»Jegliche kriegerische Handlung ist mir zuwider«
»Jegliche kriegerische Handlung ist mir zuwider«
Gespräch mit Helga Picht. Zum 69. Jahrestag der Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea am 9. September
Interview: Rainer Werning Junge Welt, 9.9.2017 Was bewog Sie, sich ausgerechnet intensiv mit Korea zu befassen und sogar Koreanistik zu studieren?Als jemand, der 1934 geboren wurde, gehöre ich zu der schwindenden Generation, die den deutschen Faschismus und den von ihm angezettelten Zweiten Weltkrieg mit all seinen blutigen Vermächtnissen unmittelbar erlebt hat. In einer Arbeiterfamilie geboren, verbrachte ich meine frühe Kindheit – allerdings fast ohne Vater, der als Autoschlosser schon 1938 »eingezogen« worden war – in der Waldgaststätte »Monplaisir« in Schwedt an der Oder. Als meine Mutter 1942 zur Arbeit in einer Uniformschneiderei »dienstverpflichtet« wurde, zog ich in die kleine Hinterhofwohnung meiner Großeltern. Sie habe ich in guter Erinnerung als Menschen, die nur von dem Verbrecher Hitler sprachen. Vor allem meiner Großmutter bin ich zu tiefstem Dank verpflichtet, weil sie mich früh lehrte, Menschen respektvoll zu begegnen und sie selbst tatsächlich christliche Nächstenliebe praktizierte.
Die Erfahrungen, die ich als Elfjährige auf der Flucht aus meiner Heimatstadt bis ins weiter westlich gelegene Prenzlau machen musste, und die Rückkehr in das zu 80 Prozent zerstörte Schwedt ließen mich die damals in ganz Deutschland vorherrschende Überzeugung »Nie wieder Krieg!« vollumfänglich nachvollziehen. Der nächste große Krieg, den meine Generation erleben musste, war der Koreakrieg, der zwischen 1950 und 1953 die ganze Welt erschütterte, und selbst laut US-amerikanischen Angaben vier Millionen Menschen das Leben kostete, darunter zwei Millionen Koreaner – zum größten Teil Zivilisten. Der amerikanische Ostasienhistoriker Bruce Cumings kommt am Ende seines Buches »Korea’s Place in the Sun« zu dem Schluss: »Der kalte Krieg war nirgends so eisig wie hier (…) und er ist noch nicht zu Ende.«
Bis 1952 in der Einheitsschule und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) antifaschistisch erzogen, wuchs mein Interesse an Geschichte und fremden Sprachen. Deshalb bewarb ich mich nach dem Abitur 1952 für das Studium der Sinologie an der Humboldt-Universität Berlin. Die Aufnahme war an das Studium einer zweiten ostasiatischen Sprache geknüpft. So entschieden sich einige von uns – nicht zuletzt unter dem Einfluss weltweiter Solidarität mit dem um seine Existenz kämpfenden Nordkorea – für die koreanische.
Wann waren Sie das erste Mal in dem Land?
Von 1955 bis 1956 bot sich mir die Möglichkeit, ein einjähriges Dolmetscherpraktikum an der Botschaft der DDR in der Demokratischen Volksrepublik Korea, DVRK, zu absolvieren. Dieses Praktikum legte den Grundstein meiner über 20 Jahre währenden Tätigkeit als Regierungsdolmetscherin zwischen den politischen Spitzenvertretern beider Staaten. Dieser Aufenthalt prägte auch nachhaltig mein Weltbild. Er bestärkte mich in meiner strikten Ablehnung: Jegliche kriegerische Handlung ist mir zutiefst zuwider. Nordkoreas Hauptstadt war dem Erdboden gleichgemacht worden, die anderen Städte des Landes und seine Industrieanlagen waren vernichtet, große Teile der Bevölkerung lebten in Berghöhlen und Erdlöchern. Später dann fand ich bei meinen Literaturübersetzungen folgenden Satz der bedeutendsten südkoreanischen Romanschriftstellerin Pak Kyong-ni: »Krieg ist die größte Tragödie, mit der die Menschheit als Ganzes sich gegen sich selbst versündigt.«
Eben wegen dieser Grunderkenntnis begann ich im vorigen Sommer, die Bücher des US-amerikanischen Historikers Bruce Cumings systematisch zu studieren und habe bei ihm eine schonungslose Abrechnung mit der Aggressivität seines Landes als Weltgendarm gefunden. Das begann mit den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und dauert bis heute mit dem fortwährenden Koreakrieg, dem für die USA verlorenen Vietnamkrieg, den Nahostkriegen und den daraus resultierenden über 700 Militärstützpunkten der USA in mehr als 100 Ländern an.
