Hintergrund. Schlaglichter auf 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Teil II (und Schluß): Wie ein Kontinent in Unterentwicklung gehalten wird
http://www.jungewelt.de/2010/08-25/009.php
25.08.2010 / Thema / Seite 10
Plünderökonomie
Hintergrund. Schlaglichter auf 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Teil II (und Schluß): Wie ein Kontinent in Unterentwicklung gehalten wird
Von Werner RufIm gestern erschienenen ersten Teil wurde das System der »Françafrique«, die Kontinuität des französischen Einflusses auf die ehemaligen Kolonien in Afrika, dargestellt.
Die britische Kolonialpolitik unterschied sich grundsätzlich von der französischen: Während Paris seine Kolonien zentral von der Hauptstadt aus verwaltete, setzte Großbritannien auf das Prinzip der indirekten Herrschaft (indirect rule): Bestimmte Bevölkerungsgruppen wurden privilegiert und dienten gewissermaßen als Puffer zwischen der Kolo nialmacht und ihrer Verwaltung und der Masse der Kolonisierten. Die Spätfolgen dieser Politik sind bis heute virulente ethnische und/oder religiöse Konflikte in den ehemals britischen Kolonien, die sich von Indien/Pakistan über den gesamten Nahen Osten, Zypern bis nach Afrika ziehen.
Geradezu exemplarisch gilt dies für Nigeria. Sowohl der Biafra-Krieg (1967–1970) wie die derzeitigen bürgerkriegsähnlichen Konflikte im Land sind Spätfolgen dieser Politik: Im von der Kolonialmacht als Bundesstaat konzipierten Nigeria dauerte eine auf demokratischen Wahlen basierende Herrschaft gerade einmal sechs Jahre, dann putschte sich im Januar 1966 eine Fraktion des Militärs an die Macht, die der (vorwiegend christlichen) Sprachgruppe der Ibo (auch Igbo) angehörte. Der neue Herrscher, General Aguiyi-Ironsi, löste die Föderation auf und erklärte Nigeria zum Einheitsstaat. Die Furcht vor einer Ibo-Hegemonie führte ein halbes Jahr später zum Gegenputsch von den Ethnien der Haussa und Fulani angehörenden Offizieren und zu Pogromen unter der Ibo-Bevölkerung. Daraufhin erklärte sich die ölreiche und von den Ibo dominierte Ostregion unter dem Namen Biafra für unabhängig. Der folgende fürchterliche Krieg, in den unterschiedliche auswärtige Mächte verwickelt waren (so wurde Biafra durch Frankreich unterstützt) endete drei Jahre später mit der bedingungslosen Kapitulation Biafras. Die ethnischen Rivalitäten werden noch durch die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen im Norden verschärft, wo ein sich immer weiter radikalisierender Islam herrscht, und im Süden wie im Osten, wo christliche Missionierung erfolgreich war. Der allgemeine wirtschaftliche Niedergang des Rentenstaates Nigeria leistet der religiösen Fanatisierung weiter Vorschub und fördert die Fragmentierung der Gesellschaft entlang ethno-religiöser Grenzen, die sich auch in der immer schnelleren Folge von Putschen und Staatsstreichen niederschlagen. Auch für Nigeria gilt, daß der Besitz der Staatsmacht den Zugriff auf die Erlöse des Öl- und Gasexports sichert.
