Grenzerfahrungen. Zu einigen Texten von George Bataille
Grenzerfahrungen. Zu einigen Texten von George Bataille
Hans Erich Troje
Grenzerfahrungen. Zu einigen Texten von George Bataille (teilweise)
Georges Bataille (1897-1962) wurde 1955 von Martin Heidegger als “der beste denkende Kopf Frankreichs” gerühmt. Dann stellte sich freilich heraus, daß Heidegger zwei Namen verwechselt und eigentlich einen anderen, nämlich Batailles Freund Maurice Blanchot gemeint hatte. Aber die Aussage steht in der Welt, steht auch auf dem Klappentext des ersten Bandes von Bernd Mattheus’s eindringlicher und monumentaler Werk- und Lebensbeschreibung, die als “Tanatographie” (“Todesbeschreibung”) in drei Bänden (1984, 1988 und 1995) im Verlag Matthes und Seitz in München erschienen ist (die “kleine Berichtigung” findet sich Band II S. 188).
Bataille hatte zwei Arbeitsschwerpunkte, Altertumswissenschaft (Numismatik) und Philosophie. Er schrieb aber auch Romane und Gedichte. Er hat zuallererst sein eigenes Leben poetisiert. Mit dreißig lernte er die elf Jahre jüngere Schauspielerin Sylvia Maklés (1908-1993) aus einer Familie rumänischer Juden kennen. Während der Ehe, die er mit ihr von 1928 bis 1946, ab 1934 aber bereits in Trennung führte, wurden zwei Töchter, Laurence und Judith geboren. Laurence (1930-1986) wurde mit 19 (1949-50) von Stanislas Klossowski (“Balthus”) portraitiert und mit 33 von Conrad Stein zur Psychoanalytikerin ausgebildet. Eine 1984 publizierte autobiographische Schrift enthält Verarbeitungen ihrer Leidensgeschichte. Genetischer Vater der 1941 geborenen Judith war Batailles Freund Jacques Lacan (1901-1981), der die seit Jahren geschiedene Sylvia Maklés 1953 endlich heirate. Bis zur Anerkennung der Vaterschaft (1964) verstrichen nochmals elf Jahre. Judith heiratete 1966 den 1944 geborenen Psychoanalytiker Jacques-Alain Miller, den späteren Herausgeber der Schriften Jacques Lacans. Bataille blieb auch nach Trennung und Scheidung in Kontakt mit seiner Exfrau und mit deren Mann. Die sehr kenntnisreiche Lacan-Biographie von Elisabeth Roudinesco (Paris 1993, Frankfurt Main 1999) enthält im Kapitel “Georges Bataille und Co” eine eingehende Darstellung dieser Zusammenhänge und Verflechtungen. Es ist kein Geheimnis, daß Bataille über Jahrzehnte der wichtigste Ideengeber Lacans gewesen ist. Ich kann in Lacans Lehrsystem kaum etwas finden, das nicht auf Gedanken und und Anregungen Batailles zurückgeht. Für Sylvia endete mit Kriegsbeginn die durchaus hoffnungsvoll begonnene Karriere als Schauspielerin. Wie sie waren auch alle anderen bisher Genannten durch den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris aus der Bahn geworfen, zur Flucht, zum Untertauchen, wenn nicht zu Emigration (André Masson mit Familie) gezwungen.
Bataille hat sein Leben der Wissenschaft, dem Schreiben, zeitweise auch der Politik, vor allem aber den Frauen gewidmet. Bereits während des Zusammenlebens mit Sylvia Maklés und erst recht nach der Trennung hatte er ungezählte außereheliche Verhältnisse, die gewohnheitsmäßigen Bordellbesuche nicht gerechnet. Wichtig wurde unter anderen die Beziehung mit der 1903 geborenen Colette Peignot (“Laure”), die von 1934 bis zu deren tragischen Tod am 7. November 1938 dauerte. Auch Dora Maar, die später eine Zeitlang mit Picasso lebte, gehört zum Kreise seiner damaligen Geliebten. 1951 heiratete Bataille Diane Kotchoubey de Beauharnals, die er seit 1943 kannte und mit der er seit 1945 zusammenlebte. Deren erster Ehemann hatte nach langem Kampf die Waffen gestreckt und die Scheidung zugelassen. Aus dieser Ehe, die bis zu Bataille’s Tod am 9. Juli 1962 dauerte, stammt eine 1951 geborene Tochter Julie.
