Hillarys Krieg
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29.02.2016 / Thema / Seite 12
Hillarys Krieg
Vorabdruck. Bei der Beseitigung des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi und bei der Zerstörung des Landes tat sich die damalige US-Außenministerin Clinton besonders hervor
Diana Johnstone
In diesen Tagen erscheint im Franfurter Westend Verlag die deutsche Übersetzung des Buchs »Queen of Chaos« der US-amerikanischen Publizistin Diana Johnstone. Aus dieser Abrechnung mit der ehemaligen US-Außenministerin und heutigen Anwärterin auf die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei, Hillary Clinton, veröffentlichen wir vorab und stark gekürzt das fünfte Kapitel, in dem es um Clintons Rolle im Libyen-Krieg geht. (jW)
Während sich 2014 im Nahen Osten und in der Ukraine wachsendes Chaos ausbreitete, charakterisierte ein sichtlich desorientierter US-Präsident Barak Obama seine vorsichtige Außenpolitik mit folgender Maxime: »Keine Dummheiten machen.« In einem Interview mit Jeffrey Goldberg in The Atlantic, erschienen am 10. August 2014, griff Hillary Clinton die Formulierung auf, um zu zeigen, dass sie aus härterem präsidentiellen Holz gemacht ist: »Große Nationen brauchen organisierende Prinzipien, und ›Keine Dummheiten machen‹ ist kein solches Prinzip.«
Sie erklärte allerdings nicht, was ihre organisierenden Prinzipien als Präsidentin sein würden. Aber bis jetzt ist eines ihrer Lieblingsprinzipien das »Recht« beziehungsweise die »Verantwortung« zu schützen gewesen, das im Englischen durch das griffige Kürzel »R2P« (Right to protect) bezeichnet wird. In der Realität hat sich dieses Prinzip als ein desorganisierendes Prinzip erwiesen, das in der angeblich zu »schützenden« Region zur Zerstörung jeglicher Ordnung eingesetzt wurde.
Nach dem Kosovo-Krieg hat Washington sich intensiv für R2P als neues UN-Prinzip stark gemacht, auf das man sich in jeder künftigen, der Kosovo-Krise ähnlichen Lage berufen kann, um eine perfekte Rechtfertigung dafür zu haben, das Prinzip der nationalen Souveränität zu unterminieren. R2P war auch das Prinzip hinter Hillarys ureigenem Krieg, nämlich dem Angriff auf Libyen 2011, der sich dann als eine der größten »Dummheiten« erwies, die je einem wehrlosen Land angetan wurden.
Vorwand für diesen Krieg war eine Reihe großer Protestdemonstrationen, die am 18. Dezember 2010 in Tunesien begannen und von den Medien »arabischer Frühling« getauft wurden. Diese Bezeichnung erwies sich als zu optimistisch, suggerierte sie doch, die gesamte Region schreite nun zu lichten, glücklichen und natürlich – im westlichen Sinn – demokratischen Zuständen voran. Die meisten Führer, die zu Zielen der Proteste des »Arabischen Frühlings« wurden, waren langjährige »Freunde« des Westens und US-Schützlinge. Das war für Washington, Paris und London peinlich.
Unruhen in Libyen
Aber es gab eine bemerkenswerte Ausnahme. Im Februar 2011 demonstrierten in der ostlibyschen Stadt Bengasi zahlreiche Menschen gegen den Führer Libyens, Muammar Ghaddafi. Bis 2011 hatte Ghaddafi immer wieder versucht, mit seinen Feinden Frieden zu schließen, und so konnte der Westen ihn eigentlich unmöglich länger als Bedrohung betrachten. Er machte Geschäfte mit den USA und Europa und empfing hochrangige Besucher von dort. Er hatte sogar heimlich Geld für den Wahlkampf des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gespendet. Muammar Ghaddafi war kein aktiver »Dämon« mehr, wurde aber immer noch als äußerst exzentrisch betrachtet.
Dann kam der Arabische Frühling. In Bengasi, dem Zentrum der traditionellen Unterstützung für den 1969 von Ghaddafi gestürzten König Idris und für islamische Radikale, hatte die Opposition gegen den Revolutionsführer tiefe Wurzeln. So wie dieser in seiner Heimatstadt Sirte verehrt wurde, war er in Bengasi verhasst. Die Anti-Ghaddafi Aktivisten nahmen sich die Geschehnisse in Tunesien und Ägypten zum Vorbild und veranstalteten am 17. Februar 2011 ihren eigenen »Tag des Zorns«.
