Gefährliche Halbbildung
Gefährliche Halbbildung
Über die rabiate Mittelmäßigkeit eines entkultivierten Bürgertums
Von Herbert Schui, Junge Welt
Bildung verkümmert zu ökonomisch verwertbarem Wissen, die Spaltung von Leistungsträgern und Überflüssigen ist unübersehbar (im Hintergrund Absolventen der Bonner Universität)
Foto: picture alliance/Ulrich Baumgarten
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Herbert Schui: Politische Mythen und elitäre Menschenfeindlichkeit. Halten Ruhe und Ordnung die Gesellschaft zusammen? VSA-Verlag, Hamburg 2014, 128 Seiten, 12,80 Euro (wird im Herbst neu aufgelegt)
Am 14. August verstarb der profilierte Kapitalismuskritiker, der Ökonom und Politiker der Partei Die Linke, Herbert Schui, im Alter von 76 Jahren. Wir möchten seiner gedenken und sein Schaffen würdigen, indem wir an dieser Stelle das letzte Kapitel seines 2014 bei VSA erschienenen Buchs »Politische Mythen und elitäre Menschenfeindlichkeit« veröffentlichen. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung des Abdrucks. (jW)Die Verhältnisse nicht als Ergebnis natürlicher Gesetzmäßigkeit wahrzunehmen, erfordert mehr als berufliche Qualifikation. Allgemeine Bildung ist notwendig. Sie ist (und sie war stets) eine wichtige Voraussetzung für Opposition. Denn wie sonst wird eine Mehrheit dazu kommen können, es – beispielsweise – eine Absurdität zu nennen, wenn aufgrund des technischen Fortschritts zwar in einer Arbeitsstunde immer mehr hergestellt werden kann, gleichzeitig aber die Armut zunimmt? Und wie sonst soll genug Druck entstehen, damit dem Klimawandel wirksam entgegengearbeitet wird? Alles sieht danach aus, dass besonders Halbbildung eine solche Opposition verhindert.
Der Emanzipation verpflichtet
Das Verständnis von Bildung als Merkmal des Bürgertums nimmt im 18. Jahrhundert seinen Anfang. Gegenwärtig sagen sich die »Leistungsträger«, besonders die obere Statusgruppe, umso mehr »Bildungsnähe« nach, je höher ihr Einkommen ist. »Die Qualitäten, die dann nachträglich den Namen Bildung empfingen, befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern, voraushatten. Ohne Bildung hätte der Bürger, als Unternehmer, als Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum reüssiert.«¹
Am Beginn seiner historischen Karriere ist der gebildete Bürger, das Bildungsbürgertum, der Emanzipation verpflichtet: seiner eigenen und der seiner Klasse. Seine auf Erkenntnis gerichtete Tätigkeit widerspricht nicht der Ideologie des aufstrebenden Bürgertums. Es gibt eine organische Übereinstimmung, weil das »Vorgehen der praktischen wissenschaftlichen Forschung und jenes der aufsteigenden politischen Klasse einander entsprechen«.²
Dieses goldene Zeitalter, wie Sartre es nennt, diese organische Übereinstimmung kann so lange andauern, wie sich das Bürgertum gegen die feudale Herrschaft richtet. Indem sich aber mit dem Bürgertum eine Arbeiterklasse herausbilden muss – ohne sie kann es keinen Kapitalismus geben – kann das Bürgertum nicht mehr die universelle Klasse sein. Ihr Interesse steht dem Interesse der Arbeiterklasse entgegen. Damit muss sich ein gesellschaftlicher Gegensatz herausbilden, der eine Stellungnahme erfordert – indem er geleugnet oder indem Partei ergriffen wird. Die organische Übereinstimmung jedenfalls ist dahin.