George Bataille war mit vielen oder gar den meisten französischen Künstlern, Philosophen und Schriftstellern seiner Zeit und insbesondere mit den sogenannten “Surrealisten” bekannt und befreundet oder verfeindet. Eine sehr heftigen Kontroverse mit Breton überdauerte die Beziehung auch zu ihm. Mit Sartre hatte er heftige Auseinandersetzungen. Walter Benjamin vertraute ihm, ehe er den gescheiterten Fluchtversuch nach Spanien unternahm, seine Aufzeichnungen (“Passagen-Werk”) an. Seine engsten Freunde waren über Jahrzehnte Michel Leiris und André Masson. Am Ende war er krank und einsam. Sylvia Maklés, seiner ersten Frau, ist es zu verdanken, daß 1961 die damals junge Journalistin Madelaine Chapsal den zu jener Zeit fast vergessenen Mann in Orléans aufsuchte und in der Serie ihrer viel beachteten Interviews (jetzt in “Französische Schriftsteller intim”, München 1998) liebevoll und verständig portraitierte.
Bataille, der mit gewissen Unterbrechungen im Staatsdienst als Bibliothekar beschäftigt war, kam mit seinem Gehalt nicht aus und war zeitlebens in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Bei jedem Buche hoffte er auf einen Erfolg und wurde jedesmal enttäuscht. Seine Frühschriften erschienen unter verschiedenen Pseudonymen. Manches erschien erst Jahre oder gar Jahrzehnte nach der Entstehung. Der bereits 1935 entstandene Roman Le bleu du ciel wurde erst 1957 publiziert. Auch er wurde zunächst kaum beachtet. Im März 1961 erbrachte eine Auktion von Kunstwerken, die für ihn gespendet waren, eine Summe, die den Ankauf einer Eigentumswohnung im Haus Nr. 25 Rue Saint-Sulpice in Paris ermöglichte. Als er sie am 1. März 1962 beziehen konnte, hatte er noch 18 Wochen zu leben.
Seine Frühschriften sind Erzählungen, von denen “Die Geschichte des Auges” die berühmteste ist. Sie sind vor und nach dem dreißigsten Jahr in Phasen äußerster seelischer Krisen geschrieben. Es sind diejenigen, die in Deutschland seit 1972 in einem Taschenbuch als “Das obszöne Werk” (OW) bekannt wurden. Seine übrigen Romane wie auch die theoretischen Schriften wurden erst viel später ins Deutsche übersetzt oder werden erst jetzt nach und nach vom Verlag Matthes und Seitz in kritischen Ausgaben herausgebracht. In Frankreich erschienen seine Oeuvres Complètes (OC) seit 1970 in 10 Bänden bei Gallimard. Die derzeit aktuellste und auch umfangreichste französische Biographie ist die von Michel Surya (Paris: Gallimard 1992), der 1997 ebenfalls bei Gallimard auch einen Band “Georges Bataille. Choix de lettres 1917 – 1962” herausgab. Durch das bereits erwähnte, chronologisch aufgebaute dreibändige Werk “Tanatographie” von Bernd Mattheus, das seinen Schwerpunkt in der Beschreibung und Analyse der Werke hat (die jeweils im Jahre ihrer Entstehung und/oder ihres Erscheinens behandelt werden) und durch die Neuübersetzung seiner Schriften durch Gerd Bergfleth ist Batailles Denken bei uns auch ohne Französischkenntnisse nach und nach einigermaßen zugänglich geworden. Trotz aller Vermittlungsbemühungen ins Deutsche bleiben Bataille’s Texte oftmals unübersetzbar und sind in anderer als der Ursprungssprache nicht verstehbar. Das gilt insbesondere dort, wo er Gedanken aus der Klangähnlichkeit von Wörtern entwickelt.
Bataille beschäftigte sich in einigen Texten mit Grenzerfahrungen, die durch die “unteren”,”hinteren” Körperzonen (“derrière) vermittelt sind. Der 1927 entstandene, 1931 publizierte Text “L’anus solaire” zeigt bereits im Titel, daß es um Analogieen, Entsprechungen und Relationen von Körper und Kosmos geht, also um Grenzerfahrungen, letzte Dinge, Leben und Tod. Georges Bataille ist zuallererst und durchgehend bis zum Alterswerk derjenige, der Jahrzehnte vor der Erschaffung von Idealfrauen wie Brigitte Bardot die mystische Bedeutung und transzendentale Ausstrahlung des weiblichen Hinterteils zum Thema machte. Er sei der “Fetischist des Auges und Hinterns”, schreibt (Band I S. 189) Mattheus mit Bezug auf den Verfasser der “Geschichte des Auges”, und durchweg “rangiert die Analität vor der Genitalität” (I 123). Der Satz “Die Spalte ihres Hintern erleuchtete den Raum”, mit dem eine Szene von “Le Mort” (“Der Tote”, OW 191 ff, 198) schließt, macht klar, daß es dabei um Leben und Tod geht.
