Inkubationsphase (1971)
H. Spehl an Dr. Winfried Scharlau,
NORDDEUTSCHER RUNDFUNK, Redaktion ‘Weltspiegel’
Freiburg, 14. November 1971
Betrifft Ihren Essay: "Vietnam in der deutschen Presse" (53).
Sehr geehrter Herr Dr. Scharlau: Es hat mich ein wenig interessiert, wie man es fertigbringt, im Glashaus mit Steinen zu werfen, ohne unter dem Scherbenhaufen begraben zu werden. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist Ihr Essay "Vietnam in der deutschen Presse" sogar lesenswert. Ich darf doch wohl annehmen, daß Sie nicht im Ernst glauben, die Leser eines kritischen rororo-Bändchens noch Ende 1971 über die Mittäterschaft der deutschen Presse am Vietnam-Malheur informieren zu müssen. Und wenn es Ihre Absicht war, die Desinteressierten zu interessieren, haben Sie wohl kaum das geeignete Forum gewählt.
Aber wahrscheinlich ist die "intellektuelle Elite des deutschen Journalismus" cleverer als man denkt. Im richtigen Augenblick mit ein bißchen retrospektiver Selbstkritik um das Vertrauen werben, das man eben verspielt hat, ist ein gar so schlechter Trick nicht. Wenn man erfährt, daß im Journalismus soeben die Debatte begonnen hat, wie man in Zukunft "sehr viel mehr Informationen sammeln und verarbeiten" kann, und wie "ganz neue Fähigkeiten in den Nachrichtenredaktionen" entwickelt werden müssen, was natürlich "Geld kostet", dann kann man getrost seine Zeitung wieder aufschlagen und dem Fernsehen wieder vertrauen. Das Produkt aus der Leichtgläubigkeit der Masse und der Raffinesse der Täuscher ist eine Naturkonstante: je großer die Leichtgläubigkeit, desto geringer die Raffinesse; in Zeiten verringerter Leichtgläubigkeit muß entsprechend die Raffinesse erhöht werden. Die Roßtäuschermethode, die deutschen Politiker und Publizisten als "die wichtigsten Opfer der Werbetrommler vom Pentagon" herunterzustilisieren, und den lnformations- und Geldmangel der Redaktionen zu beklagen, würde man in anderen Bereichen als höhere Gaunerei bezeichnen.
Das schließt natürlich die Möglichkeit nicht aus, daß Ihr Essay weniger trickreichen als lauteren Motiven entsprungen ist. Dann sollte der retrospektiven Einkehr die persönliche Läuterung und die Probe auf’s Exempel folgen. Ich möchte daher anfragen, ob Sie, sehr geehrter Herr Scharlau, einen Essay "Der Nahost-Konflikt in der deutschen Presse" zu schreiben geneigt sind. Sie werden kaum bestreiten, daß die einseitige Stellungnahme der deutschen Nachrichtenmedien zu diesem Konflikt die Vietnamerfahrungen bei weitem übertrifft. Ich biete mich an, Ihnen bei der Informationsbeschaffung behilflich zu sein, Ihnen die Bücher zu nennen, die "heute praktisch unverkäuflich in den Regalen der Verlage" liegen, und jene, die "gar nicht erst ins Deutsche übersetzt wurden". Ich bin auch bereit, damit Ihre Redaktion finanziell nicht überfordert wird, Ihnen diese Bücher leihweise zu überlassen. Wenn Sie sich beeilen, wird dieser Essay nicht das Schicksal Ihres anderen teilen, nur von "marginaler Bedeutung" zu sein, weil "die Eskalation… als Konsequenz einer öffentlichen Meinungsbildung in der Inkubationsphase des Konflikts" schon vollzogen sein wird. Mit Debatten und mit Geld wird es nicht zu ändern sein, daß Winfried Scharlau einen Theo Sommer ob seiner Vietnam-Interpretationen von anno 1961 vorsichtig tadeln muß, und ein künftiger Scharlatan den ersteren ob des nächsten Presse-Malheurs, um das Ansehen des Journalismus zu retten. Ihre Zivilcourage ist gefragt, Herr Scharlau, Ihre Marginalien zum Offenkundigen sind entbehrlich.
Aber das ist wohl zuviel verlangt von der "intellektuellen Elite des Journalismus", die "ungute Gefühle … sorgsam unter Kontrolle hält" und dabei mit schöner Regelmäßigkeit die "Inkubationsphase" verpaßt.
Mit besten Grüßen (gez. H. Spehl) Kopie an den Herausgeber von rororo aktuell.
Dr. Winfried Scharlau an H. Spehl
Hamburg, 18. November 1971
Sehr geehrter Herr Spehl: Ich bestätige den Eingang Ihres Briefes vom 14. November. Es tut mir leid, daß es mir nicht gelungen ist, die Intentionen Ihres Briefes klar zu erkennen. Allerdings stimme ich Ihnen zu, daß es sich durchaus lohnte, nicht nur über die Vietnam-Berichterstattung, sondern auch über die Nahost-Berichterstattung zu schreiben. Warum Sie allerdings daraus einen Vorwurf gegen mich formulieren, ist mir bislang nicht einsichtig geworden. Da Sie indes über so vorzügliches Material verfügen (ich mich hingegen auf Grund eigener Erfahrungen lieber über Vietnam als über den mir kaum bekannten Nahen Osten äußern möchte), läge es doch auf der Hand, Sie machten sich selbst an die Arbeit.
Mit besten Empfehlungen (gez. Dr. Winfried Scharlau)
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Freiburg, 20. November 1971
Sehr geehrter Herr Scharlau: Es scheint das Schicksal des Journalisten zu sein, daß ihm nur einfällt, was auf der Hand liegt. Wenn auf der Hand liegt, daß ein ungebetener Briefschreiber alles besser wissen will, fällt jenem ein, dieser möge sich gefälligst selbst an die Arbeit machen. Man sollte sich aber bei Einfällen, die jeder andere auch haben kann, Zurückhaltung antun. So darf ich Ihnen mitteilen, daß ich den Einfall schon im Mai 1967 hatte. Das Ergebnis dieses Einfalls sind lediglich viereinhalb Jahre Erfahrungen mit Journalisten, Redaktionen und Lektoren, die mich nicht mehr so leicht von der Überzeugung abbringen können, daß diese Branche neben der Produktion von Gemein- und der Erhaltung von Schreibtisch-Plätzen mit nichts so beschäftigt ist, wie mit dem Totschweigen von nicht opportunen Meinungen. Naiverweise bin ich noch immer auf der Suche nach den Ausnahmen der Regel. Da es Ihnen nicht gelungen ist, diese Intention meines Briefes zu erkennen, müssen wir’s dabei belassen.
Aber vielleicht darf ich Sie um etwas bitten. Ich habe so manche Ihrer Erklärungen und Bekräftigungen im Ohr, mit denen Sie die unsäglichen Israel-Berichte des Herrn Edmund Gruber im WELTSPIEGEL der ARD präsentieren. Sie mögen sich nichts weiter dabei denken, aber ich kann Ihnen versichern, daß einige Ihrer Äußerungen die paar Palästinenser in Deutschland zu Gefühlen veranlassen, die Ihnen hoffentlich ein Leben lang erspart bleiben. Es wäre daher schön, wenn Sie bitte daran denken könnten, sich künftig in Ihrer Sendung lieber über Vietnam, als über den Ihnen kaum bekannten Nahen Osten zu äußern.
Es genügt, wenn Herr Gruber nicht weiß, was er tut.
Mit den besten Grüßen (gez. H. Spehl)