Uganda wurde 1894 britisches Protektorat. Die Briten hatten König Buganda besiegt, machten ihn aber gleich danach (Uganda-Abkommen 1900) zum privilegierten Mithelfer bei der Ausdehnung des Protektorats auf andere Gebiete und statteten ihn mit weitreichenden Sonderrechten aus. Während also die monarchischen Strukturen im Süden des Landes befördert wurden, rekrutierte die Kolonialmacht hauptsächlich groß gewachsene Moslems aus dem Norden für Militär und Polizei. Die Rivalitäten zwischen katholischen und (konkurrierenden) Missionaren hatten dazu geführt, daß die Masse der Bauern und Armen katholisch waren, während die Herrscher (Chiefs) und die bessergestellten Schichten dem Protestantismus anhingen. Entlang diesen Linien bildeten sich politische Bewegungen/Parteien, die aber keinen Widerstand gegen die Kolonialmacht leisteten, sondern um deren Gunst rivalisierten. Daher gab es in Uganda auch keinen Unabhängigkeitskampf, der eine Identität hätte stiften können. Das Land verfiel bald nach der Autonomie für Jahrzehnte in eine bürgerkriegsähnliche Situation.
Somalia schließlich besaß nie eine festgefügte Einheit, sondern bestand aus einer Vielzahl von Clans. Während der komplizierten Kolonialgeschichte, in der sich Italien, Frankreich und Großbritannien um das Gebiet stritten und es aufteilten, verblieb schließlich ein Teil (die Region Ogaden) bei Äthiopien. 1960 wurden die unter britischer und italienischer Hoheit stehenden Teile zusammengeschlossen und in die Unabhängigkeit entlassen. Unter dem diktatorischen Präsidenten Siad Barre wandte sich das strategisch wichtige Land erst der Sowjetunion, dann den USA zu. Seit 1991 gilt Somalia als Prototyp des »zerfallenen Staates«.
Die ehemalige belgische Kolonie Kongo (Republik Zaire, heute: Demokratische Republik Kongo) war bis zum 29. Juni 1960 Privatkolonie des belgischen Königs. In keinem Land wütete der Kolonialismus so brutal wie hier. Der Fluch des riesigen Landes ist sein Rohstoffreichtum: Vor allem im Osten liefen gewaltige Vorkommen von Kupfer, Diamanten, Gold und Coltan. Die belgische Kolonialpolitik hatte den Einheimischen jede akademische Ausbildung verweigert – ausgenommen die zum Priester. Der erste, sozialistisch orientierte Ministerpräsident des Landes, Patrice Lumumba, von Beruf Briefträger, der in der belgischen Presse als Kommunist beschimpft wurde, nahm während der Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni kein Blatt vor den Mund und kritisierte gegenüber dem anwesenden belgischen König Baudouin I. vehement die Kolonialpolitik als »erniedrigende Sklaverei, die uns mit Gewalt auferlegt wurde. (…) Wir haben zermürbende Arbeit kennengelernt und mußten sie für einen Lohn erbringen, der es uns nicht gestattete, den Hunger zu vertreiben, uns zu kleiden oder in anständigen Verhältnissen zu wohnen oder unsere Kinder als geliebte Wesen großzuziehen. (…) Wir kennen Spott, Beleidigungen, Schläge, die morgens, mittags und nachts unablässig ausgeteilt wurden, weil wir Neger waren. (…) Wir haben erlebt, wie unser Land im Namen von angeblich rechtmäßigen Gesetzen aufgeteilt wurde, die tatsächlich nur besagen, daß das Recht mit dem Stärkeren ist. (…) Wir werden die Massaker nicht vergessen, in denen so viele umgekommen sind, und ebensowenig die Zellen, in die jene geworfen wurden, (…) die sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung nicht unterwerfen wollten.«
Schon vor der Unabhängigkeit machte Moïse Tshombé, Protegé der belgischen Kolonialverwaltung, unter belgischer und US-amerikanischer Protektion den Versuch, den rohstoffreichen Osten– mit zumindest belgischer Unterstützung – abzuspalten. Dafür wurden damals schon weiße Söldner engagiert wie der mit dem französischen Geheimdienst paktierende Bob Denard und der ehemalige Oberfähnrich der Hitlerwehrmacht Siegfried Müller, genannt »Kongo-Müller«. Der damalige prowestliche Generalstabschef des Kongo und spätere langjährige Diktator Mobutu lieferte Lumumba an Tshombé in Katanga aus, wo er unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen ermordet wurde. Der damalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, der in Kongo vermitteln wollte, kam im September 1961 bei einem noch immer mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben.