In Bataille’s Denken spielt das Begriffspaar Kontinuität/Diskontinuität eine entscheidende Rolle. Es organisiert auch den Gedankengang des berühmten Vortrages “Die Erotik und die Faszination des Todes” vom 12. Februar 1957, deren ausgearbeitete Form das Einleitungskapitel des Buches “L’erotism” (in deutsch früher “Der heilige Eros”, jetzt “Die Erotik”, München: Matthes und Seitz 1994) bildet. Erotik und Zeugung ereignen sich in der Entgrenzung, in den Übergängen von der Kontinuität zur Diskontinuität. Im Medium der Körperlichkeit kommen prinzipiell alle Körperöffnungen als Erfahrungszonen der Entgrenzung in Betracht. Gewöhnlich werden die des Verdauungstraktes bevorzugt, und von diesen sind wieder die Orte der Entleerung, die “unteren” Regionen, die Gesäßspalte (und was sie verbirgt), die sich anschließende Urinier- und Gebärspalte und der Penis privilegierte Erfahrungsräume von Entäußerung und Entgrenzung. Unter diesen Favoriten ist dank des Vorrangs der Analität vor der Genitalität die Gesäßspalte (und was sie verbirgt) nochmals privilegiert…
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L’Alleluia. Catechisme de Dianus (OC V 393-417 mit Anmerkungen S. 572-579, S. 572 auch zu Editionsgeschichte und den Varianten) ist einer der gedankenreichsten Texte, die ich von ihm kenne. Die eindringliche Sprache erotischer Bilder und Suggestionen bildet mit der spröden Sprache seiner philosophischen und kosmologischen Systeme eine höchst verwirrende Mischung. Ob hier vielleicht Techniken der Überladung und der Apposition von Gegensätzen bewußt und gezielt zur Herstellung tranceähnlicher Verwirrungszustände eingesetzt wurden? Die Vorstellung, eine leibhaftig gegenwärtige und nochzu junge weibliche Person habe sich derartige Ausführungen auch nur drei Minuten, geschweige denn bis zum Ende anhören müssen, erzeugt Alpträume. Auch als fiktives Gespräch mit der imaginierten, phantasierten Gegenwart der angesprochenen Schönen ist es noch absurd genug. Im Interview mit Madelaine Chapsal hat Bataille gesagt, der Text sei “eine Art Brief”, gerichtet an eine ihm bekannte Person. Der Text sei “anders als andere”, er sei im Grunde “ein ganz klein wenig ein Plädoyer für das Leben”. Der Text umfaßt 9 Fragmente, die in den Oeuvres Complètes 23 Druckseiten belegen. Die Varianten (OC V 572-579) aus verschiedenen Ausgaben und Handschriften zeigen, daß Bataille gerade an den gewagtesten Stellen ständig geändert hat. Der Gedankengang folgt einer Kreisbewegung, an deren Anfang und Ende der Wahn der “Süße des Fleisches”, der douceur de la chair steht. Er folgt damit auch den Lebensphasen mit den erst beglückenden, dann mehr und mehr enttäuschenden und schließlich wahnhaften Erfahrungen von douceur de la chair. Alle neun Fragmente sind Ansprachen an ein junges Mädchen, das der Sprecher auffordert und ermutigt, in Anknüpfung an frühkindliche Erfahrungen den Weg ihrer wiederentdeckten sinnlichen Möglichkeiten zu betreten und zum süßen bitteren Ende zu gehen, wobei sie die Weite des Himmels und des Alls erfahren und eventuell sogar Gott begegnen wird. Sie hat, sagt er gleich eingangs, keine andere Wahl. Wir haben nur die Möglichkeit des Unmöglichen. Nous n’avons de possibilité que l’impossible. Die Begierde ist immer Begierde des Begehrens (désir de désirer). Wo sie das Entblößen wagt, erwachsen Chancen der Befreiung von den Ansprüchen der Welt. Nacktsein bedeutet, sich über die Welt lustig zu machen (nous nous moquons du monde en nous mettant nus). Das Geheimnis des Lebens ist die Zerstörung all dessen, was uns den Geschmack am Leben zerstört hat. Le secret de vivre est sans doute la destruction ingénue de ce qui devait détruire en nous le gout de vivre. Im Anknüpfen an die Erfahrungen der “triumphierenden Kindheit” (l’enfance triomphant) findet das kleine Mädchen den Mut, den Rock zu heben und ihre Spalte zu zeigen (montrer sa fente, von der Variante S. 573).
