Helmut Spehl über sich selbst
Helmut S. über Helmut S.
Nosce te ipsum – Erkenne dich selbst! Ich will mir Mühe geben obwohl ich weiß, daß es nicht gelingen wird. Wer kennt sich denn noch selbst, wenn andere ihn erkannt haben? Wir Menschen sind nichts anderes als Truggestalten, großgezogen zu schemenhaften Zwecken, und seit die großen Medien das Sagen haben, bloß noch flüchtige Schattenbilder aus ihrer Camera obscura. Wer öffentlich von sich reden gemacht hat, wird vom Obskurantismus verfolgt auf Schritt und Tritt.
Vor 25 Jahren hat mich mal ein protestantischer, linksgerichteter Theologieprofessor in flagranti ertappt. Ich hatte ihm, Anfang Juni 1978, zwei Exemplare des soeben frisch aus der Druckerei gekommenen «Behemoth» geschickt, und er hat eines davon weitergegeben. Ich muß dazu sagen, daß wir Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in durchaus freundlichem Briefkontakt über die «Briefe vom Anderen Israel» standen. Diesmal schwieg er. Ende November fragte ich ihn, ganz formlos hingekritzelt auf einen Zettel: “Was habe ich falsch gemacht?” Fünf Tage später kam eine verblüffende Antwort: “Sie haben nichts falsch gemacht! Von H. Gollwitzer hörte ich, daß Sie selbst Jude sind. Das wußte ich nicht…” Also bitte, ich wußte es auch nicht. Aber ich wußte offenbar schon damals, wie man solche Metastasen der Umerziehung behandelt. Am 5. Dezember habe ich auf folgende Weise dementiert: “Ich kann die Meinung von Professor Gollwitzer als schönstes Kompliment meines Lebens betrachten, das ich wohl der ehrwürdigen Vorstellung zu verdanken habe, daß nur die Beschneidung die Weite bringt, uneingeschränkt fir die Rechte des geschundenen palästinensischen Volkes einzutreten.”
Dreizehn Jahre später, im August 1991, habe ich in der Zeitung gelesen, daß ich ein Antisemit bin. Zugegeben, es kam nicht in der großen Presse, es war ein auflagenstarkes Regionalblatt, das es zuerst gedruckt hat, taz und konkret waren umgehend behilflich, und etliche Hinterhofblätter nahmen mein einigermaßen kompliziertes Deutsch auseinander und setzten es nach Gutdünken und Vermögen wieder zusammen. Seither bin ich ein Antisemit.
Kann ein Jude Antisemit sein? Nicht ich bin es, der so fragt, der Tel Aviver Korrespondent des Konstanzer Südkurier, Charles Landsmann, hat kürzlich diese Frage gestellt:
The small book of 132 pages was not published publicly in Germany for reasons which Mr. Spehl explains in the book and which are self-explanatory. Yet I think they should be published in English and French. They are the best which I read, especially for their historical and moral perspective. I asked Mr. Spehl to send you a copy. Perhaps you would be willing to write an introduction which would facilitate finding publishers…
Lassen wir das. Ausreden helfen nicht weiter, ein Antisemit gilt nichts in seinem Vaterland. Aber vielleicht darf ich noch sagen, daß auch einmal die Nagelprobe gemacht wurde (ein sehr guter israelischer Freund hat sie auf sehr verschlungenen Wegen gemacht), was israelische Geheimdienststellen von meinen Schriften halten. Mein Name sei dort bekannt, so stellte sich heraus, meine Publikationen in Deutschland seien registriert und als “sehr schädlich, aber ehrlich und frei von Verleumdungen” eingestuft worden.
