Israelis können zum deutschen Rentensystem beitreten
F.A.Z., 08.09.2010, Nr. 208 / Seite 48
Prozess mit internationalen Verwicklungen
Wiesbadener soll zu Lasten israelischer Rentner Millionen veruntreut haben
WIESBADEN. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden schien sich ihrer Sache gewiss: Der ehemalige Bankdirektor Martin J. H. habe sich der Untreue “durch 14 selbständige Handlungen” schuldig gemacht, heißt es in ihrer schon im September 2003 erhobenen Anklageschrift. Es geht darin um etliche Millionen Euro beziehungsweise amerikanische Dollar, die H. zwischen Ende Juli 1998 und Mai 2000 in die eigene Tasche gewirtschaftet haben soll. Hintergrund ist ein Sozialversicherungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staat Israel, das israelischen Staatsbürgern, unabhängig davon, ob sie Verfolgte des Naziregimes waren, den Beitritt zum deutschen Rentensystem ermöglicht hat. Einer 1980 in Kraft getretenen Vereinbarung zufolge konnten sich Israelis rückwirkend bis 1956 in die deutsche Rentenkasse einkaufen.
Von dem Angebot schienen trotz der damit verbundenen extrem günstigen Konditionen zunächst offenbar nur wenige Israelis Gebrauch zu machen – bis sich eine “Organisation für die Implementierung des Sozialversicherungsabkommens Israel-Bundesrepublik Deutschland” der Sache annahm. Die von dem israelischen Rechtsanwalt Israel Perry gegründete Organisation offerierte israelischen Staatsbürgern Hilfen bei Antragstellung und Finanzierung der Beitragsnachzahlungen. Bei dem “Geschäftsmodell” sollen mit Wissen der damaligen Bundesanstalt für Arbeit (BfA) so hohe Gebühren und Honorare angefallen sein, dass die israelischen Rentner nur ein sehr geringer Prozentsatz der von Deutschland gewährten Rentenleistungen erreichte.
H. arbeitete laut Anklage sowohl für die Unternehmensgruppe BGO Overseas, die die Beitragsnachzahlungen finanziert hat, als auch für die Britannia Holding, über die die Kredite wegen des in der Regel hohen Alters der Kreditnehmer rückversichert wurden. In dem Zusammenhang soll er in großem Umfang Gelder auf eigene Firmen und Stiftungen umgeleitet haben. Perry verbüßt derzeit eine zehnjährige Haftstrafe in Israel. Im Jahr 2007 unter anderem wegen Betrugs zu zwölf Jahren verurteilt, wurde die Strafe auf seine Berufung hin auf zehn Jahre abgemildert.
Der Prozess gegen H., der einst mit Perry zusammengearbeitet haben soll, steht hingegen immer noch aus. Elf Jahre sind mittlerweile vergangen, seit die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Wiesbadener aufgenommen hat, sieben Jahre seit Anklageerhebung zunächst zur 1. Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden. Dass die sich für nicht zuständig erklärte, weil das Verfahren als Wirtschaftsstrafsache anzusehen sei, kann eine gewisse Verzögerung begründen, nicht aber die extrem lange Verfahrensdauer.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält bei übermäßiger Verfahrensdauer sogar einen Entschädigungsanspruch für begründet. Entsprechendes hat die Bundesregierung mit ihrem im August vorgelegten Entwurf für ein “Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren” beschlossen. Danach muss der Staat – immer unter Berücksichtigung des Einzelfalls – einen Verfahrensbeteiligten entschädigen, wenn er “infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet”.
Auf den Prozess gegen H. drängen derzeit vor allem die Angehörigen Perrys. Nach ihrer Version hat H. den israelischen Anwalt beziehungsweise dessen Firmen um 3,5 Millionen Euro betrogen. Tamar Perry-Greenspoon, die Tochter des Geschädigten, befürchte inzwischen, dass ausländische Geschädigte vor deutschen Gerichten durch Verschleppung um ihr Recht gebracht würden, heißt es in einer Pressemitteilung. Perrys Frankfurter Rechtsanwalt Eberhard Kempf hält das in Israel gegen seinen Mandanten ergangene Urteil für falsch. H. habe mit Falschaussagen im Prozess Perry wesentlich dazu beigetragen, dass sein Mandant “völlig unschuldig im Gefängnis” sitze, sagte Kempf dieser Zeitung. Seine Familie setze jetzt in Israel auf ein Wiederaufnahmeverfahren – und hoffe wohl auch deshalb, dass H. in Deutschland “endlich wegen Untreue zum Nachteil Perry verurteilt wird”. Von der Verteidigung des Angeklagten H. war zu dem Verfahren keine Stellungnahme zu erhalten.
Die Wiesbadener Wirtschaftsstrafkammer rechnet unterdessen damit, den Prozess gegen ihn “jedenfalls noch in diesem Jahr” beginnen zu können, wie der Vorsitzende Richter Jürgen Bonk auf Anfrage sagte. Abgesehen von der Belastung der Kammer mit sogenannten Haftsachen, die regelmäßig vorzuziehen seien, begründete Bonk die lange Verfahrensdauer insbesondere damit, dass die Kammer zur Aufklärung des Sachverhalts auf internationale Rechtshilfe angewiesen sei. Im Fürstentum Liechtenstein oder auch in Israel lebende Zeugen hätten erfahrungsgemäß nur mäßiges Interesse, zur Vernehmung nach Deutschland zu kommen, weshalb man die dortigen Behörden um deren Einvernahme ersucht habe. Und auch die Übersetzung der von den israelischen Behörden übersandten mehreren hundert Seiten Gerichtsprotokolle über die Aussage des Angeklagte H. im Prozess Perry habe viel Zeit beansprucht.
Jetzt steht dem Prozessbeginn laut Bonk nur noch die Antwort auf sein Ersuchen im Weg, den Inhaftierten Perry während der Hauptverhandlung per Videokonferenz vernehmen zu können. Er rechne fest damit, dass die als “technikfreundlich geltenden” israelischen Behörden dem Rechtshilfeersuchen zustimmen würden. HEIDI MÜLLER-GERBES