Doch bereits das zweite, nur wenige Zeilen umfassende Fragment konfrontiert die Erfahrungen der Kindheit mit den Brechungen des Erwachsenenlebens. Das dritte Fragment enthält darum nochmals und am unverblümtesten die Aufforderung zur Masturbation. Das vierte malt die Zukunft als “temps du malheur”, auf die es sich vorzubereiten gilt. Das Wunschphantom (fantome du désir) ist notwendigerweise Täuschung und Lüge. Die Lust ist der Ort der Enttäuschung (la volupté est le lieu de la déception). Die Enttäuschung ist der Grund, ist die letzte Wahrheit des Lebens (La déception est le fond, elle est la dernière vérité de la vie). Im fünften Fragment spricht Bataille bereits von der immensité de la mort. Ausgangspunkt des sechsten Fragmentes ist das Nacktsein, das den Zugang zu einer unwirklichen Transparenz (transparence irréelle) eröffnet. In der weiteren Gedankenentwicklung dieses langen und besonders wichtigen Fragments spielen verschiedene auf einander bezogene Begriffs- und Vorstellungspaare eine Rolle, deren gemeinsamer Nenner das Differenzschema Kontinuität/Diskontinuität ist, in dem auch das Zeugungsgeschehen niederer wie höherer Lebewesen untergebracht werden kann. Aus der Klangähnlichkeit von la nudité und la nuit einerseits und dem Begriffspaar Leere (le vide) und Fülle (la plénitude) andererseits erwächst das suggestive Bild der Paarung als antizipierte gemeinsame Todeserfahrung. Die Liebenden geben sich wechselseitig ihre Nacktheit (les deux amants se donnent…leur nudité). Die Liebe ist Todesnostalgie (l’amour est la nostalgie de la mort). Die Liebe überwindet und überschreitet die Grenzen zwischen den zwei beteiligten Körpern, die Orgie die zwischen diesen und den Körpern aller anderen anwesenden und abwesenden Lebewesen und sogar die des Todes, in den sie hineinführt. Das kurze siebte Fragment handelt von der Freundschaft, in der das wieder zu sich gekommene Paar – allerdings nur um den Preis der Negation der Liebe – schließlich seine Stabilität finden kann (le couple finalement devenant stable est la négation de l’amour).
Im vorletzten Kapitel kommt der fiktive Ratgeber des Textes auf sich selbst zu sprechen. Die ihr, dem Mädchen, gewiesenen Wege habe er selbst beschritten. Angst und Begehren seien dasselbe. L’angoisse est la meme chose que le désir. Er habe sich eingeschlossen in seiner Angst, um sich umso besser im “Riß” der Mädchen “zerreißen” zu können. Je m’enfermais dans mon angoisse. Pour mieux me déchirer aux déchirures des filles. Unter Alkoholeinfluß erlebe er angesichts der nackten Hinterteile der von ihm bezahlten Mädchen Visionen, die seither sein Leben bestimmten. “Der Hintern der Mädchen erschien mir endlich umgeben von einem Hof gespenstischen Lichts: ich lebte vor diesem Licht. Le derrière des filles apparaissait pour finir entouré d’un halo de lueur spectrale: je vivais devant cette lueur. Im Wissen, daß es die Grenzen seiner Kräfte überschreitet und er sich zerstört, sucht er gleichwohl in der Hinternspalte la lontaine extrémité des possibles (S.413) und lebt von nun an “nur noch dieses tückischen weißen Glanzes wegen” (Übersetzung Mattheus I S. 282). Die OC V S. 578 mitgeteilten Textvarianten sind bisweilen noch deutlicher, einige auch schöner. Je ne vivais plus dès lors qu’en raison de ces blancheurs sournoises ; je vivais en raison de sa lumière…A chercher dans la fente d’un derriere la lontaine extrémité de tout le possible, j’avais conscience d’aller plus loin qu’on ne peut le faire avec le souci d’etre pur. Das neunte Fragment ist eine Art versöhnlicher Ausklang, in der Bataille den Fluchtweg in wahnhafte Lieblingsvorstellungen von der Rettung der Edlen und vom Sichwiederfinden im Jenseits andeutet. Ausgangspunkt ist auch hier ein Bild der jetzt ins Religiöse gesteigerten douceur de la chair: “Dein Hintern ist der Mund eines Gottes, der mir eine diabolische Traurigkeit eingibt.” Ton derrière est la bouche d’un dieu, qui m’inspire une tristesse diabolique.