Unruhen breiteten sich aus, ebenso wie extrem übertriebene oder völlig falsche Berichte über die Ereignisse. Libyen, das den höchsten Lebensstandard auf dem afrikanischen Kontinent genoss, litt weder unter den schweren ökonomischen Problemen, die einen jungen Tunesier zu der Selbstverbrennung getrieben hatten, die wiederum zum »arabischen Frühling« führte, noch unter der Massenarmut Ägyptens. Die Revolte in Bengasi hatte politische und religiöse Motive, die nicht neu waren.
So wie der Aufstand gegen Ghaddafi in Bengasi als Menschenrechtsfrage und als Versuch klassifiziert wurde, einen Diktator zu stoppen, »der sein eigenes Volk tötet«, wurden die politischen Konflikte im Inneren Libyens unsichtbar. Ghaddafis Befehle, die Rebellen müssten ihre Waffen niederlegen, wurden falsch als Drohung übersetzt, die ganze Bevölkerung Bengasis auszurotten und als Anzeichen eines bevorstehenden Völkermords denunziert. In Wirklichkeit hatte Ghaddafi allen Rebellen, die ihre Waffen niederlegten, eine Amnestie und die Möglichkeit angeboten, sich nach Ägypten zurückzuziehen.
Wesentlich später erklärte Amnesty International, bei den Kämpfen mit bewaffneten Rebellen in Bengasi seien auf allen Seiten nicht mehr als 110 Menschen getötet worden – also wesentlich weniger etwa als bei den Protesten in Kairo. Doch zur fraglichen Zeit selbst basierte die vorherrschende Version der Ereignisse auf den emotionalen Behauptungen, die der Generalsekretär der Libyan League for Human Rights (LLHR), Sliman Bouchuiguir, während einer Versammlung prowestlicher NGOs am 21. Februar in Genf gemacht hatte.
Danach wurde ein Brief, der die völlig unbewiesenen Behauptungen Bouchuiguirs, eines Experten für Ölpolitik mit engen US-Kontakten, als »Fakten« bezeichnete, von siebzig NGOs unterzeichnet und an US-Präsident Obama, an die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und an UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon geschickt, um sie zu einem Vorgehen gegen Libyen aufzufordern. Der Brief rief die UN und die »internationale Gemeinschaft« dazu auf, »sofort zu handeln, um die massenhaften Greuel zu beenden, die die libysche Regierung derzeit gegen ihr eigenes Volk begeht«. Ohne Beweise zu verlangen, stellten sich die NGOs hinter die von Bouchuiguir gelieferten Behauptungen »nichtgenannter Zeugen«, laut denen »eine Mischung von Spezialkommandos, fremden Söldnern und Loyalisten des Regimes Demonstranten mit Messern, Sturmgewehren und Waffen schweren Kalibers angegriffen hat«.
»Ghaddafi muss gehen«
Hillary Clinton trat eifrig für den Einsatz des US-Militärs zur Unterstützung eines Aufstandes ein. Am 24. März 2011 erklärte sie: »Als das libysche Volk seine demokratischen Hoffnungen verwirklichen wollte, reagierte seine eigene Regierung mit extremer Gewalt.«
Als sie drei Tage später in der Sendung »Meet the Press« nach den Bombenangriffen von NATO-Staaten auf Libyen, die am 19. März begonnen hatten, gefragt wurde, antwortete sie: »Seien wir fair. Sie haben uns nicht angegriffen, aber angesichts ihres Vorgehens und Ghaddafis Geschichte und des Potentials von Unruhe und Instabilität war das eindeutig in unserem Interesse […] und wurde von unseren europäischen Freunden und unseren arabischen Partnern als äußerst vital für ihre Interessen betrachtet.«
In einem Interview, das er vier Monate später mit dem unabhängigen investigativen Journalisten Julien Teil führte, gab Bouchuiguir – inzwischen neuer Botschafter Libyens in der Schweiz – zu, es habe nie Beweise für die Anklagen gegeben, die er in Genf erhoben hatte. Als Teil ihn nochmals danach fragte, antwortete Bouchuiguir erneut: »Es gab keine Beweise.« Das schien ihm keineswegs peinlich zu sein, vielleicht, weil er sich auf seine Beziehungen verlassen konnte. Wichtig war nur, dass die Beschuldigungen als Basis dienten, die offiziellen Vertreter der Libysch-Arabischen Dschamahirija aus den Körperschaften der UN auszuschließen und Libyen zu sanktionieren, ohne dass es Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. In etlichen westlichen Ländern wurden die libyschen Botschaften geschlossen. Und als die libysche Regierung dem Exaußenminister Nicaraguas und katholischen Priester Miguel D’Escoto Brockmann das Mandat erteilt hatte, am 31. März 2011 ihre Stellungnahme vor den Vereinten Nationen zu verlesen, wurde er dort von der US-Botschafterin Susan Rice unter dem Vorwand eines unzureichenden Visums daran gehindert. Den Angeklagten wurde keinerlei Verteidigung erlaubt.
