Gauck zwischen Maidan und Tiananmen
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05.06.2014
Politische Amnesie
Gauck zwischen Maidan und Tiananmen
Von Sebastian Carlens
In der Diplomatie ist alles ein Statement. Bundespräsident Joachim Gauck hat, falls ihm dies nicht bekannt sein sollte, einen Stab, der um die internationalen Kniffe und Gepflogenheiten weiß. Insofern ist es ein Signal, daß der formal höchste Deutsche der Amtseinführung des neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am Sonnabend beiwohnen will. Denn noch nie zuvor hat Gauck an einer solchen Zeremonie im Ausland teilgenommen. Poroschenko ist nicht nur der legitime Staatschef, soll dieser Schritt bedeuten: Er ist mehr, ein enger Freund und Partner, und die Verhältnisse in Kiew und der Ukraine sind so normal, daß sie einen solchen Besuch zulassen.
Obwohl die ukrainische Luftwaffe Angriff um Angriff auf die eigene Bevölkerung fliegt und der »Schokoladenoligarch« Poroschenko nur in Teilen des Landes und nur unter dem Schutz bewaffneter Neonazis gewählt werden konnte, die noch immer den zentralen Platz der Hauptstadt als Heerlager besetzt halten, muß man sich um die Zurechnungsfähigkeit des deutschen Staatsoberhauptes keine Sorgen machen: Dessen Amnesie ist hochpolitisch und nur selektiv. Geht es gegen die Rotchinesen, ist »Dissident« Gauck wieder in seinem Element. »Bis heute wird in China jegliche Diskussion der damaligen Ereignisse unterdrückt«, sagte er am Dienstag mit Blick auf die Niederschlagung des Aufstands auf dem Pekinger Tiananmen-Platz im Jahr 1989. Das war vor genau 25 Jahren. Das passende Symbolbild kennt mittlerweile jedes Kind. Ein todesmutiger Bürger, der seinen Leib gegen eine Kolonne Panzer in Stellung bringt. Daß die Militärfahrzeuge geparkt dastanden, tut dabei nichts zur Sache, auf den Blickwinkel des Fotografen kommt es an. Hunderte, bis zu tausend Tote soll es damals gegeben haben. Diese Zahl könnte realistisch sein. Etliche der Opfer von 1989 waren chinesische Polizisten und junge Rekruten, von einem bewaffneten Mob gelyncht, verbrannt und an Brücken stranguliert.
1989 starben Menschen. 2014 sterben Menschen. Die OSZE hat am Dienstag öffentlich gemacht, daß die Kiewer Putschregierung Luftangriffe auf die ostukrainische Stadt Lugansk geflogen hat. Poroschenko soll, so berichtete es RIA Nowosti, gegenüber US-Botschafter Pyatt eine Zahl von 2000 Toten im Rahmen seines »Antiterroreinsatzes« gegen die russischsprachige Bevölkerung des eigenen Landes als »akzeptabel« bezeichnet haben.
Soll vom Tiananmen schweigen, wer von Lugansk, Mariupol und Odessa nicht reden will? Man kann niemanden, auch Pastor Gauck nicht, bei einer Moral packen, die nicht die seine ist. China ist Gegner und Konkurrent, Poroschenko ein Lakai des Westens und der Bundespräsident hauptamtlicher Prediger für »mehr globale Verantwortung«. Unterhalb von Weltpolitik macht es dieses erstarkte Deutschland, das vor Kraft schon wieder kaum laufen kann und erneut von Feinden umzingelt sein will, nicht mehr.