Ignorierte Kriege (I)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59464
Ignorierte Kriege (I) 19.10.2016
BERLIN/RIAD/SANAA (Eigener Bericht) – Trotz anhaltender Kriegsverbrechen der saudischen Streitkräfte im Jemen setzt Berlin die Unterstützung für den Herrscherclan in Riad fort. Während wegen angeblicher oder tatsächlicher Kriegsverbrechen im syrischen Aleppo Forderungen nach einer Verschärfung der Russland-Sanktionen laut werden, bleibt für Saudi-Arabien sogar das Bombardement einer Trauerfeier, bei dem über 140 Zivilisten getötet wurden, ohne Folgen. Mehr als 2.400 zivile Todesopfer haben Luftangriffe der saudisch geführten Kriegskoalition im Jemen bereits gefordert, darunter Patienten in Krankenhäusern von Ärzte ohne Grenzen oder Kinder, die eine Koranschule besuchten. Eine von Riad exekutierte Seeblockade schneidet den bitter armen Jemen, der zu 80 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig ist, von Nahrungslieferungen ab. Inzwischen sind 1,5 Millionen Kinder in dem Land unterernährt, 370.000 von ihnen schwer; sie können nur unzureichend medizinisch versorgt werden, weil Saudi-Arabien Arzneimittelfabriken bombardiert und auch die Einfuhr von Medikamenten beschränkt. In deutschen Medien wird die humanitäre Katastrophe im Jemen weitgehend beschwiegen: Riad, das sie verantwortet, ist der wichtigste Verbündete Berlins im Mittleren Osten; sein Krieg im Jemen soll mit den Rebellen der Huthi-Bewegung zugleich den Einfluss Irans zurückdrängen, er liegt damit auch im Interesse der deutschen Eliten.
Joint Planning Cell
Saudi-Arabien und seine Kriegskoalition [1] haben ihre Angriffe auf den Jemen von Anfang an mit Bombardements geführt, denen zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen und die zum Teil schon bald als Kriegsverbrechen eingestuft wurden. Bereits nach den ersten Luftangriffen vom 25. März 2015 wurden 18 zivile Todesopfer vermeldet. Am selben Tag teilte das Weiße Haus mit, US-Präsident Barack Obama habe “logistische und nachrichtendienstliche Unterstützung” für die saudische Kriegskoalition genehmigt; um sie zu koordinieren, richte man gemeinsam mit Saudi-Arabien eine “Planungszelle” (“Joint Planning Cell”) ein.[2] aUS-Außenminister John Kerry kündigte zudem an, die US-Unterstützung beziehe sich auch auf die militärische Zielbestimmung (“targeting”).[3] Dies wurde allerdings wenig später offiziell in Abrede gestellt – aus gutem Grund: Bereits am 14. April sah sich der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad al Hussein, veranlasst, scharfe Kritik wegen zahlreicher Angriffe auf Zivilisten im Jemen zu üben. Mindestens 364 Zivilpersonen seien seit Beginn der Kämpfe zu Tode gekommen, zu einem nicht geringen Teil durch Luftangriffe der saudischen Kriegskoalition, berichtete Al Hussein; bombardiert worden seien Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und Wohngebiete. Der UN-Menschenrechtskommissar stellte Untersuchungen in Aussicht.[4]
“Vollstes Verständnis”
Die saudischen Luftangriffe auf zivile Ziele sowie die hohe Zahl an zivilen Todesopfern hielten auch die Bundesregierung nicht davon ab, dem Krieg ausdrücklich ihre Zustimmung zu erteilen. Er habe “Verständnis für das saudische Vorgehen”, äußerte Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Tag nach den ersten Bombardements mit den ersten 18 toten Zivilisten.[5] Es folgten mehrere Stellungnahmen aus dem Auswärtigen Amt, in denen es hieß, Saudi-Arabien attackiere den Jemen “in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht”; man habe “keine Zweifel an der völkerrechtlichen Legitimität des saudischen Vorgehens”.