Sliman Bouchuiguir hatte Freunde in Washington. Seine Doktorarbeit an der George Washington University wurde 1979 unter dem Titel »The Use of Oil as a Political Weapon. A Case Study of the 1973 Arab Oil Embargo« veröffentlicht. Er war weniger Menschenrechtler als vielmehr Strategietheoretiker, der die Meinung Washingtons teilte, wirtschaftliche Kriegführung sei notwendig, um zu verhindern, dass rivalisierende Mächte zur Bedrohung werden. Zwischen Bouchuiguirs Menschenrechtsliga LLHR und dem Nationalen Übergangsrat, der sich auf Basis der Behauptungen der LLHR und mit westlicher Anerkennung rasch zur legitimen Regierung des Landes erklärte, gab es beträchtliche Überschneidungen. Zur LLHR gehörte auch Ali Tarhouni, ein Protegé Washingtons, der vom Übergangsrat die Zuständigkeit für Öl und Finanzen erhielt und die Aufgabe hatte, Libyens Ölreserven zu privatisieren und sie den NATO-»Befreiern« zugänglich zu machen.
Basierend auf den Anklagen Bouchuiguirs verhängte der UN- Sicherheitsrat Ende Februar 2011 Sanktionen gegen Ghaddafi und dessen Familie und erhob beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Anklagen gegen sie. Hillary Clinton selbst trat vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf auf, um zu verkünden: »Es ist Zeit für Ghaddafi abzutreten.« Am 17. März 2011 traf der UN-Sicherheitsrat seine schicksalhafte Entscheidung zur Verhängung einer »Flugverbotszone« über Libyen. Der »Regimewandel« lag von Anfang an in der Luft und war immer die nur kümmerlich verhüllte Agenda hinter der Resolution zur »Flugverbotszone«. Russland und China enthielten sich der Stimme, statt die Resolution durch ihr Veto zu blockieren.
Hillary Clinton war entzückt, dass die Resolution die Formulierung »alle nötigen Maßnahmen« enthielt. Diese ermöglichte den Einsatz militärischer Gewalt durch die NATO, und die Außenministerin prahlte damit, es sei ihre ureigene diplomatische Leistung gewesen, durch Druck im Sicherheitsrat dafür gesorgt zu haben, dass diese Worte in die Resolution Eingang fanden. »Ghaddafi muss gehen«, erklärte sie erneut und ließ keinen Zweifel, dass Regimewandel Teil ihres Plans war. Ghaddafi, so Clinton, sei »ein rücksichtsloser Diktator, der kein Gewissen hat und alles und alle, die ihm im Weg stehen, vernichten wird. Wenn Ghaddafi nicht verschwindet, wird er weiter Unruhe stiften. Das ist einfach seine Natur. Es gibt nun einmal Kreaturen, die so sind.«
Erwünschte Bombardierung
Clinton sollte nun ihren eigenen Krieg haben. Nun, nicht ganz ihren eigenen, es gab zahlreiche Komplizen. Aber sie war sehr stolz auf ihre Schlüsselrolle bei der Orchestrierung des Massakers. In der in dieser Frage gespaltenen Obama-Administration war sie wie Susan Rice und Samantha Power für die Jagd auf Ghaddafi; sie alle meinten, es gehe um die »Aufhaltung« eines imaginierten »Völkermords«. Verteidigungsminister Robert Gates und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Michael G. Mullen waren dagegen. Das Widerstreben des Pentagon, einen weiteren Krieg im Nahen Osten anzuzetteln, mag erklären, warum Washington sich entschied, »von hinten her zu führen«, und es zumindest nach außen Paris überließ, den Krieg zu beginnen. Wobei sich Frankreich im Hinblick auf Logistik, Feuerkraft und Informationsbeschaffung stark auf die Unterstützung der USA verließ.
