Kinderfreizeit vor Gericht
Kinderfreizeit vor Gericht
Westdeutsche Kinder in DDR-Ferienlager. Verbot der Aktion »Frohe Ferien für alle Kinder« (Teil 2 und Schluss)
Von Burga Kalinowski, Junge Welt, 24.8.2016
Kinderfreizeit in der DDR – Zehntausende Kinder fuhren zwischen 1954 und 1960 mit Sonderzügen zu Ferienaufenthalten in die DDR. Die Bundesregierung befürchtete deshalb eine »Aufweichung der Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Kommunismus«, wie es aus dem Gesamtdeutschen Ministerium hieß, und verbot die Zentrale Arbeitsgemeinschaft »Frohe Ferien für alle Kinder« im Juli 1961
Foto: Foto: “Frohe Ferientage fuer alle Kinder. Ferienlager in der DDR”. Mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Buddrus
Der erste Teil des Beitrags der Journalistin Burga Kalinowski erschien an dieser Stelle am Mittwoch, den 17. August.
»Liebe Frau Junge! In unserer Zeitung stand, das sie eingesperrt werden sollen, weil sie sich gekümmert haben daß westdeutsche Kinder bei uns ihre Ferien verbringen. Für so eine gute Tat sollen sie eingesperrt werden? Ein schönes Weihnachtsfest wünscht ihnen der Schüler Werner Leupold aus Dedeleben.«
So steht es in einem der Briefe, die Lore Junge im Dezember 1963 zuhauf erhalten hat. Drei dicke Hefter mit Briefen und Karten, teilweise mit weihnachtlichen Buntstiftzeichnungen umrahmt. Von Kindern aus der DDR nach Dortmund geschickt: als Protest, als Ermutigung, als Weihnachtsgruß. Am 17. November 1963 hatte der Prozess gegen Lore Junge begonnen, die Urteilsverkündung war für den 23. Dezember vorgesehen (siehe die Erklärung im Kasten, jW). In einer Mappe habe ich 237 Postsendungen gezählt. Aus Wismar, Plauen, Magdeburg, aus einem erzgebirgischen Dorf, aus Seelow, Borna, Oschersleben, Eisenach, Greiffenberg, von der Heimoberschule Wilhelmsthal, der Polytechnischen Oberschule Marksuhl und von Werner Leupold. Der Brief gefällt mir: Er ist kurz und bündig, mit kleinen Fehlern – der Junge hat ihn wahrscheinlich schnell geschrieben, dann wollte er spielen gehen. Nicht alle Briefe sind so natürlich. Aber alle verleihen dem Wunsch zu helfen Ausdruck: der von Gabriele aus Eisenach, der aus Wilhelmsthal, der aus Marksuhl.
Solidarität lernen
Marksuhl liegt 15 Kilometer südwestlich von Eisenach. Eine schöne Gegend. Ein bisschen wie hinter den sieben Bergen. Ein hübsches Städtchen mit etwa 2.800 Einwohnern. Die meisten leben schon immer hier. Vielleicht finde ich ja einige der Kinder der fünften Klasse, die 1963 an Lore Junge geschrieben haben. Was ist aus ihnen geworden? Wie erinnern sie sich an diese Zeit, die ihre Kindheit war? Wollen sie sich erinnern? Nein, sagt einer ganz entschieden und legt sofort den Hörer auf. Nee, besser nicht, reagiert ein anderer. Warum nicht? Ist doch vorbei, heißt die Antwort. Schließlich sagt eine der zwei Reginas aus der Klasse von damals zu. Ich weiß nicht, ob Solidarität unter heutigen Schulkindern ein gebräuchliches Wort ist. Regina D. glaubt, dass sie damals irgendwie selbstverständlich war. Sie erinnert sich an Aktionen für Angela Davis, für den chilenischen Kommunisten Luis Corvalán, an Fahrräder für Vietnam. Das war später. Sie erkennt auch ihre Unterschrift auf dem Brief – aber von dieser Aktion für Lore Junge weiß sie nichts mehr. »Sie kam vor Gericht, weil sie für westdeutsche Kinder Ferien in der DDR organisiert hat?« fragt sie nach und schüttelt ungläubig den Kopf. Damals war sie elf Jahre alt und ist gern ins Ferienlager gefahren. »Wir hatten es gut«, sagt sie. Übrigens war ganz in der Nähe ein großes Pionierlager, das »Maxim Gorki« in Wilhelmsthal. Könnte sein, dass dort westdeutsche Kinder ihre Ferien erlebt haben.