Techniker des praktischen Wissens
Der (für seine Epoche fortschrittliche) Bildungsbürger des 18. Jahrhunderts wird ersetzt durch den Techniker des praktischen Wissens. Dieser soll im Gegensatz zu seinem Vorfahr die herrschende Gesellschaftsordnung – damals den Feudalismus – nicht in Frage stellen. Der seit einigen Jahrzehnten vorherrschende Sprachgebrauch verdeutlicht dies. Öffentliche Bildungsausgaben heißen Bildungsinvestitionen. Dieser Ökonomismus der Sprache – eine Investition muss sich rentieren – will jede andere Bildung ausschließen, alle Bildung, die nicht der unternehmerischen Rentabilität dient. Folglich werden Bildungsinvestitionen gefordert, um das Humankapital, das wirtschaftlich verwertbare Menschenmaterial zu vergrößern. Dieser Begriff degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern macht den Menschen allgemein zu einer nur noch ökonomisch interessanten Größe. (Mit diesem Argument wurde »Humankapital« 2005 zum Unwort des Jahres.) Hierher gehört auch das mittlerweile geflügelte Wort von den Arbeitskräften als »Kostenstellen mit zwei Ohren«, das vor längerem von einem Manager in Umlauf gesetzt worden ist.
Die Techniker des Wissens rekrutiert die Unternehmerschaft nach ihrem Bedarf. Dies schließt den öffentlichen Dienst mit ein, soweit er der Privatwirtschaft zuarbeitet, oder soweit er – zunehmend – selbst unternehmerisch organisiert wird. Damit werden die Verhältnisse klar: »Die Industrie will die Universität unter ihre Kontrolle bringen, um sie zu zwingen, den alten, überholten Humanismus aufzugeben und ihn durch Spezialfächer zu ersetzen, die den Betrieben Umfragespezialisten, höhere Angestellte, Werbefachleute etc. liefern. (…) Die herrschende Klasse richtet die Lehrinhalte so aus, dass ihnen a) die Ideologie, die sie für angebracht halten (Primar- und Sekundarstufe), b) die Kenntnisse und Praktiken, die sie zur Ausübung ihrer Funktionen befähigen werden (Hochschule), vermittelt werden.«³
Das ist der Zweck der »Entrümpelung« der Lehrpläne, der komprimierten Bachelor- und Master-Studiengänge, der Modularisierung des Studiums, der Verkürzung der Schulzeit an den höheren Schulen. Was in diesen Bildungsbereichen durchgesetzt wird, gilt auch für Haupt- und Berufsschulen. Die Technik besteht hierbei nicht einzig in aktiver ideologischer Unterweisung, sondern ebenso sehr in Unterlassung – oder darin, dass Lehrmaterial benutzt wird, das von den Bankenverbänden oder vom Bundesverband der Deutschen Industrie bereitgestellt wird. Dieses Schema verlangt von den Studierenden zu wissen, welche Arbeit die privaten Unternehmen und auch der Staat nachfragen. Diese Nachfrage leiten sie an die Bildungseinrichtung weiter.
Konforme Lehrpläne
Die Universitäten, ihrerseits neu organisiert wie Unternehmen, werden von dieser Nachfrage gesteuert: Sie bieten an, was die Studierenden im Auftrag ihrer künftigen Chefs nachfragen. Die Produkte der Universitäten wiederum brauchen ihren Input. Hochschullehrer sind hiervon ein wesentlicher Teil. Geben die Studierenden ihr Bild vom (erahnten) Ratschluss ihrer künftigen Chefs weiter, streben sie ohne Fragen zur neuen oder bürgerlichen Mitte, so wie ihre Mittelschichtsozialisation dies nahelegt, dann wollen sie fachkundige, willige und flexible Mitarbeiter werden, gewerkschaftlich nicht organisiert, politisch unauffällig und konform. Ängstlich werden sie darauf bedacht sein, sich mit nichts zu beschäftigen, zu infizieren, was nicht gefällt. Der Input von Hochschullehrern der Universitäten richtet sich danach: Radikalenerlasse und Berufsverbote sind nun nicht mehr nötig, um Kritik, womöglich Gefahren für den Kapitalismus abzuwehren, die sich in einem intellektuellen Universitätsklima entwickeln könnten. Die Auswahl der Hochschullehrer sorgt dafür, dass die Studierenden nichts zu hören bekommen, was sie nicht nachgefragt haben.
