohnung und der Zwang, jeden noch so mies bezahlten Job, jede unsinnige Maßnahme, jeden Ein-Euro-Job anzunehmen. Wer nicht mitspielt, dem kürzt das Amt kurzerhand das Existenzminimum. Ob Repressalien bei Ungehorsam, Sippenhaftung inklusive, oder fragwürdige Pflichtmaßnahmen – auch 2013 trieb der Hartz-IV-Wahnsinn dunkle Blüten.
Daß jeder Hartz-IV-Bezieher dem Amt bedingungslos gehorchen soll, machte das Jobcenter Harz in Sachsen-Anhalt zu Jahresbeginn einem selbständigen Ingenieur deutlich, der wegen Umsatzeinbußen vorübergehend aufstocken mußte. Weil der 60jährige sich geweigert hatte, befristet als Kloputzer auf dem Weihnachtsmarkt zu jobben und dafür sein Gewerbe aufzugeben, kürzte ihm die Behörde die Leistungen um 60 Prozent. Auch in Augsburg ließ sich die Agentur für Arbeit nicht lumpen. Von wegen, keine Stellen – dann müsse eine 19jährige Hauswirtschafterin eben in einem stadtbekannten Bordell arbeiten, befand das Amt. Einer Leistungskürzung wegen »Arbeitsverweigerung« konnte die junge Frau schließlich nur durch Öffentlichkeit entgehen. Nachdem die Augsburger Allgemeine über ihren Fall berichtet hatte, entschuldigte sich die Behörde und berief sich auf »Unwissenheit«.
Pflichtübung Bauchtanz
Zweifelhafte Aktionen starteten Jobcenter allerorts unter dem Label »Perspektive 50plus«. In Berlin wurden ältere Erwerbslose unter Androhung von Sanktionen zu Bauchtanzkursen bestellt, in Brandenburg mit Schrittzählern ausgestattet und in Nienburg zu Raucherentwöhnungskursen verdonnert. Etwas Besonderes hatte sich das Amt im rheinland-pfälzischen Bendorf einfallen lassen. Gemeinsam mit dem Bildungsträger DG Mittelrhein verloste es Erwerbslose auf dem Markt für lau an Firmen in der Region – zum Putzen, Schrubben, Aufräumen oder als Gestalter für Internetseiten. Auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt nutzten Jobcenter das Heer der älteren Erwerbslosen. »Aktiv in die Rente« mußten im Sommer Hunderte Betroffene mit Schippe und Spaten ziehen und als Ein-Euro-Jobber die Schäden der Flut beseitigen.
Nicht einmal die Kinder von Leistungsbeziehern sind vor Sanktionen sicher. Denn ab dem 15. Geburtstag gelten sie als erwerbsfähig. Das mußten die 16 und 17 Jahre alten Söhne einer Mutter aus Nienburg erleben. Das Jobcenter hatte sie 2012 und 2013 fast monatlich vorgeladen, obwohl sie ihr Abitur machen wollten. Es verlangte Schulbescheinigungen, Lebensläufe und Zeugniskopien. Folgten sie der Aufforderung »ohne wichtigen Grund« nicht, würde ihnen die Leistung um zehn Prozent gekürzt, drohte das Jobcenter. Diese »Einladungen« seien gängige Praxis, informierte eine Behördensprecherin jW im November. Mittlerweile will das Amt die »drastischen Formulierungen« geändert haben.
Obwohl fast die Hälfte aller Widersprüche und Klagen im nachhinein zugunsten der Leistungsbezieher entschieden werden, sanktionieren die Jobcenter weiter drauflos. Allein im Mai kürzten sie Menschen gut 90000 mal den Regelsatz um durchschnittlich 109 Euro. Aktuelle Zahlen zu den Vollsanktionen kann die Bundesagentur für Arbeit nicht vorweisen. Im Jahr 2011 waren monatlich 10400 Menschen davon betroffen, für knapp 6000 Personen fielen 2010 auch Zahlungen für Miete und Krankenversicherung weg. Doch eine derart drastische Strafe war dem Jobcenter »MainArbeit« in Offenbach noch nicht genug. Wie die Hartz-IV-Hilfe Offenbach informiert, kürzte es einem Leistungsbezieher Mitte Dezember wegen 16 angeblicher Vergehen den Regelsatz für drei Monate um 350 Prozent. Weil das in der Tat nicht umsetzbar ist, habe die Behörde die komplette Leistung einfach bis Oktober 2014 eingestellt. Darunter haben nun auch Frau und Kinder des »Verurteilten« zu leiden, weil sie den Mietanteil des Vaters ausgleichen müssen. Gerade noch 40 Euro pro Monat blieben der Familie zum Überleben, so der Verein. Eine Zugangsberechtigung zur Tafel auszustellen, habe das Amt versäumt, Gutscheine für Lebensmittel verweigert – die Betroffenen seien akut von Hunger bedroht. Nun müssen sich die Sozialrichter damit befassen.
Prämien fürs Strafen
Derweil tüftelt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe an weiteren Strafverschärfungen für rund 6,2 Millionen Hartz-IV-Betroffene. »Rückendeckung« erhält sie von Massenmedien, die, wie gehabt, rege die Mär vom »faulen Hartzer« befeuert. Mit »Blaumacher-Verdacht« überschrieb Spiegel online im April einen Bericht über den Plan, kranke Erwerbslose stärker zu kontrollieren. Und Zeit online wetterte im November gegen »Hartz-IV-Betrüger«, die bald bei eBay beim Verkaufen von Ausgedientem aufgespürt werden sollen. Bild und der Nachrichtensender n-tv wurden im Mai gar persönlich beleidigend, als sie den Berliner Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens, Ralph Boes, als »Hartz-IV-Schnösel« und »Deutschlands frechsten Schnorrer« verunglimpften. Boes hatte absichtlich Auflagen der Behörde nicht befolgt, mit öffentlichem »Sanktionshungern« auf die Situation Erwerbsloser aufmerksam gemacht und will vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. All das stört die Jobcenterchefs wenig. Wie die Berliner Zeitung im September berichtete, kassieren sie bis zu 4000 Euro Prämie, wenn sie vorgegebene Sanktionsquoten erfüllen. Die eingesparten Leistungen dürfen sie dann auch umschichten. Zwischen Januar und Oktober 2013 flossen allein in Berlin acht Millionen Euro aus dem Hartz-IV-Budget in den Bezahltopf für Mitarbeiter des gigantischen Behördenkonstrukts.