Auf der Fahrt nach Marksuhl machen wir dort Halt. Die im 17. Jahrhundert errichtete und seit 2011 restaurierte Schlossanlage Wilhelmsthal – zu Goethes Zeit idyllischer und gern besuchter »Vorhof zu Weimar« – wurde in der DDR als Kinderheim und Schule genutzt. In der Solipost befindet sich auch ein Brief der Klasse acht der Heimoberschule Wilhelmsthal. Bärbel, Harald, Rosemarie und 14 andere Kinder wünschen Lore Junge Mut vor Gericht. Natürlich kamen 13jährige Kinder nicht spontan auf den Gedanken, Protestbriefe zu schreiben. Manche interessierte der Anlass nicht, für andere war es vielleicht der Anfang, Politik und Alltag zusammenzudenken. Ein Moment, in dem ein Gefühl wie Solidarität entstehen kann. Für Gerechtigkeit. Es kann ein Kompass im Leben sein, auch in schwierigen Zeiten. Ganz sicher hatte der Lehrer den Schülern davon erzählt, oder die Pionierleiterin. Der Dortmunder Prozess war Thema auch in den DDR-Medien. Die Frauenzeitschrift Für Dich veröffentlichte eine mehrseitige Bild-Text-Reportage, die Wochenpost einen Gerichtsbericht unter dem Titel »Der heilige Nikolaus in Dortmund« – hier ein Ausschnitt:
»Westenhellweg – Ostenhellweg, die beiden schmalen Hauptgeschäftsstraßen Dortmunds, strahlen in noch nie gesehenem buntem Glanz. Adventszeit. Der heilige Sankt Nikolaus, Schutzpatron der Kinder, hat’s nicht leicht. (…) Alle, alle blenden und werben: Komm zu mir, lieber heiliger Sankt Nikolaus! Nur manchmal beginnen seine Augen zu tränen, ein Rußkörnchen ist ihm ins Lid geflogen, und nach stundenlangem Einkaufen ist sein schneeweißer Bart leicht angeschwärzt; denn die Luft ist nicht sauber. Bei der Verkokung der Kohle, bei der Verhüttung des Eisens, beim Umschmelzen menschlicher Arbeit in Gewinne wird die Luft immer dreckiger. Dort, wo der Ostenhellweg endet, wo der Glanz der bunten Sternenstraße verblasst, dort, wo der graue Alltag des Reviers sichtbar wird, steht das Landgericht. Und der heilige Sankt Nikolaus nimmt Anteil an einem Verfahren, das hier verhandelt wird; denn er ist nicht nur der Schutzpatron der Kinder, er ist auch der Beschützer der Schwachen gegen die Starken, der Armen gegen die Reichen, der Unterdrückten gegen die Unterdrücker.«
Braune Kontinuität
Nach mehreren Verhandlungstagen verurteilte die Politische Strafkammer des Landesgerichts Dortmund die Angeklagten Lore Junge und Viktoria Krützner wegen ihrer Mitarbeit in der Zentralen Arbeitsgemeinschaft »Frohe Ferien für alle Kinder« zu je neun Monaten Gefängnis auf Bewährung, die Angeklagte Else Funke zu sieben Monaten auf Bewährung.
Selbstverständlich ist dieser Fall ein Beispiel für die westdeutsche Gesinnungsjustiz mit ihren direkten und indirekten Berufsverboten, mit der Diffamierung linker Positionen. Das KPD-Verbot war ein Höhepunkt, nicht aber das Ende von rechtsstaatlich sanktioniertem Unrecht. Der Prozess gegen die drei Frauen ist eines der schwarzen Kapitel politischer Verfolgung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Unübersehbar, mindestens fromm geduldet, wenn nicht gar gewünscht, führen braune Schleifspuren direkt aus der NS-Zeit in bundesdeutsche Gegenwart hinein und verweisen auf personelle, strukturelle und ideologische Kontinuitäten. Was zusammengehört, hält zusammen. Das vor allem. Der Feind ist rot und kommt aus dem Osten. Und wenn nicht, wird er trotzdem erledigt. Der Grad regierungsamtlicher und behördlicher Paranoia ist erschreckend hoch. Angesichts des Jagdeifers fällt einem nur noch die »Hunnenrede« von Wilhelm Zwo 1900 gegen den Boxeraufstand in China ein. Da es rechtsstaatlich aussehen sollte, war 1951 im Bundestag zügig ein neues politisches Strafrecht verabschiedet worden. Ein CDU-Abgeordneter formulierte zufrieden, dass es »als Waffe im Kalten Krieg« funktioniere: Es ermöglichte, die einzelnen Straftatbestände unbestimmt und erfreulich beliebig auszulegen.