Wer bin ich also? Man sieht, das ist leichter gefragt als gesagt. Ein paar Daten können freilich nicht in Zweifel gezogen werden. Ich werde in diesem Jahr 74 Jahre alt und die Zeichen mehren sich, daß mein Leben dem Ende entgegengeht. In diesem Alter sorgt man sich um seine Gesundheit und alles andere erscheint wie durch einen zunehmend dichten Nebelschleier. Es wird hier genügen wenn ich sage, daß ich Physik studiert habe, und daß ich nach meiner Promotion mit einem Stipendium der Stiftung Volkswagenwerk ein Jahr lang am Weizmann-Institut in Rehovoth gearbeitet habe. Während dieser Zeit bin ich zum ersten Mal dem weltweiten Problem Palästina begegnet. Meine Frau hat damals Hebräisch gelernt und hat später viele der hebräischen Texte übersetzt, die in meinen Schriften festgehalten sind. Was also heißt, daß ich viele Jahre lang tagsüber den Physikdozenten und den Physikprofessor gespielt und nachts mit Hilfe der hebräischen Tagespresse das Leid der Palästinenser aufgespürt habe. Man sollte meinen, sich auf die israelische Presse zu stützen sei die sicherste aller denkbaren Methoden, aber eines Tages hat man mir entgegengehalten: “Mit Auschwitz hat ein Deutscher das Recht verloren, die hebräische Presse zu zitieren.” Was soll man dazu noch sagen! Wenn das Palästinaproblem nur noch durch die Zensurbrille gesehen werden darf, beginnt man zu resignieren. Ich habe resigniert. Ich höre nicht mehr gut und mein Gedächtnis hat nachgelassen., aber ich bin immer noch unerschütterlich der Meinung, daß das weltweite Problem Palästina mit jedem Blick durch die Zensurbrille einem Atomkrieg ein bißchen näher kommt. Man wird da doch sehen.
Vor ein paar Wochen bekam ich einen Anruf aus Reykjavik. Elias D. möchte allen Ernstes die Verlagsrechte an meinen Schriften erwerben. Er möchte sie ins Englische und Französische übersetzen lassen. Er scheint sich viel davon zu versprechen. Ich weiß nicht so recht. Hans Wollschläger, der Übersetzer des Ulysses von James Joyce, hat mir vor langer Zeit einmal geschrieben: “Ich denke viel über das Wahre nach, das Sie sichtbar gemacht haben und das allgemein sichtbar wohl erst in hundert Jahren sein wird.” Die hundert Jahre sind noch nicht um. Wie auch immer – Elias D. hat nun die Verlagsrechte an meinen Palästinaschriften, ihre zweite Odyssee mag also beginnen.
Wer meine Schriften heute noch lesen mag, wird zumindest (und wahrscheinlich mit Erstaunen) feststellen, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt. Ich sagte es schon: im Zionismus wird schon lange mit gezinkten Karten gespielt. Auch mit den eigenen Leuten. Ich errichte immer nur Mauern um mich herum, wenn ich das sage, aber meine Umwelt fühlt sich hinter solchen Mauern so sicher, wie sich ein Israeli von der Sperrmauer beschützt glaubt, die seine Regierung rund um Israel zu errichten gedenkt. Mauern haben, wie Münzen, zwei Seiten. Wer davor steht, sieht nicht, was dahinter steckt. Nimm einen Juden aus dem Ghetto, mach ihn zum Zionisten, und er wird ein Ghetto errichten. Nimm einen Goi, mach ihn zum Anti-Rassisten, und er wird das Ghetto gutheißen.
Nihil novi sub sole.
H. S. Februar 2004
Kann ein Jude Antisemit sein? Die für nichtjüdische Ohren seltsam klingende Frage hat in diesen Tagen in Stockholm eine Antwort erhalten. Der israelische Botschafter in Schweden beschädigte eine provokante Einrichtung eines nach Schweden ausgewanderten israelischen Künstlers, weil dieser damit seiner Meinung nach den Terror feierte. Ariel Scharon lobte daraufhin den Botschafter für dessen Kampf gegen den Antisemitismus. Kein einziger Minister wagte in der Regierungssitzung Widerspruch. Was hat ein mißverständliches Werk über eine Selbstmordattentäterin mit Antisemitismus zu tun? Israels Minister für die Diaspora, Nathan Sharansky, gab nun die Antwort: “Alle Grenzen zwischen Antisemitismus und Anti-Israelismus sind weggewischt”. Wieder wagte niemand Widerspruch gegen diese These, mit der die Regierung Scharon vor allem ausländische Kritiker mundtot zu machen versucht – wie sie dies mit anderen Mitteln im eigenen Land mit Kritikern bereits längst praktiziert. Längst gelten im Lande ideologisch gefärbte Sprachregelungen. Wer zum Beispiel den Sperrwall-Bau kritisiert, ist Antisemit, weil er den jüdischen Einwohnern Israels das Recht auf Schutz vor Terror abspricht. Wer gegen den Siedlungsbau ist, hat eine antisemitische Gesinnung, denn er streitet den Juden das Menschenrecht auf freie Niederlassung in ihrem biblischen Land ab. Wer gegen die Drangsalierung der palästinensischen Zivilbevölkerung ist, tut dies aus Antisemitismus, denn er will den Schutz der Siedler verhindern. Wer sich gegen die Bombardierung von Wohnhäusern ausspricht, der ist Antisemit, weil er das Recht des jüdischen Staates auf Selbstverteidigung verneint… (Charles Landsmann: In einen Topf geworfen. SÜDKURIER, 7. Januar 2004).