Die US-Außenministerin brüstete sich damit, sie habe das Gewicht der USA genutzt, eine »Koalition der Willigen« zusammenzubringen, um den libyschen Führer loszuwerden. Am 12. März stimmte die Arabische Liga für die Forderung nach einer Flugverbotszone in Libyen. Wie Clinton in ihren Politmemoiren »Entscheidungen« schrieb, würde »ihre aktive Beteiligung […] sämtlichen Militäreinsätzen in der Region Legitimität verleihen«. Es war schlicht so, dass sie die Araber als Deckung brauchte. »Nach dem Irak und Afghanistan wollten wir nicht riskieren, den Eindruck zu erwecken, als würden wir erneut eine Intervention des Westens in einem muslimischen Land in Gang setzen.«
In »Entscheidungen« prahlte Clinton detailliert damit, wie großartig sie die arabischen Führer auf den Krieg zum Sturz Ghaddafis eingestimmt habe. Tatsächlich war das nicht schwerer, als Kinder dazu zu bringen, ein Eis zu essen, denn die arabischen Führer, auf deren Rekrutierung die US-Außenministerin so stolz ist, hassten Ghaddafi ohnehin aus vollstem Herzen – aber nicht wegen ihrer Liebe zur Demokratie, sondern weil er ihnen immer wieder den Spiegel vorgehalten hatte. Damit wir erfahren, wie schwer sie es hatte, beschreibt Clinton einen »außergewöhnlich komplizierten« Aspekt ihrer Arbeit am Aufbau einer arabischen Koalition. Denn genau zu diesem Zeitpunkt unterdrückte das Königreich Bahrain, wo die US-Kriegsmarine im Persischen Golf beheimatet ist, eine authentische, friedliche Protestbewegung im Stil des »Arabischen Frühlings«. Am 14. März schickte Saudi-Arabien Truppen nach Bahrain, um dort bei der Niederschlagung des Volksaufstandes zu helfen. »In genau diesem Moment standen wir in diplomatischen Verhandlungen über die Bildung einer internationalen Koalition zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung vor einem drohenden Massaker«, wobei den arabischen Golfstaaten eine Schlüsselrolle zufallen sollte, erinnerte sich Clinton.
Sie sah klar, dass »unsere Werte und unser Gewissen verlangten, dass die Vereinigten Staaten die Gewalt gegen Zivilisten verurteilten, die wir in Bahrein sahen«; aber auf der anderen Seite war die »arabische Führerschaft in der Luftkampagne« gegen Libyen »von entscheidender Bedeutung«. Hillary Clinton stand vor einem moralischen Dilemma – oder zumindest einem scheinbaren Dilemma. Aber dieses konnte leicht durch leere Worte gelöst werden. Mit Hilfe ihrer Sprecherin verfasste sie eine Erklärung. »Gewalt ist nicht und kann nicht die Antwort sein. Gefordert ist ein politischer Prozess.« Aber in Bahrain war auch weiterhin Gewalt die Antwort, während keinerlei politischer Prozess zugelassen wurde – was die US-Moralisten natürlich von vornherein gewusst hatten. Aber die Außenministerin »war nun froh, dass wir weder unsere Werte noch unsere Glaubwürdigkeit geopfert hatten«. Jetzt, wo die »Werte« sicher in der Rumpelkammer verstaut waren, konnte das Bombardement beginnen. »Bald darauf kreisten arabische Jets über Libyen«, jubelte sie.
Die Anwerbung arabischer Politiker für die Beseitigung Ghaddafis war keine große Leistung. Sie war nützlich für die Kaschierung der Tatsache, dass andere, weitaus demokratischere Führer, etwa aus Afrika und Lateinamerika, angeboten hatten, in der libyschen Krise zu vermitteln.
Nach Beginn des Militärangriffs auf Libyen spielte Clinton eine noch entscheidendere Rolle: Sie blockierte alle Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden. Genau wie ihre Freundin Madeleine Albright benutzte sie das Außenministerium, um diplomatischen Lösungen den Weg zu versperren. Ironischerweise suchten einige Kräfte im Pentagon das Heil im Verhandeln, während Clinton im US-Außenministerium alle Verhandlungen sabotierte.