Ebenso, wie der künftige Personalchef wahrscheinlich nicht danach fragen wird, was denn die gesamtwirtschaftlichen Ursachen von Arbeitslosigkeit sind, werden sie nicht darauf aus sein, diese Gründe von den Hochschullehrern zu erfahren. Doch selbst wenn es zum künftigen Berufsbild gehören sollte, sich hiermit zu befassen, oder ganz allgemein interessiert: Die Wirtschaftstheorie hält hier die mit sophistischen Arabesken ausstaffierte Trivialität bereit, dass Arbeitslose angesichts ihrer Fähigkeiten eben zu hohe Löhne fordern.
Damit verliert die Aura des Bildungsbürgers ihren Glanz: Halbbildung – konzentriert auf das Fortkommen im Beruf – ist das Ergebnis. Der Techniker des praktischen Wissens kommt in der Regel, das beweisen unverändert die Untersuchungen zur sozialen Mobilität, »aus der mittleren Schicht der Mittelklassen, wo man ihm von früher Kindheit an die partikularistische Ideologie der herrschenden Klasse eintrichtert (…) Von Kindheit an verbirgt man ihnen hinter der Fassade des Humanismus die wirkliche Situation der Arbeiter und Bauern sowie den Klassenkampf.«4 Dies strahlt von den Universitäten, von den Technikern des praktischen Wissens (den Leistungsträgern) in der Ausübung ihres Berufes aus auf ihren Mythos. Wer in diesen Stand aufsteigt, in ihn erhoben wird durch Politikerreden, und daran glaubt, legt sich diese Einstellung zu. Die Neigung zu Mythen wird durch diese Halbbildung gefördert. Sie lässt aus Gründen der ideologischen Zuverlässigkeit der Leistungsträger, der Funktionselite nur begrenzt Einsichten als Ergebnis von Bildung zu. Der allfällige Wunsch nach Erkenntnis wird vom Mythos zufriedengestellt.
Leistungsträger als Eigentümer von Humankapital, das als Rendite Lohneinkommen einbringt, können sich zur besitzenden Klasse zählen, so wie andere, die Realkapital (Produktionsmittel) zum Eigentum haben und Gewinneinkommen beziehen. Der Wert des jeweiligen Kapitals ist bestimmt durch das zukünftige Einkommen aus diesem Kapital. Sehen sie ihre Lage so, dann kann kein gesellschaftlicher Gegensatz mehr wahrgenommen werden, der vom Eigentum an Produktionsmitteln bestimmt wäre. Dann gibt es nur noch einen gesellschaftlichen Gegensatz zwischen dem Kapitaleigentümer und dem Habenichts. Dieser lebt auf Kosten der Eigentümerschicht und muss von dieser streng beaufsichtigt werden: Bekommt er zuviel, strengt er sich an, ist er ein würdiger Armer? Bei dieser pädagogisch motivierten Aufsicht aber bleibt es nicht.
Elitäre Menschenfeindlichkeit
Die empirische Sozialforschung weist zunehmend elitär motivierte Menschenfeindlichkeit nach. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von einer »strikte(n) Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern«, einer »Dichotomie von Leistungsträgern und Überflüssigen«.5 Hierbei wertet die obere Statusgruppe die schwachen Gruppen am stärksten ab. (Hierzu mag die Tradition der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit beitragen.) Die ökonomisierte Gesellschaft ist der Nährboden für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit.