Gemessen an dieser Philippika bin ich zweifellos ein Antisemit. Ich bekenne freimütig, daß ich alle diese oder ähnliche Antisemitismen auf dem Kerbholz habe. Man kann, zumindest privatim, glaubhaft dementieren, daß man Jude ist, aber man kann nicht glaubhaft dementieren, daß man Antisemit ist. Man muß damit leben, und ich kann der stetig wachsenden Zahl von Mitleidensgenossen zwischenzeitlich versichern, daß man damit leben kann. Beim ersten Mal, da tut’s noch weh, aber man kann damit leben. Jedenfalls besser als jeder Palästinenser, der in dritter Generation in einem Flüchtlingslager aufgewachsen ist, also sein Schicksal einer anderen zionistischen Spezialität verdankt, der ethnischen Säuberung. Wenn man sich jahrzehntelang damit befaßt hat, dann weiß man, daß im Zionismus schon lange mit gezinkten Karten gespielt wird. Im Lager der Linksdenker noch mehr als in dem der Rechtshänder. Anderswo in der Welt betrügt man genauso, aber niemand sonst kann es sich so anhaltend und so ungestraft leisten. Ach, diese Leute müssen sich geradezu ermutigt fühlen, ihre Trümpfe zu überreizen. Weiß Gott, sie werden es noch dahin bringen, daß das letal gemeinte Wort Antisemit zu einem Ehrentitel wird.
Wie wurstelt man sich durch als öffentlich bekanntgemachter Antisemit? Man sucht nach Ausreden. Ich bin gewiß ein scharfer Kritiker der zionistischen Praxis in Palästina, aber ich bin dabei in jüngeren Jahren so weit gegangen, wie wirkliche Antisemiten nie gehen würden. Ich habe der Meinung Ausdruck verliehen, es wäre besser und angemessener gewesen, wenn der jüdische Staat in Süddeutschland oder in Ostpreußen errichtet worden wäre. Wer’s nicht glaubt, kann das in einigen meiner Briefe an Dr. Lion Wagenaar nachlesen, die in dem Bändchen «Briefe vom Anderen Israel» enthalten sind. Daß es “besser” gewesen wäre, ließe sich heute insofern noch bekräftigen, als in Deutschland, ganz anders als in Palästina, niemals auch nur ein einziger Selbstmordattentäter von sich reden machen könnte. Man sagt, die Palästinenser seien verrucht und böse, während man ebensogut sagen könnte, sie sehen keinen Anlaß, so folgsam und unterwürfig zu sein wie die Deutschen.
Ich suche nach weiteren Ausreden. Dabei fallen mir die Zuschriften ein, die ich anläßlich der Publikation der «Briefe vom Anderen Israel» erhalten habe. Das Bändchen war ein Privatdruck, es war zunächst öffentlich nicht zugänglich und käuflich nicht erwerbbar. Ich habe wohl mehr als tausend Exemplare an ausgesuchte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt – an Politiker, Schriftsteller und Journalisten – und sie machten anscheinend, mir meist verborgen, die Runde. Ich halte hier einen Brief vom 3. August 1969 in den Händen, der von Philadelphia, mit Kopie an mich, nach London ging, ein Brief von Professor Hans Kohn an Professor Arnold J. Toynbee, den Autor von «A Study of History»:
Dear Arnold,
you know how much I agree with your point of view on Palestine and the moral issues for Judaism involved therein. This year a Dutch Jew L. Wagenaar who under the Nazi occupation spent two years in Auschwitz and then as a religious Jew emigrated to Palestine where he witnessed the rise and growth of Israel, has exchanged letters with a young German who grew up under the Nazi regime and spent a year in Israel. These letters have been published by the German participant in this correspondence, Dr. Helmut Spehl, as a manuscript under the title BRIEFE VOM ANDEREN ISRAEL. The book presents also Briefe vom anderen Deutschland, because though Mr. Spehl represents not as tiny a minority in Germany as Mr. Wagenaar does in Israel, the sincerity of his views is pretty rare in Germany too.