Schier unglaubliche Leistungen vollbrachten in diesen Jahrzehnten die Koreaner in ihrem noch immer gespaltenen Land. Eine Leistung, die eigentlich die internationale Berichterstattung über die Wunder am Taedong-Fluss im Norden und am Han-Fluss im Süden bestimmen sollte. Statt dessen entscheidet immer noch der »Weltgendarm« USA über die allgemeine Berichterstattung. Das kleine Nordkorea wird der Bedrohung der USA und des Weltfriedens bezichtigt und die Begründung seiner auch mir nur schwer verständlichen Rüstungspolitik wird nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die nämlich lautet: Keines der von den USA angegriffenen kleinen Länder hat über eigene Atomwaffen und Abwehrraketen verfügt. Eben deshalb müsse sich Nordkorea mit eigenen Waffen wehren.
Seit der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes von Kwangju im Jahre 1980 begann sich in Südkorea eine – besonders an den Universitäten – verbreitete Bewegung gegen die von den USA hofierten Militärdiktaturen auszubreiten, die schließlich 1998 zur Präsidentschaft des 2009 verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung führte. Mit seiner »Sonnenscheinpolitik« gegenüber dem Norden leitete er eine Entwicklung ein, deren Früchte sich gerade in dem erneuten Verhandlungsvorschlag des Präsidenten Moon Jae-in an den Norden zeigen. Ich hoffe sehr, dass die Verantwortlichen in Pjöngjang darauf positiv antworten, um zumindest einen kleinen Schritt zu tun, das seit Juli 1953 lediglich bestehende Waffenstillstandsabkommen in einen längst überfälligen Friedensvertrag umzuwandeln.
Sie waren unter anderem Chefdolmetscherin bei Gesprächen zwischen hochrangigen Vertretern der DDR und der DVRK – darunter Staatsgründer Kim Il-sung. Wie würden Sie die Beziehungen zwischen beiden Ländern bezeichnen und welchen Eindruck machte Kim auf Sie?
Infolge meiner relativ guten Sprachkenntnisse war ich ab 1955/56 zum Dolmetschen eingesetzt worden, ab Mitte der 1960er Jahre dann auch unter den höchsten Funktionären. Die dabei gemachten Erfahrungen haben meine Sprach-, Landes- und vor allem Geschichtskenntnisse außerordentlich gefördert. Für Kim Il- sung und Erich Honecker habe ich vor allem in den 1970er und 1980er Jahren gearbeitet. Meiner Ansicht nach hat niemand das Recht, aus so kurzen Begegnungen Charaktereinschätzungen vorzunehmen. Doch Kim Il-sung habe ich nur als ehrlichen, gebildeten und überzeugenden Gesprächspartner kennengelernt.
Wann und warum hat sich Ihrer Meinung nach der Personenkult um Kim Il-sung entwickelt?
Als DDR-Bürgerin, die sich auch für andere, nicht nur sozialistische Länder interessierte, habe ich auf vielen Gebieten die Erfahrung gemacht, dass es nicht nur in Nordkorea, sondern auch in den Musterländern der Demokratie, als die sich heute viele darstellen, Kult um einzelne Personen gibt, die der Entfaltung einer echten Demokratie aber gerade entgegenwirken. Denken Sie nur an den gegenwärtig überall zu beobachtenden Wahlrummel und die unerhört aufwendigen Treffen der »Mächtigsten der Welt«. Die ständige Überhöhung der Rolle Kim Il-sungs begann Mitte der 1950er Jahre und hatte historische Gründe. Im Zusammenhang mit »Dschutsche«, dem Streben nach Subjektivität und Unabhängigkeit in Abwehr zunehmender sowjetischer und chinesischer Einmischungsversuche, sowie dem Ringen zwischen Moskau und Beijing um Hegemonie in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung nahm dieser Kult ständig zu und gipfelt in der bis heute währenden Familiendynastie.