Es ist nun nicht mehr die Herrenrasse des Faschismus, die Menschen aussondert, sondern das entkultivierte, rabiate Bürgertum. Es verrät sich durch seine Sprache. Adorno verweist auf Karl Korn: »Die Sprache des Angebers ist geradezu die Ontologie von Halbbildung«.6 Hierher gehört auch, wie stolz die Leistungsträger ihre »Vielbeschäftigtheit und Überlastung« zur Schau tragen – oder die Wendung von der »hart arbeitenden Mittelklasse«. Deren Überheblichkeit mag auch ihre Stütze haben in nebelhaften Resten der Prädestinationslehre: Der wirtschaftlich Erfolgreiche ist von Gott auserwählt. Abwertende Begriffe wie »Wutbürger« oder »Gutmenschen« können die Menschenfeindlichkeit weiter illustrieren.
Wenn nun Bildung nichts weiter ist als ökonomisch verwertbares Wissen in der vorherrschenden allgemeinen unternehmerischen Lebenspraxis, dann betreibt der Halbgebildete Selbsterhaltung ohne Selbst. Was Bildung an Erfahrung, Begriff und Urteil ermöglichen könnte, »wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemerische Informiertheit, der schon anzumerken ist, dass sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird«.7 Urteil stützt sich zu häufig nicht auf umfassende Information, ganz wie in Wildwestfilmen kommt es allzu oft nicht über die grobe Einteilung zwischen Gut und Böse hinaus – oft getragen von theologisch nicht identifizierten Rudimenten christlicher Normen, die vom Hörensagen stammen oder aus der Grundschule. Nachdenken über eine Sache, notwendige Abstraktion wird ersetzt durch moralisches Urteil. Krieg wird als humanitäre Intervention verstanden, Dreinschlagen wird dem Versuch von Verhandlungslösungen vorgezogen. Ähnlich einfältig (und nicht selten aggressiv) die Urteile zur Arbeitslosigkeit, zur veränderten Altersstruktur der Bevölkerung oder zur Staatsverschuldung. Die Politik der Bundesregierung gegenüber Griechenland ist ein Beispiel für Aggressivität. Eine wirkliche Lösung der Frage wäre auch im gegebenen institutionellen Rahmen möglich gewesen. Durchgesetzt hat sich eine Art schwarzer Pädagogik, um – ohne Erfolg – zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zu kommen.
Anerzogene Dummheit
Im Zusammenhang von Krieg und Frieden erklärt Alexander Mitscherlich diese Haltung als das Ergebnis von hergestellter Dummheit. Zwei Faktoren stünden einer Entwicklung größerer Friedlichkeit im Weg: »Die leicht weckbare Feindseligkeit des Menschen gegen seine Artgenossen und die, wie man zu sagen pflegt, unausrottbare Dummheit.« Eigentlich, so Mitscherlich weiter, bestünde die »Zielvorstellung aller Kulturen, sobald das nackte physische Elend überwunden ist, (…) in der Milderung der feindseligen und zerstörerischen Formen von Aggression durch Förderung ausgleichender seelischer Kräfte wie Mitgefühl, Verständnis für die Motive des anderen und ähnliches. Dieser Förderung steht die Dummheit im Wege. Ich meine damit nicht die Begabungsdummheit, sondern die anerzogene Dummheit, die sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeigeführte Dummheit.« Diese ersetze bei Konfliktlösungen die kritische Reflexion durch Erregung und Vorurteil. »Vor allem zeigt sich eine verstärkte Unfähigkeit, eigene Probleme unbestechlich zu betrachten.«8
Es liegt auf der Hand, dass dies nicht nur für den Verkehr unter Nationen gilt, sondern auch für das Verhältnis zwischen Individuen und Menschengruppen. Das Lancieren politischer Mythen ist die »Anerziehung von Dummheit«. Dies fördert Aggressivität, elitär motivierte Menschenfeindlichkeit und verhindert die Herausbildung ausgleichender seelischer Kräfte als Merkmal einer Kultur, die das nackte physische Elend überwunden hat. Aber nicht nur das wird verhindert. Dummheit und Vorurteil erschweren es, scheinen es gegenwärtig unmöglich zu machen, den technischen Stand der Entwicklung zu nutzen für zivilisatorischen Fortschritt. Sicherlich: Der Faschismus lieferte, so Eric Hobsbawm, »den Beweis, dass der Mensch ohne die geringsten Schwierigkeiten völlig irrsinnige Glaubenssätze über alles und jedes in der Welt mit meisterhafter Beherrschung der Hochtechnologie seiner Zeit verbinden kann«.9 Diese meisterhafte Beherrschung diente der Massenvernichtung und dem Krieg. Für die Gegenwart sieht es zivilisierter aus. Aber dennoch ist es offenbar nicht möglich, die gegenwärtige Hochtechnologie zu nutzen, um der Massenarmut allgemein, ja selbst in den Industrieländern Herr zu werden. Statt dessen wird der Armut mit Aggressivität begegnet. Ist es der Glaube an die natürlichen, ewigen Gesetzte der Wirtschaft?