Ende der Bipolarität
Der Zusammenbruch des Sozialismus und der Abschied der UdSSR aus der Weltpolitik blieben auch für die »Dritte Welt« und insbesondere für Afrika nicht ohne Folgen: Bis dahin war für beide Supermächte jedes Land der Welt »von strategischem Interesse«. Also war es wichtig, »befreundete« Regime zu unterstützen, sei es durch Wirtschafts-, Militär- oder Budgethilfe. Aufgrund geostrategischer Interessen verhielt sich die Sowjetunion in vielen Fällen ähnlich wie der Westen: Nicht die mehr oder weniger zur Schau gestellte ideologische Orientierung der »befreundeten« Staaten war ausschlaggebend, sondern die politische Verläßlichkeit der Partner. Nach dem Ende der Bipolarität bestand dieses Motiv nicht mehr, die nur aus politischen Gründen gewährte Unterstützung entfiel.
Daneben darf aber nicht übersehen werden, daß die jungen Staaten in der »Dritten Welt« ihrerseits durchaus den Versuch machten, mit der »Bewegung der Blockfreien« ihre Eigenständigkeit und Distanz von den Supermächten zu demonstrieren. Doch auch die Blockfreiheit war nicht unbedingt gleichzusetzen mit Neutralität zwischen den Blöcken: So war die (militärische) Unterstützung des Regimes in Angola durch Kuba durchaus auch im Interesse der Sowjetunion, wie die mehrmaligen Interventionen Marokkos im Kongo letztlich den westlichen Interessen dienten.
Somalia, das unter Siad Barre erfolgreich mal der einen, mal der anderen Seite zuneigte, war das erste Land, dessen »Staatlichkeit zerfiel«. Diese Kategorie ist so problematisch wie einst das Etikett »prokommunistisch«: Wollte man die effektive Kontrolle des Territoriums, eine einigermaßen funktionierende Infrastruktur, Erziehungs- und Gesundheitswesen zum Kriterium von Staatlichkeit machen, so wären wohl neben Somalia mindestens auch die Demokratische Republik Kongo, Elfenbeinküste, Mali, Niger, Nigeria und Tschad als zerfallende Staaten zu nennen. Aber sie erscheinen kaum auf den einschlägigen Listen, denn »Staatlichkeit« scheint so weit zu funktionieren, daß die wirtschaftliche Ausbeutung (wie das Erdöl im Niger-Delta und im Tschad oder das Uran in Niger) problemlos funktionieren, denn die Funktionsweise des Systems »Françafrique« gilt nicht nur für die ehemaligen französischen Kolonien, sondern genauso für Nigeria, wo man nur den französischen Energiemulti Elf (siehe Teil I) durch den niederländischen Shell ersetzen muß. Staatszerfall kann für westliche Konzerne durchaus auch positive Seiten haben: Die Ausbeutung des Rohstoffreichtums östlich des Kongo-Flusses unter teilweiser Beteiligung der Herrscher in Ruanda und Uganda funktioniert umso besser, je weniger die Staatsführung in Kinshasa in der Lage ist, das Territorium zu kontrollieren. Insbesondere, wenn, wie im Falle von Joseph Kabila, ein Präsident »regiert«, der mit freundlicher Hilfe des Westens und der Absicherung einer eigens von der EU entsandten Truppe gewählt wurde. Durch solche Aktionen soll dem dortigen Regime ein demokratischer Anstrich verpaßt werden, in Europa selbst (und vor allem in Deutschland) wird dadurch die Akzeptanz von Militärinterventionen gefördert.
