Im Abseits: Über gesellschaftlich produzierte Ängste
Im Abseits
Der beschleunigte Kapitalismus hinterlässt psychisch ruinierte Individuen, die nach einfachen Antworten suchen. Über gesellschaftlich produzierte Ängste (Teil 2 und Schluss)
Von Götz Eisenberg, Junge Welt, 24.7.2017 Von den gesellschaftlich produzierten Ängsten gilt: Sie müssten in einer Gesellschaft wie der unseren, die einen unermesslichen Reichtum hervorbringt, nicht sein. Zygmunt Bauman hat als soziologische Grundregel formuliert: Alles, was menschengemacht ist, kann auch von Menschen verändert werden – vorausgesetzt, sie wollen es. Wir können sicher nicht alles Leid aus der Welt schaffen, aber doch einen großen Teil davon und einen anderen Teil lindern. In jedem Fall lohnt es sich, es immer und immer wieder zu versuchen. Baumans Rat: Wir sollten uns auf den Teil des Elends konzentrieren, der gesellschaftliche Ursachen hat und in solchen Fällen keinerlei Grenzen für die Umgestaltung der Wirklichkeit akzeptieren. Im Namen der neuen neoliberalen Göttin »TINA« – »There is no alternative« – versucht man, die Handlungsspielräume der Menschen systematisch zu verengen und ihnen die herrschenden Verhältnisse als die einzig möglichen und denkbaren zu präsentieren.Die Religion des Marktes
Welches sind nun die gesellschaftlich erzeugten Ängste, gegen die eine zur Vernunft gekommene Menschheit etwas ausrichten könnte? Es sind im wesentlichen Ängste, die aus der spezifischen Form unseres Wirtschaftens erwachsen. Seit 1800 etwa hat sich die Ökonomie aus den Lebenszusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet war, herausgelöst und verselbständigt. So konnte sie sich von den ihr auferlegten Begrenzungen befreien und zu einer anonyme Märkte beliefernden effizienten Warenproduktion werden, deren Ziel nicht länger die Bedürfnisbefriedigung ist, sondern die Vermehrung des zum Kapital mutierten Geldes. Vor dem Hintergrund der kapitalistischen Produktion werden Entscheidungen ausschließlich unter dem Aspekt der Profitrate getroffen. Erwägungen menschlicher Belange und das, was man früher Gemeinwohl nannte, existieren nicht. Alle diesbezüglichen Rücksichtnahmen müssen den Kapitalbesitzern kämpferisch abgerungen werden. Am Gipfelpunkt der Verselbständigung und Entfremdung werden die Menschen im Zeichen der Digitalisierung von ihren eigenen Hervorbringungen aus der Produktion vertrieben. Das Kapital emanzipiert sich mehr und mehr von der menschlichen Arbeitskraft und nullt gespenstisch vor sich hin. Diese Entwicklungen setzen großflächig Ängste frei. Die Menschen sterben einen sozialen Tod und drohen aus der Welt zu fallen. Statt Widerstand zu leisten und die wild gewordene Ökonomie in eine solidarische Gesellschaftlichkeit einzubinden, unterwerfen sie sich den sogenannten Marktgesetzen. Nach beinahe vier Jahrzehnten neoliberaler Indoktrination scheint es gelungen, den Markt als neue Zivilreligion zu etablieren. Die Trinität, die in ihr verehrt wird, heißt: Rationalisierung, Deregulierung und Globalisierung. Wer sie kritisiert, wird von den Hohepriestern der Marktreligion in die Position desjenigen gerückt, der so töricht ist, einem Erdbeben Vorwürfe zu machen.