Warum wird die DVRK in westlichen Medien stets ausschließlich mit Negativetiketten belegt?
Seit ich 1955 Thomas Mann den »Antikommunismus als Grundtorheit des 20. Jahrhunderts« charakterisieren hörte, kann ich mich heute nur darüber wundern, dass man sich nicht wenigstens im 21. Jahrhundert anschickt, diesen Anachronismus zu überwinden. Es gibt immer noch mehr oder weniger mächtige Leute, die dafür töricht genug sind.
Nordkoreas politische Führung misst dem Konzept des »Dschutsche« höchste Bedeutung bei und versteht es als ureigene Ausprägung des Sozialismus. Wie würden Sie die DVRK charakterisieren?
Nicht nur die nordkoreanische Führung, sondern auch südkoreanische Gelehrte und Politiker messen Dschutsche bzw. dem im Süden Dschadschusong genannten Begriff für nationale Eigenständigkeit große, ja wachsende Bedeutung zu. In der DDR habe ich meine beiden Qualifizierungsarbeiten und andere Arbeiten darüber verfasst und war deswegen nicht geringer Kritik ausgesetzt, zumal sich seit spätestens 1976 im Parteiapparat die Tendenzen der Unterordnung unter die Weisungen aus Moskau ständig verstärkten. Aktuell kann man die DVRK ähnlich wie China den Produktionsverhältnissen nach als sozialistische Gesellschaft bezeichnen. Von entwickelter Demokratie kann allerdings keine Rede sein, doch gerade an diesem Mangel sind eben die DDR und die Mehrzahl anderer sozialistischer Länder zugrunde gegangen.
Was ist das Hauptkalkül der nordkoreanischen Führung in Verfolgung ihres Atomprogramms?
Die nordkoreanische Begründung für das Atomprogramm habe ich oben schon angeführt. Ob das Kalkül aufgehen wird, damit vor allem die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen, vermag auch ich nicht zu beantworten. Der letzte Raketentest stimmt mich nicht gerade optimistisch.
Wann reisten Sie das erste Mal in die Republik Korea und was waren die aus Ihrer Sicht auffälligsten Kontraste zum Norden?
Seit dem Kontakt zu südkoreanischen Wissenschaftlern 1984 war ich mehrfach zu Studienaufenthalten eingeladen, die jedoch durch die SED-Bürokratie verhindert wurden. So nahm ich im August 1990 die Einladung nach Südkorea mit Freude und großen Erwartungen an. Das erste Gespräch hatte ich mit der Abgeordnetengruppe der Demokratischen Partei im Parlament, und dann hatte ich keine Zeit mehr für meine wissenschaftliche Arbeit. Man reichte mich nämlich durch Fernsehen, Rundfunk, Zeitungsredaktionen und zahlreiche wissenschaftliche Institutionen sozusagen als »bunten Hund« weiter.
Von niemandem wurde ich unfreundlich behandelt. An den Universitäten beeindruckten mich vor allem die Fragen nach meinen Erfahrungen in Nordkorea, meine Antworten wurden nie unsachlich aufgenommen. Doch im August 1990 wollten viele Zuhörer natürlich etwas über die deutsche Vereinigung hören und baten um Ratschläge. Ich schlug dann lediglich vor, es auf keinen Fall auf deutsche Art und Weise zu tun.
Beim nächsten Besuch im 1991 neugegründeten Institut für friedliche Vereinigung hörte ich dann von Wissenschaftlern mit Interesse die Warnung vor der deutschen »Schluckvereinigung«, »hypsu thongil«, weil das für Südkorea zu teuer würde. Dabei war die allerorten sichtbare Überlegenheit der neu entstandenen, beeindruckenden Konsumgesellschaft sowie das Bemühen um demokratische Offenheit und den Abbau der Folgen der dreißig Jahre lang herrschenden Präsidialdiktaturen zu spüren. Bis heute konnte ich mich davon überzeugen, dass trotz mancher Rückschläge gerade in den letzten Monaten wieder Fortschritte, wie die Absetzung der Präsidentin und die demokratische Neuwahl eines nicht durch die vorherigen Diktaturen belasteten neuen Präsidenten sichtbar wurden.