Eine ähnliche Vision hat der Maler, Zeichner, und “Puppen”-Bildner Hans Bellmer (1902-1975) beschrieben. Er war Batailles Freund und Illustrator und hat auch zu der “Geschichte des Auges” (Ausgabe “Sevilla 1940”, in Wahrheit Paris 1944) eindrucksvolle kongeniale Zeichnungen beigesteuert. In seinem Text “Die Puppe” von 1933/34 referiert er Erfahrungen seines Gewährsmannes Joe Bousquet (1897-1950) folgendermaßen: “Sie (ein Mädchen) hatte ihm (Bousquet) gestattet, sie obszön zu photographieren. Durch die Betrachtung der Bilder und den Genuß einer zu starken Dosis Kokain beginnen die Gesäßrundungen in seiner Einbildung zu dominieren und überlagern sich halluzinatorisch dem himmlischen Antlitz, bis zur Ähnlichkeit mit dem flüchtigen Mienenspiel, mit dem blinden Lächeln der zwei riesigen gewölbten Augen dieses Gesichts, die sich wie zwei Halbkugeln über dem Rektum öffnen”. Der Hintern ist also ein Gesicht, das hinsichtlich seiner Ausstrahlung mit dem des Kopfes, dem es sich auch überlagern kann, konkurriert. Doch die “Vision” geht noch weiter. “Das Verlangen zielt ausschließlich nach ihm (dem Rektum) hin, indem es das männliche Ich mit dem weiblichen Du vertauscht, um das Ich im Du zu päderastieren”. Das ist einer der ehrlichsten Aussagen, die man je zu hören bekam. Das Rektum also ist der Ort, in dem die Strebungen des Ich zum Du zur (auch transsexuellen) Selbstbegegnung transzendieren und wo mit den Grenzen von Ich und Du auch die von männlich und weiblich entfallen. Die einst geheimen, inzwischen veröffentlichten Tagebücher von Joe Bousquet zeigen, wie dieser in immer neuen Anläufen ähnliche Visionen gesucht und gefunden hat. Er selbst hat freilich (wie er auch wußte und in Briefen an Bellmer beklagte) keine von ihnen mit der Eindringlichkeit der Worte Hans Bellmers beschreiben können.
“Diese Vision”, schreibt Bellmer, “des zum Gesicht gewordenen Gesäßes wiederholt sich, um dann absichtlich heraufbeschworen zu werden. Sie ist männlichen Vorzeichens (die Augen, die Gesäßbacken: die Hoden) und stellt sich neben die andere Vision, die Extrovertierung – Simulierung des Vaginalen – die..sich unter denselben Bedingungen vollzog.” In diesen beiden Visionen sind, wie Bellmer abschließend formuliert “das Männliche und das Weibliche vertauschbare Bilder geworden”.