Wahlen als Farce
Geklagt wird in der westlichen Öffentlichkeit über Korruption, eingefordert wird »gute Regierungsführung«. Dabei wird geflissentlich über die Ursachen der Korruption hinweggesehen. Zu diesem System gehören immer zwei: einer, der (aktiv) besticht und einer, der sich (passiv) bestechen läßt. Es geht nicht darum, Rechtsstaatlichkeit, funktionierende staatliche Strukturen und eine hinreichende Infrastruktur zu schaffen, sondern um die Ausplünderung der Rohstoffe, die zum Fluch des Kontinents geworden sind. Wäre es den Staaten in Afrika gelungen, eine wirkliche funktionierende Staatlichkeit, souveräne und der Bevölkerung verantwortliche politische Systeme aufzubauen, könnte der Raubbau nicht vonstatten gehen.
Für die afrikanischen Akteure heißt dies: Von wenigen Ausnahmen wie Sankara in Burkina Faso abgesehen, ist die Übernahme der Staatsspitze Voraussetzung für persönliche Bereicherung; keineswegs dient sie der Entwicklung des Landes. Erst dieser Zusammenhang macht verständlich, weshalb die einzige funktionierende Struktur dieser Länder, das Militär, fast überall direkt oder indirekt an der Macht ist, weshalb ein Putsch den anderen zu jagen scheint, weshalb Ethnizität und kriminelle Herrschaft mit allen ihren fürchterlichen Folgen wie Massenmord und Vertreibung fast zwingende Folgen der Auseinandersetzungen um die Aneignung der Rente sind.
Stabilität oder Instabilität erscheinen, je nach Interessenlage, als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Und Stabilität bedeutet oft nicht mehr als den Erhalt eines Machthabers, der den westlichen Interessen wohlgesonnen ist. Die Gegenleistung sammelt sich dann auf Schweizer Nummernkonten. Die von Zeit zu Zeit veranstalteten »Wahlen« taugen bestenfalls zum Selbstbetrug des Westens (oder der dortigen öffentlichen Meinung). Wahlergebnisse unter solchen Bedingungen geben nicht den tatsächlichen Ausdruck des souveränen Volkswillens wieder: Wo Staatlichkeit mehr oder weniger zusammengebrochen ist, wo es keine hinreichende Rechtsstaatlichkeit und keine reale Gewaltenteilung gibt, werden Wahlen zur Farce.
Im Fadenkreuz der Großmächte
Während Großbritannien gegenüber seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien relativ zurückhaltend agiert, sind Frankreichs Interessen nach wie vor manifest und werden notfalls auch mit militärischer Gewalt durchgesetzt. Der Kontinent ist wegen seines Rohstoffreichtums inzwischen ins Zentrum der Interessen der großen Mächte gerückt. China importiert 63 Prozent seines Erdölbedarfs aus Afrika, den größten Teil davon aus Sudan. Schon seit Jahren überwacht EUCOM, das für Europa zuständige US-Oberkommando in Stuttgart, durch Schiffspatrouillen im Golf von Guinea den Transport von Erdöl und -gas aus Angola, Nigeria und Äquatorial-Guinea. Die bereits erwähnte Intervention der EU im Tschad und die beiden Interventionen in der Demokratischen Republik Kongo verweisen mehr als deutlich auf den Willen der EU (und damit Frankreichs), auch militärisch eine aktivere Rolle auf dem schwarzen Kontinent zu spielen. Die wiederholten Hinweise des jüngst zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler auf die Bedeutung Afrikas gehören in diesen Zusammenhang.
