Fünf Menschen, die etwas über NSU-Morde wissen konnten, kamen rätselhaft zu Tode
Chronologie des Zeugensterbens
Fünf Menschen, die etwas über NSU-Morde wissen konnten, kamen rätselhaft zu Tode
Wolf Wetzel, junge Welt, 23.2.2016
25. Januar 2009: Arthur Christ wurde am 25. Januar 2009 auf einem Waldparkplatz nördlich von Heilbronn gefunden – verbrannt: »Der 18jährige hatte am 25. Januar 2009 kurz nach ein Uhr einen Freund abgesetzt und wollte ein Feuerwehrfest in Eberstadt aufsuchen. Gegen zwei Uhr entdeckten Autofahrer den brennenden Wagen auf einem Waldparkplatz. In dem Autowrack fanden die Ermittler Spuren eines Benzin-Diesel-Gemisches, daneben Christs Leiche. Ungeklärt ist, ob es Suizid oder Mord war. Einen Abschiedsbrief gab es nicht. Der Fall wurde als rätselhaftes persönliches Drama geschildert. Allerdings taucht der Name Arthur Christ in den Ermittlungsakten der Sonderkommission Parkplatz zum Heilbronner Polizistinnenmord von 2007 auf, der heute dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) zugeordnet wird. »Er soll eine Ähnlichkeit mit einem der Phantombilder haben«, berichtete das Onlinemagazin Telepolis am 15. Februar 2015 nach einem weiteren rätselhaften Todesfall. Christs Name befinde sich »auf einer Liste von etwa 20 Personen in den Ermittlungsakten. Was es mit diesen Personen auf sich hat, ist unklar.«
16. September 2013: Der ehemalige Neonazi und Zeuge Florian Heilig starb am 16. September 2013. Am selben Tag wollte er vor Ermittlern des Landeskriminalamts seine 2011 gemachten Aussagen über eine Gruppe namens »Neoschutzstaffel« (NSS) und den Mordanschlag auf die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihren überlebenden Kollegen Martin A. präzisieren. Acht Stunden vor diesem Termin soll er sich morgens in seinem Auto selbst verbrannt haben – aus Liebeskummer. Nur acht Stunden brauchte auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft in Stuttgart, um sich auf die Todesursache Suizid festzulegen. Noch während der Obduktion, ohne die Ermittlungen abzuwarten. Das behauptete Motiv stellte sich als frei erfunden heraus, die Selbstmordabsichten bestritten sowohl seine Freundinnen als auch Eltern und Schwester.
7. April 2014: Der V-Mann Thomas Richter alias »Corelli« sollte als Zeuge im NSU-Prozess in München gehört werden. Dazu kam es nicht. Nach Polizeiangaben wurde er am 7. April tot in seiner Wohnung nahe Bielefeld gefunden. »Corelli« starb laut Obduktionsbericht »an einer nicht erkannten Zuckererkrankung«. Er hätte mit seinem Wissen die Legende zerstören können, dass staatliche Behörden 13 Jahre lang nichts vom NSU wussten. Thomas Richter war ein einflussreicher Neonaziaktivist und Bindeglied zwischen der Kameradschaft Thüringer Heimatschutz, dem deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg und dem NSU-Unterstützerumfeld. Unter dem Decknamen »Corelli« soll er von 1997 bis 2007 dem Bundesamt für Verfassungsschutz Informationen geliefert haben. Richter hatte sich auch bei dem rechten Fanzine Der Weiße Wolf engagiert. Im Editorial der Ausgabe 18 aus dem Jahr 2002 steht: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter …«
28. März 2015: Die 20jährige Melisa Marijanovic wurde am 28. März 2015 sterbend in ihrer Wohnung gefunden. Sie war mit Florian Heilig kurz vor dessen Tod liiert gewesen, inzwischen aber mit Sascha Winter verlobt, der sie laut Polizei mit Krampfanfällen antraf. Die Notärzte konnten ihr Leben nicht retten. Einem Obduktionsbericht zufolge starb sie an einer Lungenembolie. Zwei Wochen zuvor, am 13. März 2015, war sie als Zeugin im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg gehört worden – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Fest steht, dass sie der Selbstmordthese widersprochen und sich bedroht gefühlt hatte. Ein Wortprotokoll ihrer Aussage in dem Ausschuss wurde bisher nicht veröffentlicht.
8. Februar 2016: Sascha Winter, der Verlobte der verstorbenen Melisa Marijanovic, wurde nach Polizeiangaben tot in seiner Wohnung gefunden. Laut Behördensprecher Tobias Wagner gibt es zunächst »keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden«. Der Tote werde obduziert, man gehe aber von Suizid aus. Es sei ein »Abschiedsbrief« gefunden worden, den Winter elektronisch verschickt haben soll. Bis heute weigert sich die Staatsanwaltschaft, Auskunft darüber zu geben, wer Sascha Winter gefunden hat, woran er gestorben ist, wer den »Abschiedsbrief« bekommen haben, was in diesem elektronischen Abschiedsbrief stehen soll.