Hans Bellmer und sein Gewährsmann Joe Bousquet haben damit also auch den Zusammenhang mit jener anderen “Vertauschung” erkannt und erörtert, in welcher der Unterschied zwischen Innenraum und dem, was ihn ausfüllte, aufgehoben wird. Bei dieser Vertauschung verwandelt sich die Vagina vom potentiellen Aufenthaltsort eines Penis zu dem, was sich darin potentiell aufhält (“Simulierung des Vaginalen”, “Extrovertierung”). Umgekehrt wird der Penis durch “Introvertierung” zu seinem eigenen Futteral. Er verwandelt sich von einer Extremität zu dem Hohlraum, in dem er sich eben noch befand. Marcel Duchamp (1887-1968) hat in einigen seiner erotischen Objekte (insbesondere Objet-Dard von 1951) mit solchen dreidimensionalen Umkehrungstechniken experimentiert und dabei auch das, was hinter einer Körperöffnung (bei Objet-Dard wohl eher der anus als die Scheide) innerhalb des Körpers sich befindet, als ein nach außen verlagertes Gebilde mit entsprechender Ausdehnung gestaltet, und lange vor ihm hat kein geringerer als Leonardo da Vinci in “anatomischen” Zeichnungen der Vagina diese als Hohlraum in Form und Ausmaß eines Penis präsentiert. Das sind natürlich unrealistische Vorstellungen. Auch im Körperinnern regiert der horror vacui. In Wirklichkeit sind Vagina und Enddarm elastische Behältnisse, die sich nach ihrer Entleerung wieder verengen und als Hohlräume allenfalls kurzfristig existieren. Der ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi (1873-1933) hat für die Ontogenese und Phylogenese Parallelentwicklungen in der Ausbildung der im Endergebnis diversifizierten Geschlechtsorgane unterstellt und die Vorstellung entwickelt, Penis und Vagina seien ein-und-dasselbe, hier nach innen, dort nach außen gewendete Organ. Auch hier ist offenbar die von Herbert Molderings (S. 63) für Duchamp angenommene “Leugnung der Gegensätze, die Aufhebung der einseitigen Determiniertheit, der Wunsch nach Unmöglichkeit der Unterscheidung von links und rechts, innen und außen, hohl und voll usw” im Spiele. In der Tat bedeutet Entgrenzung immer auch Überwindung der zwischen den Geschlechtern bestehenden Unterschiede und Grenzen. Der erste und letzter aller Wünsche ist der Wunsch der Aufhebung und Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit.
[…]
[Erörtert werden in den hier weggelassenen Abschnitten die berühmte Erzählung ‚L’histoire de l’oeil’ („Geschichte des Auges“), das Romanfragment ‚L’Abbé C.’ und der hermetische Text ‚L’anus solaire’.]
In dem postumen, erstmals im zweiten Band (Ècrits posthume 1922-1940) der Oeuvres Complètes publizierte Text ‚Dossier de l’oeil Pinéal’ entwickelt Bataille eine seiner verwirrendsten Vorstellungen, nämlich die von dem Schädelauge, das den Menschen von den Begrenzungen des Sehens und Lebens in der horizentalen Achse befreit und ihn befähigt, die mit seiner Aufrichtung, die ja ein Vorstoß ins Vertikale ist, begonnene Entwicklung zu Ende zu gehen und dem Adler gleich direkt ins Sonnenlicht zu sehen. Die Vorstellungen gingen, schreibt er einleitend, auf das Jahr 1927 zurück, als er L’anus solaire geschrieben habe, und es wird außer dem uns bekannten “Jesuv” auch gleich der rätselhafte Satz jenes Textes angeführt. “Der intakte After….dem nichts gleicht außer der Sonne, obwohl der After die Nacht sei” (L’anus solaire est l’anus intact de son corps, auquel rien…de peut être conparé à l’exception du soleil, bien que l’anus soit la nuit.) Im weiteren Verlauf geht es immer wieder um die Folgewirkungen der Aufrichtung vom Vierfüßler zum homo erectus. Viele Tierarten können ihren After mit ihrem Schwanz bedecken. Dieser ist den Hominiden abhanden gekommen und der After damit besonders exponiert. Jedes Kind hat in den zoologischen Gärten das eine oder andere Mal “diese schamlosen Vorsprünge…mit leuchtenden…Farben” mit einer Mischung von Bewunderung und Entsetzen angeschaut. Mit dem Farbenspiel der nicht mehr schwanzgeschützten Aftervorsprünge einiger Affenarten sei der Gipfel der analen Obszönität erreicht. Diese Entwicklung sei beim homo erectus mit der Aufrichtung in ihr Gegenteil umgeschlagen. “Der menschliche After ist tief in das Innere des Fleisches, in die Gesäßfalte, zurückgegangen und bildet nur noch beim Niederhocken und beim Ausscheiden einen Vorsprung.” Der herausgekehrte Aftervorsprung ist jetzt zum Mittelpunkt des engen Ganges zwischen den Gesäßhälften geworden. Der Mensch ist das Tier, das sich aufrichtet. Aber nicht in der Aufrichtung also solcher liegt der Anfang des Weges zum Menschen, sondern in der daraus resultierenden Umkehrung der Charakteristika der Analöffnung, die zuvor herausgestreckt und zur Schau gestellt war und jetzt zurückgezogenen und in der Spalte verborgenen ist. Das ist die entscheidende Umwälzung von der tierischen zur menschlichen Existenz. Der Mensch ist das Tier, das seine Analöffnung unsichtbar und zum Geheimnis macht. Menschliche Gesellschaften sind allesamt um dieses Geheimnis herum organisiert und lassen sich nach den Arten, wie mit dem zentralen Geheimnis umgegangen wird, klassifizieren. “Denn gerade die Aspekte unserer Lust, die wir am wenigstens eingestehen können, binden uns am stärksten” (OW S. 114). Car les aspects les plus inavouables de nos plaisirs nous lient le plus solidement (OC IV 218). In jeder Gesellschaft ist das Lüften des Analgeheimnisses der höchste Liebes- und Vertrauensbeweis, dessen die Menschen fähig sind. Auch dort, wo es nie oder fast nie gelüftet wird, steht es im Mittelpunkt aller Interessen.