Ghaddafi dagegen war schon vor Beginn des NATO-Angriffs zum Kompromiss bereit. Bereits am 10. März 2011 hatte ein Vermittlungskomitee der Afrikanischen Union unter Führung des südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma ein Friedensabkommen ausgearbeitet, das unter anderem einen Übergang zur Demokratie vorsah und über das Ghaddafi mit der Opposition verhandeln wollte. Aber wie der Expräsident Südafrikas, Thabo Mbeki, später sagte, lehnte der UN-Sicherheitsrat Zumas Friedensplan »total verächtlich« ab.
Am 18. März rief Ghaddafi zu einem Waffenstillstand auf. Am nächsten Tag, an dem französische Bomber bereits begonnen hatten, Libyen anzugreifen, wurde sein Angebot von Clinton als »Gerede aus Tripolis über einen Waffenstillstand« abgetan. In Paris rechtfertigte sie die Angriffe, indem sie erklärte, Oberst Ghaddafi fordere »weiterhin die Welt heraus«, indem er Zivilisten angreife. Tatsächlich aber gab es während des gesamten Angriffs auf Libyen Bemühungen, die Wahrheit ans Licht zu bringen und der Zerstörung ein Ende zu bereiten. Gaddafis Sohn Saif Al-Islam Al-Gaddafi stand in Kontakt mit US-Beamten und bat sie eindringlich, eine Untersuchungskommission zu schicken, um sich selbst von den Tatsachen vor Ort zu überzeugen. Und das Pentagon hatte seine eigenen Informanten, die die melodramatischen Berichte bestritten, die als Vorwand für einen gewaltsamen Regimewandel in Umlauf gesetzt wurden.
Nur einen Tag nach Beginn der NATO-Operation am 22. März 2011 bat die libysche Führung um einen 72stündigen Waffenstillstand zwecks Ausarbeitung der Bedingungen für eine Einigung. Sie bot einen Abzug aller libyschen Truppen aus Bengasi und Misrata, den beiden großen Rebellenstädten, an. Dieser Abzug hätte durch die Afrikanische Union überwacht werden können. Ghaddafi sagte, er sei unter zwei Bedingungen bereit zurückzutreten und eine Übergangsregierung zu akzeptieren, nämlich dass es Libyen gestattet würde, Truppen zu behalten, um sich Al-Qaida entgegenzustellen, und dass seine Familie und seine Loyalisten Schutz genössen. Der US-Marine-Admiral i.R. Charles Kubic, der in Libyen als Wirtschaftsberater arbeitete, wurde über diese Bedingungen informiert und leitete sie über die militärische Hierarchie an US-Army-General Carter Ham, den Chef des US-Afrika-Kommandos, weiter. Die Bedingungen schienen beiden Militärs vernünftig, und General Ham begann mit geheimen Verhandlungen. Aber zwei Tage später erhielt er von »außerhalb des Pentagon« den Befehl, »damit aufzuhören«. Militärische Quellen sind der Meinung, dass die Order zum plötzlichen Abbruch der Friedensverhandlungen nur aus Hillary Clintons Außenministerium gekommen sein konnte.
In einem Telefongespräch im Mai erklärte Saif Al-Islam Al-Gaddafi dem demokratischen Kongressabgeordneten Dennis Kucinich, die Anschuldigungen über bevorstehenden Völkermord würden genauso eingesetzt wie seinerzeit die falschen Berichte über »Massenvernichtungswaffen« im Irak. Er warnte die Amerikaner, die bewaffneten Rebellen seien keineswegs »Freiheitskämpfer«, sondern Dschihadisten, Verbrecher und Terroristen. Im August schrieb Kucinich an »Herrn Obama« und »Frau Clinton«, um ihnen zu berichten, er sei von einem Vermittler in Libyen kontaktiert worden, der die Bereitschaft Präsident Muammar Ghaddafis signalisiert habe, »den Konflikt unter Bedingungen zu beenden, die der Politik der Administration entgegenkämen«. Kucinichs Brief blieb ohne Antwort.