Der im Namen des Neoliberalismus entfesselte Kapitalismus und seine Praktiken erzeugen Angst im großen Stil. Das, was euphemistisch Fortschritt genannt wird, hat sich als eine Art endloses »Reise nach Jerusalem«-Spiel entpuppt, bei dem ständig Menschen keinen freien Stuhl mehr finden und auf der Strecke bleiben. Es grassieren die Ängste vor prekärer Beschäftigung, vor Arbeitsplatzverlust, vor sozialem Abstieg, vor einer Hartz-IV-Existenz, vor Altersarmut und Enteignung, vor Vergessen- und Abgehängt-Werden. Enteignung nicht nur im ökonomischen Sinn: Es gibt auch Enteignung von Erfahrung und Fähigkeiten, die Menschen unter Mühen erworben haben, die nun im Zuge eines immer rasanteren technologischen Wandels nicht mehr nachgefragt werden und nichts mehr wert sind. »Unsere Existenzform ist die Rasanz«, heißt es in Roger Willemsens posthum erschienenem Bändchen »Wer wir waren«. Aber für ein solches Leben sind wir mehrheitlich nicht ausgerüstet. »Freude aus Verunsicherung zu ziehen – wer hätte uns das beigebracht?« fragte Christa Wolf in Anbetracht der neuen Imperative des flexiblen Kapitalismus in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung. Je traditioneller ein Mensch sozialisiert, je autoritärer er fixiert ist, desto schwerer wird er sich mit den Anforderungen der »flüchtigen Moderne« (Zygmunt Bauman) tun. Viele Dinge sind nicht mehr an ihrem angestammten Platz, sie sind mit den inneren Lageplänen nicht mehr aufzufinden. Menschen geraten in die verzweifelte Lage desjenigen, der sich im heutigen Frankfurt am Main mit einem alten Stadtplan orientierten will.
Viele Menschen machen gegenwärtig die Erfahrung: Was Hänschen gelernt hat, nützt Hans längst nichts mehr. Was gestern noch wichtig und richtig war und sozial integrierte, bringt einen heute ins Abseits. Wer an Gelerntem, über das die gesellschaftliche Entwicklung hinweggegangen ist, festhält, droht zum Kauz, zum Sonderling, zur komischen Figur zu werden. Der Wandel hat sich derart beschleunigt, dass er Schwindelgefühle und Angst erzeugt. Das Tempo der Veränderung ist nicht mehr menschengemäß; es müsste im Interesse unserer Würde und Gesundheit gezügelt werden. Das Pensum an Veränderungen, das Menschen innerhalb ihrer Lebensspanne bewältigen können, ist begrenzt. Wird es überschritten, drohen sie körperlich und seelisch zu erkranken. Wer aus der Zeit fällt und verrückt wird, kann darüber verrückt werden. Die Menschen fühlen sich, als wären sie in einem falsch abgemischten Film: Die Bildspur der äußeren Realität läuft schneller als die innere Tonspur. Auch diese Desynchronisation von äußerer Realitätsstruktur und innerer Identitätsstruktur ist eine Quelle von Verunsicherung und Ängsten. Normen und Werte sind ja dazu da, einen in der Gesellschaft stabil zu verorten und Orientierung zu gewährleisten. Treue zu Normen wird aber gegenwärtig zu einer Quelle von Verunsicherung und kann den Sturz aus der Welt nicht mehr aufhalten. Und da ist nach all den Entzauberungen der Moderne kein Glaube mehr, der den Stürzenden auffängt. Wohin fällt einer dann?
Kohäsion und Identität
Viele Menschen leiden unter seelischen Gleichgewichtsstörungen und einem Verlust des Gefühls der Kohäsion. Wie gewinnen unsere Lebensläufe ihre Kohäsion, ihren Sinn, ihre Identität? Ein kohäsives Selbst bildet sich in der Kindheit unter Bedingungen von Verlässlichkeit und raum-zeitlicher Konstanz der Bezugspersonen aus. Lernend und sich identifizierend werden gewisse Regeln und Orientierungspunkte verinnerlicht. Es entsteht ein innerer Kompass, der die Navigation im Strom der Zeit ermöglicht und dem Leben eine Richtung gibt. Ein kohäsives Selbst vermittelt ein Gefühl des Selbstseins, der Selbstachtung und des leidlichen Wohlbefindens. Menschen, die über ein solches Selbst verfügen, besitzen eine psychische Struktur, die sie vor Fragmentierung und Ängsten schützt. Schon unser flüchtiger Blick auf die Entstehungsbedingungen des Gefühls von Kohäsion und Identität zeigt, dass diese Kategorien nicht losgelöst existieren, sondern eminent gesellschaftlich sind, weil sie von Anfang an auf die anderen, auf die Um- und Mitwelt verweisen. Identität ist jene Instanz im Menschen, durch die eine Vermittlung zwischen dem psychischen und dem gesellschaftlichen Leben stattfindet. Angesichts dieser dialektischen Struktur der Begriffe Kohäsion und Identität müssen wir uns mit Alexander Kluge fragen: »Wie sollen unsere Lebensläufe eine Identität haben, wenn wir in einer Gesellschaft leben, die aus Trennungen zusammengesetzt ist? Machen wir die Trennungen mit, dann trennt sich etwas in uns.« Trennt sich etwas in uns, verlieren wir das Gefühl der Kohäsion. Die Angst vor Fragmentierung, also dem Zerfall der Persönlichkeit und der Ich-Grenzen, gehört zu den gravierendsten Ängsten, von denen ein Mensch befallen werden kann. Das ist kaum auszuhalten und kann im Extrem eine psychotische Entwicklung einleiten.