[6] Während Berlin damit beschäftigt war, Riad den Rücken zu stärken, versuchten Menschenrechtsorganisationen, sich einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Human Rights Watch etwa nutzte eine fünftägige Feuerpause, um am 15. und 16. Mai 2015 in Saada, dem Zentrum der von Riad bekämpften Huthi-Bewegung und der damals wohl am schlimmsten von den Bombardements getroffenen Stadt, Recherchen durchzuführen. Die Organisation dokumentierte unter anderem sechs Angriffe auf Wohnhäuser, von denen einer auf einen Schlag 27 Angehörige einer einzigen Familie auslöschte, darunter 17 Kinder. Bombardiert worden seien darüber hinaus eine Schule, eine stark frequentierte Tankstelle sowie fünf belebte Märkte, auf denen es keinerlei Hinweise auf militärische Aktivitäten gegeben habe. Es scheine sich dabei um Kriegsverbrechen zu handeln, urteilte Human Rights Watch.[7]
In den Hunger blockiert
Schwere Vorwürfe gegen die Kriegführung der von Saudi-Arabien angeführten Koalition im Jemen sind seitdem regelmäßig erhoben worden. Riad hat schon am 26. März 2015, unmittelbar nach der ersten Bombardierung, eine Seeblockade verhängt, die den Jemen fast vollständig von Importen abschneidet. Die Folgen sind fatal. Das Land musste vor der Blockade rund 80 Prozent seiner Lebensmittel im Ausland kaufen, darunter 90 Prozent seines Weizen- und 100 Prozent seines Reisbedarfs.[8] Seit Beginn der Blockade gelangt allerdings nur ein Bruchteil der notwendigen Importe ins Land; es herrscht trotz verzweifelter Aktivitäten der Vereinten Nationen und diverser Hilfsorganisationen ein krasser Mangel an Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten. Von den rund 26 Millionen Jemeniten sind inzwischen 21,2 Millionen – 82 Prozent der Bevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen. 14,4 Millionen verfügen nicht über ausreichend Lebensmittel, 7,6 Prozent sind sogar von schwerem Nahrungsmangel betroffen. 1,5 Millionen Kinder sind unterernährt, 370.000 in höchstem Maße. Jüngst hat UNICEF Alarm geschlagen: Trotz gewaltiger Anstrengungen könnten Hilfswerke die furchtbare Not nur in beschränktem Umfang lindern, teilte die Organisation mit; man müsse alles daran setzen, die Nahrungsmittelversorgung und das Gesundheitssystem wieder zu normalisieren. Das würde freilich voraussetzen, dass Saudi-Arabien – immerhin ein zentraler Verbündeter des Westens im Mittleren Osten – seine seit eineinhalb Jahren bestehende Blockade aufhebt.
Zivile Ziele bombardiert
UNICEF hat erst kürzlich zum wiederholten Male ein offenkundiges Kriegsverbrechen der von Riad geführten Kriegskoalition beklagt. Demnach wurde am Morgen des 13. August 2016 bei einem Luftangriff auf Saada im Norden des Landes eine Koranschule getroffen. Mindestens sieben Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren wurden getötet, die überlebenden Kinder wurden mit Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Wenige Tage zuvor hatte UNICEF konstatiert, seit Beginn des Krieges seien bereits 1.121 Kinder zu Tode gekommen. Insgesamt sind nach Angaben der Vereinten Nationen im Krieg im Jemen bislang 4.125 Zivilisten getötet worden, rund 60 Prozent davon – mehr als 2.400 Menschen – durch Luftangriffe der saudischen Militärkoalition. Im August teilten Human Rights Watch und Amnesty International mit, allein sie hätten mittlerweile mehr als 70 völkerrechtswidrige Luftangriffe dokumentiert, bei denen mehr als 900 Zivilisten ums Leben gekommen seien. Zudem hätten sie 19 Angriffe mit international geächteter Streumunition registriert.[9] Bombardiert worden seien sogar Arzneimittelfabriken und Nahrungsmittellager sowie Krankenhäuser, deren GPS-Daten die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen eigens übermittelt habe.[10] Recherchen zeigen, dass mehr als ein Drittel der Luftangriffe, die die saudisch geführte Kriegskoalition fliegt, zivile Ziele trifft.[11] Das jüngste Bombardement einer Halle, in der über tausend Menschen zu einer Trauerfeier zusammengekommen waren, fügte der Liste saudischer Kriegsverbrechen ein weiteres mit mehr als 140 Toten hinzu.
