Hartz-IV-Sanktionen in Karlsruhe auf dem Prüfstand: Verfassungs- und völkerrechtswidrig
Von Christina Müller
https://www.jungewelt.de/2017/02-28/093.php Junge Welt, 27.2.2017
Der Sozialverein Tacheles hat in einer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Hartz-IV-Sanktionen scharf kritisiert. Die Kürzungen des Existenzminimums verstießen gegen das Grundgesetz, die Behindertenkonvention, die Sozialcharta der Europäischen Union (EU) und das Völkerrecht. Dies habe Tacheles auf 79 Seiten anhand von Beispielen dargelegt, informierte Vorstandsmitglied Harald Thomé am Montag. Das Papier will der Verein in der kommenden Woche auf seiner Internetseite veröffentlichen.
Tacheles berät seit vielen Jahren erwerbslose und aufstockende Bezieher von Hartz IV und Sozialhilfe. Die Karlsruher Richter hatten den Wuppertaler Verein für ein aktuell laufendes Verfahren als sachverständigen Dritten bestellt. Stellung beziehen sollte er zu einem Vorlagebeschluss, mit dem sich das Sozialgericht Gotha vergangenes Jahr an das BVerfG gewandt hatte. Die Thüringer Sozialrichter bezeichnen darin Sanktionen ebenfalls als verfassungswidrig. Sie hebelten die Menschenwürde, das Sozialstaatsgebot, das Verbot der Zwangsarbeit sowie die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl aus.
Es handelt sich bereits um den zweiten Anlauf des Sozialgerichts in der Sache. Einen ersten Vorlagebeschluss der Kammer hatten die Verfassungsrichter ein Jahr nach dem Einreichen im Mai 2016 aus formellen Gründen abgewiesen. In Gotha sei nicht genügend geprüft worden, ob das Jobcenter den Kläger im zugrundeliegenden Streitfall vorab hinreichend über die drohenden Rechtsfolgen, also die Sanktionen, informiert hatte.
Der Kläger hatte 2014 ein Arbeitsangebot des Jobcenters abgelehnt. Daraufhin kürzte ihm die Behörde den Regelsatz für drei Monate um 30 Prozent. Er musste monatlich mit 274 statt 391 Euro auskommen. Als er später ein zugewiesenes Praktikum nicht antreten wollte, reagierte das Jobcenter mit einer Kürzung für ein weiteres Vierteljahr um 60 Prozent auf 156 Euro. Diese zweite Sanktionsstufe tritt ein, wenn ein über 25jähriger Hartz-IV-Bezieher zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres gegen Auflagen verstößt. Eine dritte »Pflichtverletzung« hätte zur kompletten Streichung sämtlicher Leistungen geführt. Bei Jüngeren ab 15 Jahren dürfen Jobcenter bereits beim ersten Verstoß eine 100-Prozent-Sanktion verhängen.
»Die Garantie der Menschenwürde verlangt, das Existenzminimum in jedem Einzelfall sicherzustellen«, erklären die Sozialrichter in ihrem Beschluss. Sanktionen gegen Erwerbsfähige, die trotz vorhandenen Bedarfs bis zum kompletten Wegfall ihrer Leistungen führen können, stünden diesem Gebot entgegen. Die Richter zitieren dazu aus einem Urteil des BVerfG von 2010. Das physische und soziokulturelle Minimum sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse eingelöst werden, heißt es darin. Jobcenter berufen sich gerne auf Lebensmittelgutscheine als Ersatzleistung. Diese aber seien weder eine Pflichtleistung, noch deckten sie den vollständigen Bedarf, argumentiert Tacheles. Grundbedürfnisse wie Wohnen, Strom oder Mobilität könnten davon nicht bestritten werden. Ein Mindestmaß an gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe sei nicht möglich. Dies habe das BVerfG jedoch explizit gefordert. Wann es abschließend über die Sanktionen entscheiden wird und ob es zu einer mündlichen Verhandlung kommt, steht noch nicht fest, wie es von dort hieß.