[…]
[Die folgenden knappen Ausführungen zu dem 1954-1955 entstandenen, 1966 erstmals publizierten Roman ‚Ma mère’ (OW 81-169; OC IV 176-279) bilden den Schluß des Textes]
.Im Zentrum des Geschehen von Bataille’s Roman ‚La mère’ steht die Liebe einer kürzlich verwitweten 30jahrigen exzentrischen Frau zu ihrem 17jährigen hochbegabten, aber entwicklungsgestörten Sohn Pierre. Pierre entstammt einer von der damals dreizehnjährigen Mutter provozierten Vergewaltigung, bei der der Vater zwanzig war. Er hatte das Mädchen, das ihm nachlief, bei einer von deren ausgedehnten Selbstbefriedigungsritualen bereits halbwahnsinnig angetroffen und war so in die prekäre Situation hineingeraten. Nachdem Pierre geboren war, hatte er das Mädchen heiraten müssen, ohne aber jemals in den Genuß der ehelichen Rechte zu kommen. Er nahm aber an Orgien teil, die die Mutter für sich und ihn organisierte, auf deren Höhepunkt sich der Vater von der Mutter schlagen ließ. Ihrem Sohn redet sie ein, er stamme gar nicht von jenem Manne und auch von keinem anderen, sondern sei das Produkt stundenlanger Selbstbefriedigung.
Pierre, der wie einst seine Mutter ausschweifend masturbiert, aber mit 18 noch keine Freundin hat, trifft in Gesellschaft seiner Mutter mit deren damals besten Freundin Rea zusammen und wird während einer gemeinsamen Kutschfahrt in die unanständigen Berührungen der beiden Frauen als Zeuge und zögernder Teilnehmer einbezogen. Während eines Essens zu dritt in einem gut besetzten Restaurant macht Rea dem Jungen einen “obszönen Vorschlag” (proposition obscène), dessen Inhalt dem Leser einstweilen vorenthalten wird. Nachdem Rea der Mutter zugeflüstert hat, worum es geht, werden die drei von einem Lachzwang ergriffen, von dem sich schließlich auch die anderen Gäste anstecken lassen. Wie die Leser könne auch die Gäste über den Anlaß des Gelächters nur spekulieren. Rea widerholt ihren Vorschlag “in den verschiedensten Wendungen”, die allesamt Geheimnis der Beteiligten bleiben. Man erfährt aber immerhin, daß Pierre sich Phantasien hingibt, wie es sein wird, wenn das ersehnte vorgeschlagene Ereignis endlich stattfindet und daß er dabei immer wieder die Worte “Reas Hintern” wiederholt, den Rea ihm in ordinärer Sprache angeboten habe. So werden also schrittweise Teile des Geheimnisses nun auch dem Leser zur Kenntnis gebracht. Was genau der Vorschlag Reas war und wie sie ihn formulierte, bleibt weiterhin Geheimnis. Zur Verwirklichung des Vorschlages wird es übrigens nie kommen. Doch bei Pierre setzen sich die von ihr gebrauchten ordinären Worte fest, die er sich immer wieder genüßlich vorspricht. Er hat erkannt, daß es um Leben und Tod geht, und er assoziiert den obszönen Vorschlag mit seinem Todesverlangen.