Oskar Negt geht in seiner Autobiographie, die 2016 unter dem Titel »Überlebensglück« erschienen ist, der Frage nach, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass er trotz einer schwierigen Ausgangslage und einer Kindheit unter Bedingungen der Flucht ein halbwegs gelungenes und angstfreies Leben führen konnte. Irgendwann muss ein Mensch Glück erfahren haben, das er nicht mehr verliert und von dem er lebensgeschichtlich zehren kann. Negt führt seine Glücksvorräte auf die Erfahrung verlässlicher Bindungen an seine Schwestern zurück, die ihn auf der Flucht begleiteten und ihm ein basales Gefühl der Sicherheit und des Halts inmitten einer stürzenden Welt vermittelten.
Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, über welche Kraftquellen Menschen verfügen, um ihr Leben meistern und Krisen bewältigen zu können, stößt Negt auf die Überlegungen des US-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zur »Salutogenese«, also der Frage, was Menschen gesund erhält. Die zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff Kohäsion. Wesentliche Gesundheitsressource ist nach Antonovsky ein Kohärenzgefühl, das sich der Erfahrung guter anfänglicher Beziehungen verdankt. Zur Kohärenz gehören drei Aspekte: die Fähigkeit, die Situation, in der man sich befindet, und die Zusammenhänge zu verstehen – also das Gefühl der Verstehbarkeit; weiterhin die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann – das Gefühl der Handhabbarkeit; sowie schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat – das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Etwas muss an sich und zugleich für mich eine zusammenhängende Bewegung ergeben und sich im Einklang mit meinen moralischen Maßstäben befinden, damit ich sagen kann: »Das ergibt einen Sinn«. Gelingt es uns nicht, aus diesen drei Faktoren ein Kohärenzgefühl zusammenzusetzen, schleichen sich Angst und Unsicherheit ins Leben ein und unser Persönlichkeitskern droht zerstört zu werden. Angst ist auch für Antonovsky der größte und wichtigste Krankmacher.
Wenn wir uns die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in der »flüchtigen Moderne« anschauen, werden wir feststellen, dass das Gefühl der Kohärenz zur Mangelware wird. Die Trias Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit verkehrt sich in das Zugleich von Orientierungsverlust, Ohnmacht und Sinnentzug. Wir leben also unter extrem angst- und krankmachenden Bedingungen und sollten uns schon unter dem Aspekt unseres leib-seelischen Wohlergehens für die Errichtung einer solidarischen, entschleunigten und auf weiteres Wachstum verzichtenden Gesellschaft einsetzen. Zu ähnlichen Schlüssen kommt eine OECD-Studie aus dem Jahr 2010: Eine gerechte Gesellschaft ist besser für alle. Richard Wilkinson und Kate Pickett folgern aus ihrer Studie »The Spirit Level« (2009), dass »der Abbau von Ungleichheiten der beste Weg zur Verbesserung unserer sozialen Lebenswelt und damit der Lebensqualität für alle« ist. Je weiter die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft, desto größer die Probleme mit Gesundheit, Kriminalität sowie Drogen- und Alkoholkonsum.