Iran und die Meerengen
Im Unterschied zu den angeblichen oder tatsächlichen Kriegsverbrechen in Aleppo, die aus außenpolitischen Gründen propagandistisch ausgeschlachtet werden (german-foreign-policy.com berichtete [12]), ignoriert Berlin die mutmaßlichen saudischen Kriegsverbrechen nach Möglichkeit. Dafür gibt es zwei Ursachen. Die eine besteht darin, dass der Herrscherclan in Riad – anders als die syrische und die russische Regierung – bislang als weitgehend loyaler Statthalter westlicher Interessen im Nahen und Mittleren Osten gilt. Die zweite Ursache liegt in der Konfliktkonstellation im Jemen. Dort ist Anfang 2015 der mit Riad verbündete, als prowestlich eingestufte Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi durch die nordjemenitische Rebellenbewegung der Huthi gestürzt worden, die ihrerseits eine gewisse – wenngleich oft übertrieben dargestellte – Nähe zu Iran aufweist und sich mit antiwestlichen Positionen hervortut. “Die Aussicht, dass Iran, die Schutzmacht der Houthis, neben der Meerenge von Hormuz auch noch die Meerenge zwischen dem Jemen und Afrika kontrollieren könnte, durch die jeden Tag Millionen Barrel Erdöl transportiert werden, erschreckt viele” im Westen, berichtete kurz nach Beginn des Krieges im März 2015 ein Nahostexperte.[13] Riads militärischem Vorgehen gegen die Huthis und damit auch gegen Iran legt Berlin deshalb keine Steine in den Weg.
Mit Waffen belohnt
Weit davon entfernt, Konsequenzen aus Kriegsverbrechen wie der Bombardierung einer Trauerfeier in Sanaa befürchten zu müssen, wird Saudi-Arabien sogar weiter mit Rüstungsgütern aus deutscher Produktion beliefert – darunter auch Kriegsgerät, das es im Jemen einsetzt. Jüngstes Beispiel sind aktuelle Verhandlungen über die Lieferung zusätzlicher Eurofighter an die saudische Luftwaffe. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.
[1] Am Krieg im Yemen beteiligten sich zunächst fünf Staaten des Gulf Cooperation Council (GCC), nämlich Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Qatar, Bahrain und Kuwait, sowie Jordanien, Ägypten, Sudan und Marokko.
[2] Statement by NSC Spokesperson Bernadette Meehan on the Situation in Yemen. www.whitehouse.gov 25.03.2015.
[3] Saudi and Arab allies bomb Houthi positions in Yemen. www.aljazeera.com 26.03.2015.
[4] Yemen: Zeid calls for investigations into civilian casualties. www.ohchr.org 14.04.2015.
[5] “Die Lage ist gefährlich, nicht nur für die Golfregion”. www.bild.de 27.03.2015. S. dazu In Flammen.
[6] Stellungnahmen von Sprechern des Auswärtigen Amts vor der Bundespressekonferenz. S. dazu In Flammen (II).
[7] Human Rights Watch: Targeting Saada. Unlawful Coalition Airstrikes on Saada City in Yemen. London, June 2015.
[8] Omer Karasapan: Conflict, famine, refugees, and IDPs: A perfect storm in Yemen? www.brookings.edu 14.04.2015.
[9] UN: Create International Inquiry on Yemen. www.hrw.org 26.08.2016.
[10] Priyanka Motaparthy: US Should Stop Making Excuses for Saudi Violations in Yemen. www.hrw.org 06.10.2016.
[11] Ewen MacAskill, Paul Torpey: One in three Saudi air raids on Yemen hit civilian sites, data shows. www.theguardian.com 16.09.2016.
[12] S. dazu Spiel mit dem Weltkrieg.
[13] Rainer Hermann: Neues, altes Arabien. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.03.2015.