»Wir kamen, wir sahen, er starb«
Am 30. April 2011 wurde der 29jährige Ghaddafi-Sohn Saif Al-Arab Al-Gaddafi zusammen mit drei kleinen Enkeln und einer unbekannten Anzahl weiterer Zivilisten bei einem NATO-Bomben- und Raketenangriff auf den Wohnsitz seines Vaters in einem Wohngebiet in Tripolis getötet. Saif, der an der TU München studierte, war nur zu Besuch in seiner Heimat gewesen. Er war schon 1986 im Alter von vier Jahren bei einem US-Bombenangriff auf seine Familie verwundet worden. Nach der Attacke veröffentlichte der Bischof von Tripolis, Monsignore Martinelli, am 1. Mai einen Appell: »Ich bitte inständig um eine Geste der Menschlichkeit gegenüber Oberst Ghaddafi, der die Christen Libyens immer beschützt hat. Er ist ein sehr guter Freund.« Ghaddafi sollte den Christen Libyens noch fehlen. Mitte Februar 2015 wurden 21 koptische Christen, die aus Ägypten gekommen waren, um in Libyen zu arbeiten, von islamistischen Fanatikern enthauptet.
Am 18. Oktober 2011 traf Hillary Clinton zu ihrem ersten offiziellen Besuch in einem Land ein, von dem sie keine Ahnung hatte und das in rasendem Tempo in etwas verwandelt worden war, das niemand mehr wiedererkannte. Während man auf die Ankunft der Außenministerin Clinton wartete, erklärte ein »hoher Beamter des Außenministeriums« (dessen Name wie üblich nicht genannt wurde) Journalisten, die US-Besucher würden mit den Libyern darüber sprechen, wie man das Land »auf transparente Weise so in die Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts integrieren kann, dass der Ölreichtum Libyens zum Nutzen aller Bürger des Landes verwendet wird«. Ein zynischer Witz, wenn man bedenkt, dass gerade Gaddafis Bestrebungen, die Einnahmen aus dem libyschen Ölreichtum in Form kostenloser Bildung, Wohnung und Gesundheitsversorgung an die Bürger weiterzugeben, mit Sicherheit ein sehr wichtiger Grund dafür war, dass die Führer der USA, Katars und der Arabischen Liga einen Regimewandel haben wollten. Ein solcher Egalitarismus schafft viele Feinde.
Wie bei Staatsbesuchen üblich war Hillary Clinton nicht etwa nach Libyen gekommen, um etwas über das Land zu lernen, sondern um seinen Bewohnern zu sagen, was sie tun müssten. »Die Frauen in Libyen sollten gleiche Rechte genießen«, erklärte sie ihrem feministischen Image getreu. Das war ein weiterer hintergründiger Witz, waren doch die Frauen Libyens dank des NATO-Bombardements gerade dabei, die Rechte zu verlieren, die sie zuvor dank Ghaddafi gewonnen hatten: nicht nur das Recht auf unverschleierten Aufenthalt in der Öffentlichkeit oder zur Bekleidung guter Posten, sondern auch das simple Recht, sich sicher auf der Straße zu bewegen oder überhaupt am Leben zu bleiben.
Vor ihrer Weiterreise nach Oman hatte Clinton ein letztes Wort für Muammar Ghaddafi übrig, der, was zu diesem Zeitpunkt unbekannt war, immer noch zusammen mit seinem Sohn Mutassim kämpfte, um seine Heimatstadt Sirte zu verteidigen. »Wir hoffen, dass er bald gefangengenommen oder getötet werden kann, damit ihr ihn nicht länger fürchten müsst«.
Zwei Tage später wurde Gaddafi gefangengenommen und getötet. Videoaufnahmen zeigen, dass der libysche Führer und sein Sohn lebend gefangengenommen, brutal gequält und dann ermordet wurden. Hillary Clinton hatte ihren Augenblick ewigen Ruhms, ihren Augenblick, der sie für die Geschichte definieren wird, im Moment von Ghaddafis Tod. Als ihre Beraterin und Vertraute Huma Abedin ihr erklärte, Ghaddafi sei gerade getötet worden, stieß Clinton ein »Wow!« hervor, bevor sie Julius Caesar paraphrasierte: »Wir kamen, wir sahen, er starb!«, rief sie, bevor sie in herzhaftes Gelächter ausbrach.
Diana Johnstone: Die Chaos-Königin. Hillary Clinton und die Außenpolitik der selbsternannten Weltmacht, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016, 256 Seiten, 19,99 Euro