Wo kann die Lösung sein? In der Weigerung, sich Dummheit anerziehen zu lassen; darin, aus der öffentlichen Meinung ein legitimes Instrument der Kontrolle zu machen, was voraussetzt, die vorherrschende öffentliche Meinung ihrerseits danach zu prüfen, wie sie es mit der Wahrheit hält. Grundlage hierfür ist Bildung und – als Ergebnis – gemeinschaftliche Aktion, ohne die sich nichts verändert, nichts verhindert werden kann. Wer kann gebildet genannt werden? Mitscherlich hat hierauf eine verblüffend einfache Antwort: »Der gebildete ist als ein Mensch zu charakterisieren, der seine jugendliche Ansprechbarkeit auf Neues und Unbekanntes behalten hat. Er ist auf der Suche nach Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen.«10 Eigenschaften dieser Art sind unabhängig von der sozialen Schicht. Der gebildete Mensch ist kein Bildungsphilister, der es etwa mit einiger Mühe dazu gebracht hat, ein ergriffenes Gesicht zu ziehen, wenn er klassische Musik hört. Er ist kein engstirniger, kleinbürgerlicher Mensch. Damit ist der Begriff der Bildung nicht mehr eins mit dem, was etwa an höheren Schulen oder Universitäten gelehrt und gelernt wird. Dennoch schließt er diese Einrichtungen nicht aus, obwohl die Frage zu prüfen ist, inwieweit die bürgerliche Sozialisation, die Bildungseinrichtungen einen sehr engen Rahmen vorgeben für das, was als Neues und Unbekanntes überhaupt Neugier wecken darf. Es gibt reichlich Tabus, die sozialen Gehorsam erzwingen sollen, Dinge also, über die »man« nicht spricht. (Deutlich wird bei Mitscherlichs Verständnis von Bildung ein weiteres Mal, wie sehr der Begriff der Bildungsinvestition in die Irre geht.)
Objektive Intelligenz
Worauf es ankommt, wenn die Vernunft eine Chance haben soll, hat Sartre in dieser Weise umrissen: »Die ausgebeuteten Klassen – auch wenn ihre Bewusstseinswerdung variabel ist und sie von der bürgerlichen Ideologie tief durchdrungen ist – zeichnen sich durch ihre objektive Intelligenz aus. Diese Intelligenz ist keine Gabe, vielmehr entsteht sie aus ihrem Blickwinkel, dem einzigen radikalen, auf die Gesellschaft: unabhängig von ihrer Politik (die Resignation, Würde oder Reformismus sein kann, je nachdem, wie weit die objektive Intelligenz von den Werten, die ihnen die herrschende Klasse beigebracht hat, überlagert und durcheinandergebracht wird). Dieser objektive Gesichtspunkt produziert ein Denken der Massen, das die Gesellschaft vom Grundsätzlichen her betrachtet, das heißt, von der niedrigsten Stufe aus. (Es ist) die Sicht der erlittenen Gewalt, der entfremdeten Arbeit und der elementaren Bedürfnisse.«¹¹
Objektive Intelligenz aus der Erfahrung und der Verallgemeinerung der eigenen Lage, der besondere Druck der Realität, der diese gesellschaftliche Klasse ausgesetzt ist, ist dazu angetan, die Suche nach Wissen zu fördern und nach Methoden zur Prüfung der eigenen Erfahrung. Weil diese Bildung Klarheit schafft über diejenigen Ursachen der eigenen Lage, gegen die die einzelnen durch individuelles Handeln nichts ausrichten können, schafft diese Bildung ein gemeinschaftliches Bewusstsein. Das wäre der Anfang einer Veränderung. Sartre ist optimistisch: »Und jeder, selbst wenn er es nicht weiß, strebt diese Bewusstwerdung an, die es dem Menschen erlauben würde, diese wilde Gesellschaft, die ihn zum Monstrum und zum Sklaven macht, in den Griff zu bekommen.« ¹²