Die kapitalistische Moderne hat uns zwei große Individualisierungsschübe beschert, die jeweils von Ängsten begleitet wurden wie ein Schatten. Der erste bestand in der Auflösung der vorbürgerlichen Welt mit ihren bäuerlich-handwerklichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen. Mit dem Wegbrechen dieser Gemeinschaften entstand ein Individualismus, bei dem niemand mehr Weggefährte der anderen ist, sondern nur noch Gegner, vor dem man sich hüten muss. Die aus diesen bergenden und Schutz gewährenden Gemeinschaften freigesetzten, oder besser: herausgeschleuderten Menschen müssen nun selbst sehen, wie sie sich auf dem Arbeitsmarkt durchschlagen und mit den damit verbundenen Risiken fertig werden. Die Individualisierungsangst par excellence ist die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit und dem Versagen, das dem einzelnen angelastet wird. Gegen die verheerenden Folgen des Konkurrenzkampfes wehrte sich die Arbeiterbewegung durch die Gründung von Gewerk- und Genossenschaften, die den Widerstand gegen die Zumutungen der kapitalistischen Industrialisierung organisierten und den vereinzelten Einzelnen als identitätsstiftende Behelfsheimaten dienten.
Der »Puffer« Sozialstaat
Um die sozial erzeugten Ängste und die durch sie begünstigten politisch regressiven Strömungen im Zaum zu halten, hat man den Sozialstaat erfunden und aufgebaut. Das erklärte Ziel der Rooseveltschen Reformprogramme war die »Freiheit von Angst«. Im Schwedischen gibt es ein eindrucksvolles Wort für den Sozialstaat: »Folkhemmet«, übersetzt: Volksheimat – oder auch Wohlfahrtsstaat oder soziale Demokratie. Der Sozialstaat ist eine unvergleichliche Erfindung, die das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit mit seinem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung vereint. Keiner soll mehr ohne Arbeit und Versorgung und einem Dach über dem Kopf sein, alle Schulkinder erhalten täglich eine Mahlzeit, und alle haben Anspruch auf unentgeltliche Krankenversorgung und eine sichere Rente. Der Druck, den der sozialdarwinistische Kampf ums Dasein erzeugt, wird weitgehend von den Menschen genommen, die dadurch vieler Sorgen enthoben und frei für die Selbstbestimmung werden. Am Beginn des Sozialstaats stand der Schutz, die kollektive Absicherung gegen individuelles Unglück. Man hatte ein Bewusstsein davon, dass politische Rechte und soziale Rechte ausbalanciert sein müssen und sich wechselseitig bedingen und einander brauchen. Das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie ist spannungsreich und problematisch von Anfang an. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat fungiert als Puffer zwischen beiden, federt die gröbsten Auswirkungen des Kapitalprinzips ab und ermöglicht den Menschen ein relativ angstfreies Leben.
Man muss fragen: Wieviel Angst verträgt die Demokratie? Ein hoher Angstpegel und Demokratie sind auf Dauer unvereinbar. Demokratie basiert auf der Seite der Subjekte auf relativ reifen psychischen Strukturen, die das gewaltfreie und diskursive Austragen von Dissens und Konflikten und das Ertragen von widersprüchlichen Situationen und Ambivalenzen ermöglichen. Unter dem Einfluss von Angst regredieren Massen von Menschen auf einfachere, quasi archaische Mechanismen der psychischen Regulation. Ein frühkindlicher Manichäismus, eine archaische Spaltungsneigung, flammt wieder auf, welche die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse aufteilt und übersichtliche Freund-Feind-Verhältnisse herstellt. Diese kollektive Regression kann der Demokratie den Todesstoß versetzen. Das hatten wir in Deutschland schon einmal – und wir erleben es gegenwärtig im Zeichen des Trumpismus in den USA erneut.
