Gefahrenzuschlag – Kein Grund zu Panik oder Hysterie: Nur Muslime werden bedroht
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20.11.2010 / Titel / Seite 1
Gefahrenzuschlag
Von Rüdiger Göbel
Kein Grund zu Panik oder Hysterie, auf der Terrorskala ist erst 9,0 erreicht
Foto: AP
Wer sich heuer als Weihnachtsmann an Glühweinständen in Deutschland
verdingen muß, scheint gefährlich zu leben. Die Gefährdungslage in der BRD
bleibt unvermindert hoch, bekräftigten die Innenminister von Bund und
Ländern am Freitag nach Ende ihrer Tagung in Hamburg. Darüber herrsche
»Einigkeit«, so der Innensenator der Hansestadt, Heino Vahldieck (CDU). Die
neue deutsche Gefährdungslage rechtfertigt einen neuerlichen Anschlag auf
das Grundgesetz. So forderten die Minister von Hamburg aus
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) auf, schnell
einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung
vorzulegen.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat am Freitag mittag
eingestehen müssen, daß ein am Flughafen im namibischen Windhuk wegen
Sprengsstoffverdachts sichergestellter Koffer eine ungefährliche Attrappe
war. Der Terroralarm gilt indes weiter. Der »Realtestkoffer« (de Maizière)
stammt von einer US-Firma und dient offiziell dazu, Sicherheitskontrollen zu
testen. Der Minister konnte am Freitag nicht ausschließen, daß das
vermeintliche Terrorgepäck von einem deutschen Geheimdienst vor dem Flug
einer Air-Berlin-Maschine nach München zum Airport gebracht wurde.
Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hatte de Maizière zuvor
vorgeworfen, den Bundestag unzureichend über die Hintergründe seiner am
Mittwoch ausgesprochenen »konkreten« Terrorwarnung zu informieren. Im
Hessischen Rundfunk äußerte er sich skeptisch zur Glaubwürdigkeit der
Warnung. In den vergangenen Jahren seien schließlich immer wieder derartige
Warnungen herausgegeben worden, begründete Ströbele seinen Zweifel. Vielmehr
habe er den Verdacht, die Bundesregierung verstärke die Terrorangst, um die
Sicherheitsgesetze zu verschärfen und die Vorratsdatenspeicherung
durchzusetzen.
Der als »Terrorexperte« firmierende Lautsprecher hiesiger Geheimdienste im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen, Elmar Theveßen, bekräftigte dagegen im
Morgenmagazin von ARD und ZDF am Freitag, es gäbe offenbar konkrete
Anschlagspläne von Extremisten. »Also wir haben in den letzten 18 Monaten so
viele Hinweise bekommen von Sicherheitsbehörden – und die wiederum aus
verschiedensten Quellen – darauf, daß Anschläge in Deutschland ausgeführt
werden sollen.« Und: »Der Bundesinnenminister hat nicht alles gesagt, was er
weiß.« Bedenklich stimmt Thevessen Überlegung, die Bevölkerung sei bisher zu
wenig, »auch psychisch, auf mögliche Angschläge« in der BRD vorbereitet
worden.
Rainer Wendt, Chef der rechten, nicht im DGB organisierten Deutschen
Polizeigewerkschaft (DPolG), erklärte in der Osnabrücker Zeitung, daß der
»Ausnahmezustand mindestens bis zum Jahresende anhält«. Solange die
Weihnachtsmärkte geöffnet seien, »müssen wir jederzeit mit Anschlägen
rechnen und werden die Bevölkerung durch sichtbare Präsenz auch auf den
Märkten schützen«. Die Anschlagsdrohung gelte im übrigen nicht nur für
Großstädte, gab Wendt eine Gefahrenzulage. Einzelne Innenminister hatten am
Donnerstag noch konkret Berlin, Hamburg, München und Frankfurt am Main
genannt. Matthias Seeger, Präsident des Bundespolizeipräsidiums, nannte in
Bild die Lage »ernster als je zuvor«. Und: »Panik oder Hysterie sind nicht
angebracht. Aber auf einer Skala von eins – keine Gefahr – bis zehn – akute
Anschlagsgefahr – liegen wir im Moment bei 9,0.«
Ein realer Terrorakt, ein Brandanschlag auf das größte islamische Gotteshaus
in Berlin, die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm, ist in der
Berichterstattung am Freitag weitgehend untergegangen: Die vorgefundenen
Spuren am Tatort lassen nach Angaben der Berliner Polizei darauf schließen,
daß der Brand vorsätzlich gelegt wurde.