Doch auch die Vereinigten Staaten von Amerika haben Afrika und seine Reichtümer neu entdeckt: Neben der Kontrolle des aufsteigenden Rivalen China und der Eindämmung von dessen in Afrika recht erfolgreicher Außenpolitik geht es um die Sicherung von Rohstoffen und die Kontrolle von Pipelines, die dem Zugriff des Rivalen entzogen werden sollen: Bereits unter US-Präsident William Clinton war die Diversifizierung der Ölimporte massiv vorangetrieben worden. Und der frühere stellvertretende Außenminister für Afrika, Walter H. Kansteiner, hatte bei einem Besuch in Nigeria im Juli 2002 unzweideutig erklärt, daß die Carter-Doktrin1 nun auch für Afrika gelte, da afrikanisches Öl von strategischem Interesse für die Vereinigten Staaten sei. In der Tat werden nur noch in Afrika umfangreiche neue Lagerstätten entdeckt. Die USA planen eine Steigerung ihrer Öleinfuhren aus dem schwarzen Kontinent von derzeit etwa 13 auf rund 25 Prozent im Jahre 2013.
2007 war ein entscheidendes Jahr für das, was man überspitzt eine Neuaufteilung Afrikas nennen könnte: Am 6. Februar 2007 gab Präsident George W. Bush die Gründung eines eigenen Militärkommandos für Afrika bekannt und erklärte dazu: »Dieses neue Kommando wird unsere Sicherheit in Zusammenarbeit mit Afrika verstärken und helfen, neue Möglichkeiten zu schaffen, um die Fähigkeiten unserer Partner in Afrika zu unterstützen. Africa Command wird unsere Anstrengungen steigern, um zu helfen, Frieden und Sicherheit zu den Völkern Afrikas zu bringen und unsere gemeinsamen Ziele der Entwicklung, Gesundheit, Erziehung, Demokratie und wirtschaftliches Wachstum in Afrika zu fördern.« Afrika sei für die USA »von signifikanter strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung«. Ganz im Sinne des sogenannten weltweiten Krieges gegen den Terror solle es darum gehen, »die Fähigkeit unserer afrikanischen Partner auszubilden, um Konflikte zu reduzieren, Sicherheit zu verbessern, Terroristen niederzukämpfen (defeat terrorists), regionale Antworten auf Krisen zu unterstützen«.
Die Bekämpfung von »Terroristen« fällt geographisch offensichtlich mit jenen Regionen zusammen, in denen es um die Sicherung energetischer Ressourcen und um die Pipelines geht, wie im Kaukasus, im Nahen und Mittleren Osten oder am Ausgang des Roten Meeres zum Indischen Ozean (Jemen). Im Falle Afrikas steht hierbei vor allem die Bekämpfung einer ominösen »Al-Qaida im islamischen Maghreb« im Zentrum, die besonders im Sahel-Raum ihr Unwesen treiben soll und Anlaß zur Gründung von AFRICOM gab, dessen Vorläufer die Pan-Sahel-Initiative von 2005 war.
Die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Think-tank der deutschen Außenpolitik, kommentierte den Aufmarsch der Großmächte anläßlich der Gründung von AFRICOM im Jahr 2007: »Verstärkte Anstrengungen im Rahmen der Terrorbekämpfung sind wohl nicht der Hauptgrund für die Einrichtung des AFRICOM. Vielmehr scheinen die Sorgen um die künftige Energieversorgungssicherheit und die Einschätzungen der Rolle Afrikas in diesem Kontext das wesentliche Motiv zu sein. (…) Andererseits könnte ein starkes amerikanisches Handlungsinteresse auch zu einer ausgeprägteren Orientierung der NATO auf diese Region führen, die wiederum in Konkurrenz zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und zum EU-Battle-Groups-Konzept treten könnte. Damit ist nicht nur die Frage nach der Haltung anderer europäischer Staaten wie Frankreich aufgeworfen, sondern auch die Frage nach der deutschen Position in einem derartigen Konkurrenzverhältnis.«2
Perspektiven
Unter den Bedingungen der Kolonisation konnte in Afrika keine nennenswerte nationale Bourgeoisie entstehen, die Triebkraft für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozeß hätte sein können. Allenfalls hatten sich – und das gilt bis heute – Spurenelemente einer Kompradoren-Bourgeoisie herausgebildet, die ihrerseits an der Rente partizipieren oder sich durch Import-Export-Geschäfte Profitmargen sichern konnte. Allenfalls gab es zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit einige Geschäftsleute und in bescheidenem Maße Grundbesitzer sowie eine Handvoll mehr oder weniger nach links tendierender Intellektueller. Gleichfalls gab es deshalb keine starken, in der Produktion verankerten Gewerkschaften. Die »Entlassung in die Unabhängigkeit« konnte also nicht Folge starker nationaler Befreiungsbewegungen sein, sondern ist gerade im Falle Frankreichs als »Transformation« seines afrikanischen Kolonial reiches zu verstehen. Die Bestrebungen nach Unabhängigkeit gingen eher von französisch gebildeten Intellektuellen aus, für die politische Unabhängigkeit zwar einen hohen symbolischen Stellenwert im Rahmen ihrer Vorstellungen von »Afrikanität« und »Négritude« (Senghor) hatten, keineswegs aber auf einen radikalen politischen, wirtschaftlichen oder gar identitären Bruch mit der Kolonialmacht abzielten.
