Judith Butlers Kritik am Zionismus – ein Plädoyer für Humanität
http://www.neues-deutschland.de/artikel/919062.keine-frage-von-liebe-oder-hass.html
27.12.2013 / Literatur/Politisches Buch / Seite 16
Keine Frage von Liebe oder Hass
Judith Butlers Kritik am Zionismus – ein Plädoyer für Humanität
Von Rupert Neudeck
In den USA, so Judith Butler, gilt die Frage: »Sind Sie Zionist?« als identisch mit der, ob man an das Existenzrecht Israels glaube. Dagegen antwortet die US-amerikanische Philosophin ganz klar, man könne »nicht Zionist sein und zugleich für ein gerechtes Ende der kolonialen Unterdrückung kämpfen«. Sogar die sozialistischen Experimente der Kibbuz-Bewegung seien integraler Teil des Siedlerkolonialismus. Und in Anlehnung an Hannah Arendt schreibt sie: »Wenn Juden nur den Tod von Juden in den Konflikten betrauern, bekräftigen sie damit, dass nur die Angehörigen der eigenen Religion und des eigenen Volkes der Trauer wert sind.« In der israelischen Öffentlichkeit sei allzu oft zu vernehmen, »ein einziges israelisches Leben sei mehr wert als viele palästinensische«. Solch obszöne Rechnungen lehnt die Humanistin Judith Butler strikt ab.
Nicht nur an Hannah Arendt knüpft die Autorin an. Sie bezieht sich auch auf Walter Benjamin. Sie fragt: »Kann Benjamin uns beispielsweise helfen, den Krieg im Südlibanon im Sommer 2006 oder den Krieg gegen Gaza 2008/09 zu verstehen?« Und konkreter: Wann ist die vom Staat Israel beanspruchte »Selbstverteidigung« gerecht? Verteidigung gegen Aggressionen ist legitim – was aber auch für die palästinensische Selbstverteidigung gelten müsste. Doch wann löst sich Selbstverteidigung »vom Problem des Selbsterhalts und legitimiert stattdessen ungezügelte Gewalt?«
Opfer sind nicht immer bessere Menschen, weiß Judith Butler. Sie ist Edward Said (1935-2003), US-amerikanischer Literaturkritiker mit palästinensischen Wurzeln, dankbar. Sie fühlt sich von seinen Überlegungen »beschenkt«. Said hatte sich neu mit Moses beschäftigt. Für den Begründer des jüdischen Volkes war das Judentum ohne das arabische Element undenkbar. Juden seien, so Said, nicht ohne Beziehung zu Nicht-Juden zu definieren. »Wenn wir bedenken, dass Moses kein Europäer war, bedeute das, dass der nicht europäische Jude, der arabische Jude am Anfang unseres Verständnisses des Judentum steht – eine Gestalt, in der sich Araber und Jude nicht voneinander trennen lassen.«
Butlers Buch verteidigt die stetig verunglimpften Kritiker israelischer Siedlungs- und Besatzungspolitik, von Uri Avnery bis Rolf Verleger. »Wenn ein Israeli öffentlich sagt, er oder sie wolle gern in einem säkularen Staat leben, wird diese Position und Person gewöhnlich als Helfershelfer der Zerstörung des jüdischen Staates oder als Verräter verschrien«, schreibt Judith Butler. Äußert sich ein Palästinenser in diesem Sinn, ist er möglicherweise »terroristisch«. Fassungslos fragt sich Judith Butler, wie es dazu kommen konnte, dass Vorstellungen und Ideen des klassischen Liberalismus (Trennung von Staat und Religion, Gleichheit aller vor dem Gesetz) zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Israel (sowie in den USA und in der Europäischen Union) des Terrorismus oder einer Genozidabsicht verdächtigt werden.
Auch meinem Mentor Martin Buber wäscht Judith Butler den Kopf. Dessen Argumentation hätte einen blinden Fleck. Der große österreichisch-jüdische Religionsphilosoph lehnte zwar den Zionismus als ungerecht gegenüber den Arabern ab, habe aber die jüdische »Einwanderung« nach Palästina und jüdische Siedlungen idealisiert. Sein Wort vom »konzentrierenden statt expansionistischen Kolonialismus« rufe historisch wie aktuell erschreckende Assoziationen wach. Judith Butler verweist auf den »konzentrierenden Kolonialismus im Westjordanland und vor allem im Gaza …, wo die Lebensumstände ganz nach dem Modell der Konzentration beengt und verarmt sind«.
Interessant ist die zitierte Antwort von Hannah Arendt auf einen Vorwurf von Gershom Scholem (1897-1982), sie habe nicht die »Ahabath Israel«, die Liebe zu den Juden. Arendt gab dem Religionshistoriker recht: »Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe unfähig.« Butlers Buch endet mit einer langen Passage aus dem »Gedächtnis für das Vergessen«, einer literarischen Erinnerung des palästinensischen Dichters Mahmut Darwish (1941-2008) an die Bombardierung Beiruts 1982. Er beschreibt darin eine Szene mit seiner jüdischen Geliebten. »Hasst Du Juden?«, fragt sie ihn. »Momentan liebe ich dich.« Die Freundin insistiert: »Aber Du hast mir noch nicht gesagt, ob Du Juden liebst oder sie hasst«. Darwisch anwortet: »Was ich weiß, ist, dass ich Euripides und Shakespeare liebe, und gebratenen Fisch liebe ich, die Musik von Mozart, die Stadt Haifa. Und ich liebe Weintrauben, geistreiche Gespräche. Ich liebe das Obskure an ausgereifter Poesie. Aber die Juden, das ist keine Frage von Liebe oder Hass«.
Judith Butler: Am Scheidewege. Judentum und die Kritik am Zionismus. Campus Verlag. 277 S., geb., 28,90 €.