Was waren für Sie die schmerzlichsten Erfahrungen im Zuge der »Wende« vor reichlich einem Vierteljahrhundert?
Beleidigt fühlte ich mich vom ersten Tage an dadurch, dass jeder DDR-Bürger, der sich nicht zum Widerstandskämpfer gegen den »Verbrecherstaat DDR« hochstilisieren lassen wollte, kriminalisiert und in den sogenannten Evaluierungskommissionen als nicht zurechnungsfähig behandelt wurde. Deshalb habe ich auch im März 1992 einen »Aufhebungsvertrag im gegenseitigen Einvernehmen« mit der Personalstelle der Humboldt-Universität unterzeichnet und meinen Lehrstuhl – den ersten für ganz Deutschland, den ich seit 1986 innehatte – »freiwillig« verlassen. Ich konnte das leichter als andere Kollegen tun, weil ich wusste, dass die südkoreanische Wissenschaft mich fördern würde. Finanziell unterstützt wurde ich zudem von der im August 1990 in Osaka gegründeten »International Society for Korean Studies«.
Als nach wie vor schwerste Beleidigung empfinde ich es, wenn nicht nur leichtfertige Journalisten, sondern bis heute auch Historiker von den »zwei Diktaturen in Deutschland« sprechen. Damit sollen der Faschismus und der von ihm angezettelte Zweite Weltkrieg mit seinen Abermillionen Opfern auf eine Stufe mit der DDR gestellt werden, die trotz ihrer selbstmörderischen Entwicklungsfehler keine Soldaten im Ausland eingesetzt hat.
Zusammen mit der koreanisch-deutschen Dolmetscherin und Übersetzerin Nataly Han arbeiten Sie seit langem an einem ambitionierten Übersetzungsprojekt. Um was handelt es sich genau und was rechtfertigt diesen beträchtlichen Aufwand?
Am Anfang meiner freiberuflichen Tätigkeit begann ich mich mit Hilfe einer großzügigen Förderung seitens des Korean Literature Translation Institute meinem langjährigen Hobby, der Übersetzung moderner koreanischer Literatur, zu widmen und hatte von Anfang an mit kleineren Arbeiten Erfolg. Dann las ich ein paar Jahre lang die im Süden erschienenen Literaturgeschichten und fand heraus, dass alle Autoren den zwanzigbändigen Roman »Land« von Pak Kyong-ni als »Leuchtturm der koreanischen Literatur« oder »Schatzkammer der koreanischen Sprache und Kultur« würdigten.
Zudem ergab eine Umfrage des oben erwähnten Instituts, dass über 40 Prozent der befragten Leser sowohl die Autorin als auch den wahrlich nicht leicht zu erschließenden Roman als ersten in fremde Sprachen übersetzt sehen wollten. Da entschloss ich mich nach persönlichem Kontakt mit der Autorin, meine verbleibende Lebenszeit dieser Mammutaufgabe zu widmen. Hätte ich ein solches Werk zu Beginn meines Studiums in deutscher Sprache lesen können, hätte ich nicht Jahrzehnte gebraucht, um die Sprache, Geschichte, Kultur sowie die Seele und den nagenden Gram des ganzen koreanischen Volkes wenigstens annähernd zu begreifen.
Gemeinsam mit der Absolventin der Humboldt-Universität Nataly Han Jung-Hwa – sie ist heute Vorstandsvorsitzende des Korea Verbandes e. V. in Berlin – und anderen Koreanern haben wir es geschafft, die ersten vier Bände, das entspricht acht Bänden des zwanzigbändigen Originals, in dem kleinen, mutigen Secolo-Verlag in Osnabrück herauszubringen.
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Helga Picht studierte an der Humboldt-Universität in Berlin Sinologie und Koreanisch und u. a. koreanische Literatur an der Kim-Il-sung-Universität in Pjöngjang. Ab 1962 arbeitete sie als Dolmetscherin für Koreanisch, unter anderem bei Staatsbesuchen von Erich Honecker und Kim Il-sung. 1980 übernahm Picht die Leitung der Korea-Abteilung an der Humboldt-Universität, wurde 1986 erste ordentliche Professorin für Koreanistik in Deutschland und leitete das Institut bis 1992. Seitdem arbeitet sie als Übersetzerin.