[…]
Der mit Reas Vorschlag zur Geltung gebrachte Primat des Analen versperrt den Weg zum Genitalen. In Pierre verselbständigt sich das “Begehren nach dem abscheulichen, lächerlichen Kuß” (désir du hideux, du risible baiser). Es verwächst mehr und mehr mit dem Begehren nach der Mutter. Die Vorstellung, es der Mutter gleichzutun und bei Rea dahin zu gelangen, wo die Mutter längst angekommen ist, beseelt ihn. Er habe den Entschluß gefaßt, den Vorschlag Reas anzunehmen, läßt er die Mutter wissen. Im Glück der Komplizenschaft, der Vorstellung gleichartiger Annäherungen an den gleichen Zielort erleben Sohn und Mutter Augenblicke der bisher größten Nähe. Zur äußersten Annäherung kommt es jedoch nicht, da die Mutter im Moment der letzten Hingabe es vorzieht, sich den Tod zu geben (sich dem Tod zu geben). Rea fand nicht die Kraft, um bis ans Ende ihres “lächerlichen Opfers” zu gehen. Rea ne put aller au bout de ce risible sacrifice. Sie hat die Phantansie der namenlosen Obszönität (obscénité sans nom) mit ins Kloster genommen, in das sie bald danach eintrat. Die Aufgabe, Pierre sexuell zu initiieren, fällt Reas Komplizin Hansi zu, die ihrerseits im Auftrag der Mutter tätig wird. Mit dem Selbstmord der Mutter findet auch die Beziehung zwischen Pierre und Hansi ein Ende.
Den genaueren Inhalt der Zauberworte, die auf Pierre eine derart verheerende Wirkung ausübten, soll der Leser also nie erfahren. Sie finden sich nur als eine Art Notiz auf einem Manuskriptblatt und werden im kritischen Apparat der postumen Gesamtausgabe (aber auch nur dort) endlich verraten und lauten: Tu couleras ta langue dans le trou de mon cul.
Mit der fast aufdringlich häufigen Erwähnung eines nicht näher präzisierten obszönen Vorschlages, der bei Pierre ein Begehren nach der „namenlosen Obszönität“ erweckt, wird eine Einheit von Form und Inhalt hergestellt, die in Batailles Erzählwerk einzigartig ist. Das Geheimnis, daß beim homo erectus den trou du cul umwittert, ist in dem Ma mère-Text nicht nur inhaltlich, sondern auch unter formalen Gesichtspunkten dominant. Die Erzählung ist auch von der Formseite her eine Art Striptease. Mit der Erwähnung von “Reas Hintern” wird Neugierde geweckt und werden Phantasieen zur Entstehung gebracht, aber das Geheimnis bleibt gewahrt. In der Art und Weise, wie Neugierde an Informationen geweckt und durch das Vorenthalten dieser Informationen gesteigert und schließlich frustriert wird, ist der Inhalt dss Erzählten auf der Formebene noch einmal ausgearbeitet und abgebildet. Das Geheimnis der Hinternspalte hat sich quasi verdoppelt. Im Vorgang des Erzählens (in der Art der Informationsvermittlung durch den Erzähler) ist das zentrale Thema der Erzählung (“Hintern” und was er verbirgt) seinem Doppelgänger begegnet. Auf beiden Ebenen wird das Geheimnis nie gelüftet. Was der genauere Inhalt des obszönen Vorschlages war, bleibt für den Leser ebenso ein ungelüftetes Geheimnis, wie Reas trou de cul es für Pierre geblieben ist. Das Geheimnis des obszönen Vorschlages entspricht sowohl auf der Form- wie auf der Inhaltsebene genau dem, was der homo erectus in seiner Hinternspalte als trou du cul verbirgt, der weder auf dieser noch auf jener Ebene wirklich erreichbar sein wird, sondern nur angeboten wird, um ein Begehren zu wecken, dessen Befriedigung verweigert werden wird. Einmal gewährt, könnte sie das Leben kosten:
je bois dans ta déchirure
j’etale tes jambes nues
je les ouvre comme un livre
ou je lis ce qui me tue.
Ergänzende Literaturangaben:
Sue Taylor, Hans Bellmer. The Anatomy of Anxiety, Cambridge Mass: MIT 2000 (enthält zu dem hier Ausgeführten nichts).
Joe Bousquet, Le cahier noir, Paris: Albin Michel 1989, Taschenbuch 1997.
Michel Leiris, “Konzeption und Realität bei Raymond Roussel”, in: Hanns Grössel (Hrsg.) Raymond Roussel. Eine Dokumentation, München 1979 (oben zitierte Stelle dort S. 15).
Herbert Molderings, Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, 3. Aufl., Düsseldorf: Richter 1997.