Wichtiger Aufstiegskanal in den Ländern selbst war daher fast notwendigerweise das Militär. Es war die einzige hierarchisch strukturierte Kraft, die außerdem über ein Gewaltmonopol verfügte. Die Ausbildung an französischen Militärakademien bewirkte auch, daß der jeweilige einheimische Apparat über gute Beziehungen zu Militärs und hohen Staatsbeamten in Frankreich verfügte. Das Zusammenspiel von Militär und (ex-)kolonialem Verwaltungsapparat entwickelte sich so gewissermaßen naturwüchsig. Die Kombination aus Unterentwicklung und Rentenökonomie bedient beide Seiten des neokolonialen Herrschaftssystems: Den Konzernen, vor allem im Energiebereich (Erdöl, Erdgas, Uran), sichert sie billige Preise, den lokalen Statthaltern die Möglichkeit zur Aneignung der Rente.
Die wirklichen Probleme des schwarzen Kontinents liegen anderswo und können aufgrund der Plünderökonomie nicht angegangen werden: Millionen Menschen sterben jährlich an Malaria, AIDS und Durchfallerkrankungen (in dieser Reihenfolge). 82 Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit lebte jeder zehnte Afrikaner in einer Stadt, heute ist es jeder zweite. Abholzung, exportorientierte, industrielle Landwirtschaft haben die Subsistenzproduktion und die lokale Nahrungsmittelproduktion zum Erliegen gebracht, Desertifikation ist die Folge. Verstärkt durch den Klimawandel, wurden viele Regionen unbewohnbar. Der Migrationsdruck auf die Städte, aber auch nach außen steigt. Die Elendsmigration in Richtung der Küsten alimentiert Banden von Menschenhändlern, Drogen- und Waffenschmugglern in der Sahara, die dann zu »Al-Qaida im islamischen Maghreb« hochstilisiert werden und als Vorwand für Militärinterventionen dienen. AFRICOM und die Interventionen der EU könnten die Vorboten einer neuen Art der Rekolonialisierung sein.
1 Im Zusammenhang mit der Erstürmung der US-Botschaft in Teheran und der Geiselnahme mehrerer Botschaftsangehöriger am 4. November 1979 verkündete der damalige Präsident James Carter am 23. Januar 1980 vor dem US-Kongreß: »Jeder Versuch einer fremden Macht, die Kontrolle über die Region am Persischen Golf zu erlangen, wird als Angriff auf die lebenswichtigen Interessen der Vereinigten Staaten angesehen. Jeglicher Angriff dieser Art wird mit allen Mitteln zurückgeschlagen werden, auch mit militärischen.«
2 Kinzel, Wolf/Lange, Sascha: Afrika im Fadenkreuz der USA?, SWP-Aktuell 17, Berlin, März 2007, S. 4
Werner Ruf ist emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität Kassel