In einem Aufsatz zum 60. Jahrestag des KPD-Verbots stellt der Bremer Anwalt und Publizist Rolf Gössner fest, dass »das gesamte Ausmaß dieser staatlichen Verfolgung heute geradezu unglaublich« erscheine. »In der Zeit von 1951 bis 1968 gab es staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen etwa 200.000 Personen. Eingeleitet wurden sie nahezu ausschließlich wegen gewaltfreier linksoppositioneller Arbeit oder wegen politischer Kontaktschuld.« Unterm Strich stehen etwa 10.000 Verurteilungen. Seit Jahrzehnten fordern Initiativen wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Rehabilitierung und Entschädigung für die westdeutschen Opfer des Kalten Krieges. Soweit geht das heutige Rechtsbewusstsein der Entscheidungsträger freilich nicht. Es fehlt wohl »die nötige geistige Unabhängigkeit«, vermutet der Anwalt Heinrich Hannover.
Heidi Zeidler zusammen mit ihrem kleinen Bruder auf dem Hof der Großeltern im nordrhein-westfälischen Höxter kurz vor ihrer Übersiedlung in die DDR
Foto: privat
Kein Trost für Heidi Zeidler, deren Eltern wegen ihrer kommunistischen Überzeugung verfolgt werden. Ihrem Vater wird darüber hinaus auch die Entschädigung als Opfer der NS-Verfolgung aberkannt – teilweise mit der gleichen Begründung, mit der ihn die Nazis ins Zuchthaus und Konzentrationslager brachten: kommunistische Umtriebe, Hochverrat, Staatsgefährdung. Dieser Aberkennungbescheid vom 11. April 1957 belegt exemplarisch politische und juristische Verkommenheit. Ganz zu schweigen von Anstand und Menschlichkeit.
Zwei Jahre später wird Heinrich Böll in »Billard um halb zehn« den inhumanen Geist dieser Jahre literarisch verarbeiten. Rolf Hochhuth stellte 1963 mit dem Schauspiel »Der Stellvertreter« NS-Verstrickung und Doppelmoral der katholischen Kirche bloß. Schon 1947 hatte Wolfgang Borchert mit dem Drama »Draußen vor der Tür« der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vorgehalten. Inseln im Sumpf dieser Zeit.
In der DDR geblieben
Heidi Zeidlers Vater übersteht die deutschen Mörderjahre. Gemeinsam mit dem Schauspieler Erwin Geschonneck kann er sich als einer der wenigen Überlebenden des KZ-Schiffes »Cap Arcona« retten. »Immer wenn ich in die Unterlagen gucke, bekomme ich Wut.« Für die heute 74jährige Frau ist es eine ständige Konfrontation mit doppeltem Unrecht. Wenn Heidi Zeidler von ihrem Leben erzählt, wird es eine Geschichtsstunde. Der Blick zurück tut auch weh. Selbst auf Ferien und ihren 18. Geburtstag fallen die Schatten der Zeit. Nie wird sie zum Beispiel den 17. August 1956 vergessen. Drei Wochen im Ferienlager des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen in Motzen: ringsherum Wald und Wasser und »Essen, Trinken, Wandern, Burgen besichtigen, Nachtwanderung mit Kompass und Sternbilder suchen.« Keine Schulung, kein Russe, nicht mal Zeitzeugen. Ferien eben. Quatsch, was die Westzeitungen schreiben. Der Vierzehnjährigen aus Höxter gefällt es. Unbekümmert und unkompliziert gehen die »Ossis« mit dem »Wessi«-Mädchen um. Lange hat sich Heidi noch mit Brigitte aus Strausberg geschrieben. Einen Unterschied gibt es: Als einziges Kind hatte sie einen Fotoapparat. »Boy« hieß der, und sie hat wie verrückt fotografiert. Die Fotos aus diesen Ferien hat sie immer noch. Für das westdeutsche Zopfmädchen war es ein schöner Sommer. Dann nicht mehr.