Unter dem Druck der Globalisierung beginnt das, was Bauman die »flüssige Moderne« nennt. In seiner rastlosen Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten überwindet das Kapital die Grenzen des Nationalstaats. Anonyme Superstrukturen und transnationale Märkte höhlen seine Kompetenzen aus. Während das Kapital transnational und multikulturell geworden ist, bezieht die große Mehrheit der Menschen ihre Identität aber nach wie vor aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation. Ihre Leidenschaften, ihr Fühlen und Denken sind noch weitgehend ethnozentrisch eingefärbt. Die sich hier auftuende Kluft ist eine weitere Quelle schwer greifbarer Ängste und regressiver Sehnsüchte nach einer homogenen Gemeinschaft. Aber damit nicht genug: In der »flüssigen Moderne« werden die sozialstaatlichen Schutzmechanismen aus dem Verkehr gezogen und die mit der uneingeschränkten Herrschaft des Marktes verbundenen Risiken privatisiert. Wenn man den Sozialstaat demontiert und plündert, wie es im Namen des Neoliberalismus geschehen ist und geschieht, steigt der Angst- und Panikpegel rapide an. Die gesellschaftliche Atmosphäre reichert sich mit Spannungen und Aggressionen an, und es wächst das Bedürfnis der Menschen, Sündenböcke zu finden, auf die sich ihre Malaise verschieben lässt. Verstärkt werden diese Tendenzen durch die Erosion gewerkschaftlicher und parteipolitischer Milieus und Bindungen, die den einzelnen Zusammenhalt und Schutz vor den gröbsten Individualisierungsfolgen boten.
Was Bauman unter »flüssiger Moderne« versteht, erschließt sich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die neuen Imperative der Flexibilität und Mobilität nicht auf den ökonomischen Sektor beschränkt bleiben, sondern sich Takt für Takt durch sämtliche Schichten des Gesellschaftsbaus hindurchfressen und bis in die feinsten Poren des Alltagslebens vordringen. Der Tauschwert wird zur Leitwährung der Intimität, die universalisierte Marktlogik schwächt soziale und emotionale Bindungen. Alles und jedes wird in den Nexus von Ware und Geld einbezogen und erhält ein Verfallsdatum. Die wirtschaftlichen Mächte sind damit beschäftigt, in einer totalisierenden Warenproduktion Bindungen bewusst zu zerstören. Beinahe prophetisch hat Theodor W. Adorno in seinem Text »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« aus dem Jahr 1955 gewarnt: »(…) ohne Fixierung der Libido an Dinge wäre Tradition, ja Humanität selber kaum möglich. Eine Gesellschaft, die jenes Syndroms sich entledigt, um alle Dinge wie Konservenbüchsen wegzuwerfen, springt kaum anders mit den Menschen um.«
Geflüchtete als Sündenböcke
Die Modernisierungsschübe und die Erfahrung der Zerstörung von menschlichen Bindungen setzen Ängste frei, die sich an alles heften, was sich den Verunsicherten als Verschiebungsersatz anbietet oder ihnen angeboten wird. Vorurteile fungieren als Schleusen, die einen geregelten Abfluss von affektiven Energien gestatten, die den Fortbestand des Systems gefährden könnten. Eine zentrale Rolle bei dieser großangelegten Verschiebung der Angstgründe spielen in jüngster Zeit die Flüchtlinge und Migranten. Sie verkörpern all das Flüchtige und Fremde, unter dem die Menschen zu leiden haben, und fungieren als »Boten des Unglücks«, wie es in einem Gedicht von Bertolt Brecht heißt. »Diese Nomaden (…) erinnern uns auf irritierende, ärgerliche und erschreckende Weise an die Verwundbarkeit unserer eigenen Stellung und an die endemische Zerbrechlichkeit unseres hart erarbeiteten Wohlstands«, heißt es in Zygmunt Baumans Buch »Die Angst vor den anderen« (2016).
Die Geflüchteten stehen für jene rätselhaften, undurchschaubaren und beargwöhnten globalen Kräfte, die wir im Verdacht haben, für das lähmende und demütigende Gefühl existentieller Unsicherheit verantwortlich zu sein, das unsere Zuversicht schmälert oder zerstört und unsere Wünsche, Träume und Lebenspläne zunichte macht. Sie dienen als Blitzableiter, der dafür sorgt, dass der Zorn umgeleitet wird und die wahren Verursacher der Misere ungeschoren bleiben. Der Rechtspopulismus organisiert und funktionalisiert die über den ökonomischen Prozess freigesetzten Ängste und versucht, Kapital zu schlagen aus der Feindseligkeit, die den Fremden und Migranten im Banne gesellschaftlich erzeugter Vorurteile entgegenschlägt. Für den Aufstieg des Rechtspopulismus und Rassismus tragen in erster Linie diejenigen die Verantwortung, die durch ihre Deregulierungspraxis großflächig Angst und Unsicherheit erzeugt haben. Wenn der Rassismus seine hässliche Fratze zeigt und sich auf der Straße unschön artikuliert, wollen diese Herrschaften nicht damit in Zusammenhang gebracht werden und sponsern Aktionen für eine »bunte Republik«.
