Geistige Mobilmachung: Gedenken im Bundestag am 8. Mai
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Geistige Mobilmachung: Gedenken im Bundestag am 8. Mai
Von Sevim Dagdelen, Junge Welt, 9. Mai 2015
Es gab einmal eine kurze Zeit, in der am 8. Mai im Deutschen Bundestag an die Befreiung vom deutschen Faschismus erinnert wurde. Diese Zeit ist vorbei. Diesen Eindruck konnte man jedenfalls bei der Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des Kriegsendes gewinnen. Die Worte des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sind dabei nicht weiter erwähnenswert. Der CDU-Politiker hat sich, was die Aufarbeitung faschistischen Terrors angeht, bisher lediglich durch die Gewährung einer Aussageverweigerung zugunsten eines V-Manns im Fall der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« profiliert. In der Rede des Historikers Heinrich August Winkler aber ist der antirussische Gestus sofort aufgefallen. Es gab nicht nur keinen expliziten Dank an die Sowjetunion und die Rote Armee, die die Hauptlast beim Sieg über den Faschismus trugen und bei weitem die meisten Opfer zu beklagen hatten. Nein, streckenweise wirkte der Vortrag wie eine Brandrede gegen Völkerrechtsbrüche Moskaus, während Kosovo, Irak-Krieg oder die NATO-Aggression in Libyen folgerichtig keinerlei Erwähnung gefunden haben. Es konnte so der Eindruck entstehen, Winkler schreibe seine Geschichte aus dem Brüsseler Bunker des NATO-Hauptquartiers. Gute westliche Werte stehen gegen böse östliche Machtpolitik.
Winkler ist damit Deutschlands Mann für den atlantischen Kulturkampf. Russland bleibt der ewige Feind. Damit steht Winkler aber nicht etwa in der Tradition des Westens, in der er sich so gerne sehen würde, sondern reproduziert lediglich deutschnationale antirussische Mythen, wie sie sich in der geistigen Mobilmachung deutscher Professoren gegen Russland im Ersten Weltkrieg finden. Im »Manifest der 93« hieß es: »Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts missachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde.«
Deutschland, so Winklers Aufruf am Freitag, müsse sich quasi als Schutzmacht Mittel- und Osteuropas positionieren. So wurde die Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Teil einer geistigen Mobilmachung gegen Russland. Winklers Ruhelosigkeit in Sachen Russland ist verständlich. Deutschlands weiterer Aufstieg als Hegemonialmacht an der Seite der USA in Europa wird nur noch von Moskau behindert. Und Berlin wird nicht ruhen, bevor dies nicht nur in Kiew, Tbilissi und Chisinau, sondern auch in Minsk, Eriwan und in Astana verstanden worden ist. Der neue antirussische Geschichtsrevisionismus, der darauf aus ist, den Beitrag der Sowjetunion und der Roten Armee zum Sieg über den deutschen Faschismus zu minimieren, ist brandgefährlich. Es wird darauf ankommen, denen in den Arm zu fallen, die von einem Kulturkampf gegen Russland fabulieren, bevor sie einen großen Krieg in Europa heraufbeschwören können.
Sevim Dagdelen ist Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag für Internationale Beziehungen