Am Freitag, den 17. August, kommt die Meldung vom Verbot der KPD in Westdeutschland. Natürlich kann sie damit was anfangen. Ihre Eltern arbeiten beide in und für die KPD. In Höxter hat sie oft Broschüren und Zeitungen ausgetragen, Botengänge gemacht, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung sogar ihrer Schulbücher erlebt. Sie weiß, dass ihre Eltern unter Beobachtung stehen. Sie hat große Angst um sie. Was soll sie tun? Was ist zu Hause los? Kann sie zurück nach Höxter? Sie überlegt und fragt dann die Leiterin des Ferienlagers, ob sie in der DDR bleiben könne. Die Frage führt zu einer Lebensentscheidung – nicht sofort, sondern ein Jahr später. Wieder ist es Sommer, und in Höxter steht die Polizei vor der Tür und belauert die Familie. Um Heidi vor dem Zugriff der Kripo und des Jugendamtes zu schützen, unterstützen die Eltern die Entscheidung ihrer 15jährigen Tochter: Am 30. August 1957 fährt sie in die DDR. Ihre Eltern werden noch im Herbst 1957 verhaftet und ein Jahr später wegen illegaler politischer Tätigkeit zu Gefängnisstrafen verurteilt. Erst 1967 ist die Familie wieder zusammen – in der DDR.
Da hat Heidi Zeidler schon eine Menge guter und auch schlechter Erfahrungen gemacht. Muss aber nicht mehr erklären, warum ein junges Mädchen von West nach Ost geht – in Zeiten, in denen andere den umgekehrten Weg wählen. Sie hat sich entschieden. Ihr neues Leben beginnt in Golzow im Oderbruch. Schule, Lehre, Beruf, später noch ein Studium. Für das Mädchen ist es nicht so einfach wie gedacht. Alltag ist kein Ferienlager. Politische Wirklichkeit und politische Träume – nicht immer ein gleiches Paar. Aber das neue Land gibt ihr Chancen und Schutz – sie könnte zurückgehen in das alte. Sie bleibt da, wo ihre und die Hoffnungen ihrer Eltern einen Ort haben.
»Mein liebes, großes Mädel«, so beginnt der Geburtstagsbrief, den ihre Mutter aus dem Gefängnis in Essen an ihre bald 18jährige Tochter schreibt. Vier Wochen vor dem Geburtstag: Gefängnisvorschrift. Entweder so – oder gar nicht. Grüße, Küsse, alles Liebe. Sie haben sich lange nicht gesehen. Die Mutter freut sich über die guten Zensuren der Tochter. Und denkt zurück: »Als ich Dich vor 18 Jahren, es sind ja eigentlich 19, hier in der Nähe zur Welt brachte, brummten die Bombenflugzeuge genau so grässlich wie jetzt die Düsenflugzeuge über Essen. Wenn mir da jemand gesagt hätte, ich säße nach 18 Jahren noch immer politisch im Gefängnis, den hätte ich für irrsinnig erklärt.« Ihrer Tochter Heidi wünscht sie andere Erinnerungen. »Und nicht vergessen: Schick das Maß Deines Ringfingers.« Diesen Ring hat Heidi Zeidler noch.
Am 25. November 1963 begann vor der Ersten Politischen Strafkammer des Landgerichts Dortmund der Prozess gegen drei Frauen der Arbeitsgemeinschaft »Frohe Ferien für alle Kinder«. Die Angeklagte Lore Junge gab zu Beginn folgende Erklärung ab:
Meine Herren!
»Gefängnisgefangene dürfen alle 4 Wochen einen Privatbrief absenden.« Geburstagsbrief Hildegard Meyers an ihre in der DDR lebende Tochter
Foto: bilder: privat
Ich stehe hier als Angeklagte vor Gericht, weil ich mitgeholfen habe, Zehntausenden von Kindern aus bedürftigen Familien Ferienplätze in der Bundesrepublik und in der Deutschen Demokratischen Republik zu vermitteln.