Den Fremdenfeinden und Rassisten spielen die von Migranten begangenen Straftaten und Anschläge in die Karten. Denjenigen, denen daran gelegen war, dass die Stimmung in bezug auf den Zuzug von Migranten und Geflüchteten kippt, kamen die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015/16 wie gerufen. Es schien wahr geworden zu sein, was »besorgte Bürger« und Neonazis bis dahin herbeiphantasieren mussten: »Ein entfesselter Mob von Afrikanern und Arabern zieht durch unsere Städte und vergreift sich an ›unseren‹ Frauen.« Die islamistisch motivierten Anschläge von Würzburg, Ansbach und Berlin sowie die Vergewaltigung und Tötung einer Studentin durch einen jungen Geflüchteten aus Afghanistan taten ein übriges und ließen die Willkommenskultur endgültig in Ernüchterung, Skepsis und Ablehnung umschlagen. Angst und Unsicherheit machten sich rund um das Thema Migration breit und steigern sich mitunter zu einer medial gepushten Panikmache und Hysterie. Die Terrorangst ist das Fieber der Gesellschaft. Sie sucht nach Sündenböcken und findet sie im Islam.
In der Jagd auf Fremde soll, wie wir gesehen haben, die Ungewissheit ausgetrieben werden. Der Fremdenhass lebt von der Illusion, dass die Gesellschaft in Ordnung käme, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat. Vor allem bei jungen Leuten liegen Angst und Wut dicht beieinander. Fatma Aydemirs Debütroman »Ellbogen« erzählt davon. Hazal sagt: »Ich habe Angst, dass ich für immer auf der Ersatzbank rumsitze und auf das richtige Leben warte und das richtige Leben einfach nicht passiert.« Zusammen mit ihrer Freundin Elma stürzt sie sich gleich darauf in ein Scharmützel mit zwei schick gekleideten Mädchen, die sie als »Mittetussis« und »Ärztetöchter« ausgemacht haben. Die Jugendlichen haben sich noch nicht resignativ mit allem abgefunden und sind bereit zu kämpfen. Sie entdecken die Wut als Ausweg aus Angst und Ohnmacht: Lieber Schrecken verbreiten, als ständig in Angst zu leben. Leider kehrt sich die Gewalt auch bei ihnen oft gegen Minderheiten; oder ihre Wut entlädt sich ungerichtet und blind, wie die Ghetto-Revolten der letzten Jahre gezeigt haben.
Den Rohstoff aufgreifen
Antonio Gramsci hat Zeiten wie die unseren als »Interregnum« gefasst. »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster«, notierte er in der Zeit zwischen den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Zeit der Monster bricht dann an, wenn eine herrschende Ordnung von Krisen geschüttelt und vom Zerfall bedroht ist, ohne dass, wie in früheren Jahrhunderten, neue gesellschaftliche Kräfte schon bereitstehen, die dem Zerfallsprozess eine emanzipatorische Wendung geben und etwas qualitativ Neues an die Stelle des zerfallenden Alten setzen können. Eine solche gesellschaftliche Situation steckt voller Angst und gebiert sozial-pathologische Phänomene der verschiedensten Art. Das Werkzeug der Rechten ist seit jeher die Angst. Sie wird systematisch verstärkt und geschürt. Wenn es den an der Demokratie interessierten Kräften nicht gelingt, den Rohstoff »Angst«, der heute womöglich noch demokratisch-sozialistischer Bindungen fähig wäre, aufzugreifen und in ein aufklärerisches Projekt zu integrieren, werden politische Scharlatane und falsche Propheten ihn für ihre Zwecke nutzen. Nur wenn es gelingt, den auf dem Wettbewerb beruhenden Existenzkampf zu beenden und den ständigen Einsatz der Ellbogen überflüssig zu machen, wird der rassistische Furor aufhören, die Menschen zu beherrschen.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg-Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band »Zwischen Amok und Alzheimer« ist 2015 im Verlag Brandes & Apsel erschienen.