Krieg in Syrien beenden! Sofort! Das Tal der Tränen
Das Tal der Flüchtlinge
Versorgung nur mit dem Allernötigsten: Im Osten Libanons leben Hunderttausende Syrer unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen
Von Thomas Eipeldauer/Beirut Junge Welt, 27. Februar 2015
Hoffen auf ein Ende des Krieges in ihrer Heimat: Syrer im libanesischen Flüchtlingslager Ghazze
Foto: WILLI EFFENBERGER
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Eineinhalb Stunden dauert die Autofahrt von Beirut in die im Osten des Libanons gelegene Kleinstadt Zahle. Man überquert das Libanongebirge und überblickt von ihm aus die schneebedeckte Bekaa-Ebene, die auf der gegenüberliegenden Seite an einem zweiten Gebirgszug, dem Antilibanon, ihr Ende findet. Hier, im wichtigsten Agrargebiet des Landes, leben etwa 400.000 der über 1,3 Millionen im Libanon registrierten syrischen Flüchtlinge. Es sind hunderte Camps, in denen sie untergebracht sind, kleinere mit fünf, vielleicht zehn Zelten, größere, in denen hundert, vielleicht noch mehr provisorische Behausungen zusammengefasst sind.
In Ghazze, zehn Minuten von Zahle entfernt, sind es etwa 700 Menschen, die hier vor jenem Krieg Schutz suchen, der seit vier Jahren mit unglaublicher Brutalität und unter Beteiligung ausländischer Mächte und Milizen in ihrer Heimat Syrien wütet. Müll stapelt sich rund um die Zeltdörfer, die im Schlamm versinken, weil der Schnee zu schmelzen beginnt. »Überall dringt Wasser ein. Alles ist nass. Es kommt von oben und von unten«, beschweren sich Frauen, als mein Kollege und ich das Camp betreten, weil sie uns für Mitarbeiter der zahlreichen Hilfsorganisationen halten, die hier tätig sind. Diese, koordiniert vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, versorgen die hier Lebenden mit dem Allernötigsten. Eine E-Card, vor einiger Zeit noch mit 30, nunmehr mit 19 US-Dollar pro Person und Monat aufgeladen, dient zum Einkauf von Nahrungsmitteln, Winterpakete mit Kleidung werden für die Kinder verteilt, Latrinen gebaut, die Wasserversorgung sichergestellt.
Was man in der Bekaa-Ebene beobachten kann, ist nichts weniger als eine der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Das auch deshalb, weil die Menschen hier – überwiegend Alte, Frauen und Kinder – keine realistische Perspektive auf Verbesserung ihrer Situation haben. Fast alle, die man fragt, sehnen sich nach ihrer Heimat. »Es war perfekt in Syrien. Wir hatten alles. Wir konnten von unserer Arbeit leben, die Gesundheitsversorgung war gratis, Bildung auch«, erzählt ein älterer Mann aus Homs.
Aber sie wissen auch, dass die Rückkehr – zumindest kurz- oder mittelfristig – nicht möglich sein wird, denn dazu bräuchte es Frieden in Syrien, und der ist nicht in Sicht. In das sich immer rigoroser abschottende Europa können sie nicht, dazu fehlen die Mittel, und auch dort ist die Zukunft ungewiss. Und im Libanon führt die Regierung zwar derzeit keine Abschiebungen durch, sie macht aber sehr deutlich, dass sie nicht will, dass die Geflohenen sich einrichten und bleiben. Der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, in dem Milizen palästinensischer Flüchtlinge gekämpft haben, ist als nationales Trauma in Erinnerung.
Die schiere Anzahl der aus Syrien Vertriebenen strapaziert zudem nicht nur die Kapazitäten der lokalen Verwaltungen, deren Ressourcen schon vor der Krise in manchen Regionen kaum für die lokale Bevölkerung reichten, sondern auch die Budgets der diversen Hilfsorganisationen. Nach vier Jahren Krieg geht die Spendenbereitschaft zurück, nachhaltige Lösungen sind nicht in Sicht – und möglicherweise auch politisch nicht gewollt.
Und so leben hier Abertausende monate- und jahrelang unter Bedingungen, von denen man sich kaum vorstellen kann, unter ihnen auch nur eine Woche ausharren zu können. Die Gesundheitsversorgung ist auf das Notwendigste beschränkt, im Winter plagen Schneestürme und die extreme Kälte, im Sommer kommt es zu Engpässen in der Wasserversorgung. Das ganze Jahr über bleibt ein Leben ohne jede Privatsphäre. Einige Kinder, die man sieht, sind in einem Alter, das darauf schließen lässt, dass sie hier geboren wurden. Andere wiederum sind gezeichnet von den Wunden, die der Krieg in Syrien geschlagen hat. Eine ganze Generation wächst in der Unsicherheit und Trostlosigkeit der Lager auf.
Schuldknechtschaft und Ausbeutung
Die Ausbeutungsverhältnisse, die aus der prekären Situation resultieren, in der sich die Vertriebenen aus Syrien befinden, werden international wenig beachtet. Das größere der zahlreichen Camps nahe Ghazze ist auf dem Grundstück eines privaten Landbesitzers errichtet. 30 US-Dollar monatlich und pro Zelt müssen die Familien dem Grundeigentümer bezahlen, um hier unterkommen zu können. Wenn der »Landlord« Bedarf hat, beschäftigt er sie in seinem landwirtschaftlichen Betrieb. Zwischen vier und 15 US-Dollar pro Tag bekommen sie dort, gebraucht werden sie vor allem im Sommer. Ganze Familien verdienen sich so ihren Lebensunterhalt, auch die Kinder müssen arbeiten. Oft sind sie zusätzlich gezwungen, sich Geld zu leihen, um über die Runden zu kommen, die Schulden, die so entstehen, zwingen sie wiederum zur Arbeit für Niedriglöhne. Es ist ein Kreislauf, der in die Schuldknechtschaft führt.
Einem Bericht von UNHCR zufolge, der auf einer Befragung von 1.750 Flüchtlingshaushalten aufbaut, bezahlen 82 Prozent der Geflüchteten für ihre Unterkunft. 77 Prozent mussten sich für Nahrung, Medizin oder Obdach Geld ausleihen. Einer weiteren UNHCR-Studie zufolge übersteigen die Schulden von 70 Prozent der in der Bekaa-Ebene Untergebrachten 200 US-Dollar, 35 Prozent haben sogar mehr als 600 US-Dollar Außenstände. Die Beträge mögen gering erscheinen, für die Familien in der Bekaa-Ebene sind sie es nicht. Und sie zwingen sie zu unterbezahlter Arbeit, wo immer sich die Gelegenheit ergibt.
Im Moment arbeiten viele Flüchtlinge im Baugewerbe und in der Landwirtschaft, doch ihre Löhne sind extrem niedrig, und sie verfügen über keinerlei Rechte. Das Überangebot an Arbeitskraft drückt die Löhne, soweit das überhaupt noch möglich ist. (te)