Für viele dieser Kinder war dies das erste echte Ferienerlebnis und die erste Reise, die sie in ihrem Leben gemacht haben. (…) Diese unsere fürsorgerische Tätigkeit ist hier angeklagt, sie geschah zu einem Zeitpunkt, als sie nicht verboten war. Sie geschah mit Wissen der Kriminalpolizei und der Justiz. Sie geschah auch mit Wissen der Bundesregierung sowie der Länderregierungen, an die wir alljährlich unsere dringenden Appelle richteten, mehr für die Ferienerholung der Schulkinder in der Bundesrepublik zu tun.
Diese Tätigkeit geschah ebenfalls unter den Augen der breitesten Öffentlichkeit, mit Hilfe der Deutschen Bundesbahn, die alljährlich Zehntausende Kinder in ihren Sonderzügen – zu ermäßigter Gebühr – in die Ferienlager der Deutschen Demokratischen Republik beförderte. Diese segensreiche Tätigkeit wurde am 7. Juli 1961 durch Verfügung der Regierungspräsidenten verboten. Bis zu diesem Tage erstreckt sich meine Tätigkeit. (…)
Ich habe mich für die Belange der Kinder mit reinem Gewissen eingesetzt und mich dabei auf dem Boden des Gesetzes bewegt. Ich befand mich damit auch in voller Übereinstimmung mit der »Charta des Kindes«, die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einmütig beschlossen wurde. Sie stand unter dem Motto »Die Menschheit ist dem Kinde ihr Bestes schuldig«. Hier seien besonders die Grundsätze IV und VII der Charta erwähnt, in denen die Erholung aller Kinder gefordert und zur aktiven Mithilfe eines jeden aufgerufen wird. (…)
Mir ist unverständlich, dass die Anklagebehörde in dieser Tätigkeit Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung und Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik sieht. Mir ist ebenso unverständlich, dass sich überhaupt ein Gericht findet, welches hierzu die Hauptverhandlung eröffnet.
Ich habe mir sehr überlegt, was ich bei diesem Sachverhalt hier überhaupt noch sagen soll. Dabei habe ich immer vor Augen, dass in Vechta zwei Frauen seit acht Monaten im Gefängnis sitzen, die wegen der gleichen Tätigkeit von der Politischen Strafkammer in Lüneburg zu je einem Jahr Gefängnis verurteilt, deren bürgerliche Ehrenrechte für fünf Jahre eingeschränkt wurden und die nach Strafverbüßung unter Polizeiaufsicht gestellt werden sollen, trotzdem ihnen das Gericht bescheinigen musste, dass sie viel Gutes für die Kinder getan hätten.
Ich habe den Prozess in Lüneburg verfolgt. Die Angeklagten haben sich in dem sieben Wochen dauernden Prozess Mühe gegeben, alle Einzelheiten ihrer Tätigkeit wahrheitsgemäß zu schildern und dem Gericht die Motive ihres Handelns verständlich zu machen. Bei der Urteilsverkündung war festzustellen, dass all das von den Angeklagten Gesagte zu ihrem eigenen Nachteil ausgelegt wurde, obwohl der Gerichtsvorsitzende Dr. Cieplick mehrfach während des Prozesses betonte: »Wir wollen nur Ihr Bestes.«
Jawohl, das Beste hat er gewollt, nämlich die Freiheit. Und da die Frauen im Gefängnis nicht jammerten und klagten, da sie nach wie vor zu ihrer segensreichen Tätigkeit standen, wurde ihnen das, was man jedem Verbrecher in der Regel gewährt, nämlich der Erlass des letzten Drittels der Strafe, von eben diesem Dr. Cieplick, der nur »ihr Bestes wollte«, verwehrt.
Aus diesen angeführten Gründen besteht für mich keine Veranlassung, mich hier weiter zu der Sache zu äußern, und ich werde mich nicht an der Prozessführung beteiligen, weil ich weder Gerechtigkeit noch Verständnis erwarte. Wie soll ich Vertrauen zu einem Gericht haben, welches sich nicht scheut, den 23. Dezember als Verhandlungstag einzuplanen. Man stelle sich vor, einen Tag vor Heiligabend, an dem die Frauen der Prozessbeteiligten das Weihnachtsfest für ihre Familien vorbereiten, sollen wir drei Frauen – Mütter, und Frau Krützner ist sogar Großmutter von drei Enkelkindern – eventuell hier auf der Anklagebank sitzen und als »Weihnachtsgeschenk« unser Urteil empfangen. Und Sie, meine Herren, setzen sich dann tags darauf unter den Tannenbaum und singen: »O du fröhliche…«