Sartre hat sein Plädoyer für die Intellektuellen vor gut 40 Jahren geschrieben. Einstweilen haben sich die Verhältnisse noch nicht zum Guten verändert. Widerspruch macht sich dennoch allenthalben breit. Um einige Beispiele zu nennen: In den Städten arbeiten Initiativen gegen hohe Mieten und Gentrifizierung, Volksabstimmungen werden durchgesetzt, die die Energie- oder Wasserversorgung wieder zu Gemeineigentum machen, in den einzelnen Wissenschaften gründen sich Vereinigungen für mehr Pluralismus, Umweltverbände leisten energisch Widerstand, der Konformismus der sozialdemokratischen Parteien hat zur Gründung von Parteien geführt, die politisch weiter links stehen. Das kann belegen: Die Vorstellung Mitscherlichs von Bildung als Ansprechbarkeit auf Neues oder die Idee Sartres von der objektiven Intelligenz existieren weiter.
Der Veränderung, einer Besserung der gesellschaftlichen Lage stehen die Ideologie und die Lebenspraxis der rabiaten Mittelschicht, des entkultivierten Bürgertums entgegen. Beides, Ideologie und Praxis, werden durch Mythen weiter gefördert. Sie werden umso abstruser, je absurder die Verhältnisse sind. Dennoch haben diese Mythen Erfolg in ihrem objektiven Zweck, die gegebenen Machtverhältnisse, die vorherrschenden wirtschaftlichen Absurditäten zu bewahren.
Auch wenn viele aus der Mittelschicht hierunter leiden durch Stress bei der Arbeit, durch stets drohende Entlassung bei Leistungsabfall: Solange sie sich beim Verständnis der Wirklichkeit von den Mythen leiten lassen, steht alles dafür, dass Selbstgefälligkeit, Intoleranz und Aggressivität der Mittelschicht zunehmen. Was besorgt macht, das sind nicht einzig die bekennenden Neofaschisten. Vielmehr ist daneben eine Veränderung am Werk, die sich mit den überkommenen Begriffen des historischen Faschismus nicht unmittelbar erfassen lässt.
Anmerkungen
1 Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. Frankfurt/Main 2006, S. 17
2 Jean-Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950–1973. Reinbek 1995, S. 98
Jean-Paul Sartre: »Plädoyer für die Intellektuellen«, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 6: Politische Schriften. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 98
3 ebenda, S. 100. Die überaus vielen Studiengänge in »Business Psychology« sind
hierfür ein Beispiel mit ihrer Ausbildung für Personalmanagement, Marktforschung
oder Personalberatung
4 ebenda, S. 101
5 Eva Groß, Julia Gundlach, Wilhelm Heitmeyer: »Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt/Main 2010, S. 140 f.
6 Adorno, Halbbildung, a. a. O., S. 48
7 ebenda, S. 50 f.
8 Alexander Mitscherlich: Über Feindseligkeit und hergestellte Dummheit – einige andauernde Erschwernisse beim Herstellen von Frieden. Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1960. Hamburg 1993, S. 14 f.
9 Eric Hobsbawm: Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 155
10 Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963, S. 26
11 Jean-Paul Sartre, a. a. O., S. 119
12 ebenda, S. 128